Samstag, 28. November 2020

Ganz Mensch, ganz tot – Hans Holbeins „Christus im Grabe“

Hans Holbein: Der tote Christus im Grabe (1521/22); Basel, Kunstmuseum
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Hans Holbeins Der tote Christus im Grabe, 1521/22 auf eine lange, extrem schmale Lindenholztafel gemalt (32,4 x 202,1 cm), gehört ohne Zweifel zu den größten Provokationen der abendländischen Malerei. Fjodor M. Dostojewski lässt in seinem Roman Der Idiot (1868/69) die Hauptfigur Fürst Myschkin sagen, dieses Bild habe die Kraft, den Glauben auszulöschen. Der russische Dichter hatte die Holbeinsche Tafel 1867 während eines Besuchs im Basler Kunstmuseum gesehen und dabei beinahe einen epileptischen Anfall erlitten.
Schockierender als auf diesem Bild ist das Menschsein des Gottessohnes kaum dargestellt worden. Christus liegt rücklings ausgestreckt auf dünnem Linnen in einer flachen, steinernen und vorne geöffneten Grabnische, das Haupt ein wenig nach außen gewendet. Die Falten, zu denen das unter dem Verstorbenen ausgebreitete Tuch hier und da zusammengeschoben ist, deuten an, auf welche Weise der Leichnam in die Nische gebettet wurde. Offensichtlich aus einem Fels herausgehauen, bietet sie gerade genug Raum für seinen nur mit einem Lendentuch bekleideten und von den Qualen der Passion gezeichneten Körper. Gesicht, Seitenwunde, Hände und Füße sind bereits von beginnender Fäulnis grünlich verfärbt, der ausgetrocknete Mund steht offen, das nur halb geöffnete rechte Auge zeigt die abgedrehte Pupille, die Haare hängen struppig herab. 
Kein Nimbus verweist darauf, wen wir hier vor uns haben; nichts erinnert mehr an den „schönen Menschensohn in der Tradition des mittelalterlichen Beau Dieu der Kathedralplastik oder etwa den heroischen Schmerzensmann von Hans Multscher am Westportal des Ulmer Münsters (1429). Dieser Christus hier ist ganz Mensch, weil er, wie ihn Holbein zeigt, ganz tot ist: Er verwest vor unseren Augen. Holbein gelingt es, „den Toten nicht bloß als Toten, sondern dabei besonders das Tote am Toten zu zeigen“ (Marek 2012, S. 62). Dem Gläubigen wird mit diesem Bild viel zugemutet, denn es ist nur schwer vorstellbar, wie dieser knochige, abgezehrte Leichnam, eingesperrt in sein klaustrophobisch enges Grabverlies, jemals auferstehen soll.
Christus verwest vor unseren Augen ...
Entscheidend ist die optische Nähe. Wir sehen in leichter Untersicht auf die vordere Kante der Grabnische. Von ihr zeigt uns Holbein zwar die rechte Schmalseite (wo Signatur und Datierung angebracht sind), jedoch nicht die linke. Man hat daraus geschlossen, dass das Gemälde auf eine Betrachtung von der Seite angelegt ist (Blickrichtung schräg, in spitzem Winkel nach rechts). Doch die Figur selbst fordert eine Betrachtung aus ganz naher Distanz und vor der Mitte des Bildes stehend, mit einem Blickpunkt in Höhe der tuchbedeckten Steinplatte.  
Holbein präsentiert den Leichnam bildparallel; wir sehen genau die Rippen, die sich unter der Haut abzeichnen, die offenen, nässenden Wunden an der Seite, an den Händen und Füßen – wir haben einen ausgemergelten Körper vor uns, der erstaunlich realistisch dargeboten wird. Sichtbare Spuren von Geißelung und Dornenkrönung fehlen jedoch. Die größte Nähe hat der Betrachter zur verfärbten rechten Hand Christi, die sich in der vordersten Ebene der Malfläche und exakt in der Bildmitte befindet – sie lässt den Schmerz und Todeskampf des Gekreuzigten erahnen. Die überlangen Finger sind gespenstisch gekrümmt, die Gelenke wirken gichtig geschwollen. Der ausgestreckte Mittelfinger macht deutlich, dass der Nagel, mit dem Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, die Muskulatur durchtrennt hat.
Matthias Grünewald: Isenheimer Altar (1512-1515); Colmar, Musée dUnterlinden
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Holbein sucht die erschütternde Wirkung und schließt damit an Matthias Grünewalds
Isenheimer Altar in Colmar an (1512-1515; siehe meinen Post O Haupt voll Blut und Wunden!): Grünewald zeigt dem Betrachter auf der ersten Schauseite in aller Drastik den mit Geißelspuren übersäten, entsetzlich geschundenen Körper des Gekreuzigten und in der Predella eine Beweinung und Grablegung Christi. Damit provoziert der Künstler Schuld- und Mitgefühl des Betrachters („cruzifixus etiam pro nobis“). Ähnlich wie die Trauernden in der Predella unterhalb des Altarbildes soll er den Sohn Gottes glühend beklagen, dessen grausige Wunden ihm sagen: „Das habe ich für euch erlitten, meine Schmerzen dienen eurem Heil, mein Tod ist euer Leben.“ Doch Grünewald schildert den verunstalteten Körper Christi in der Predella dann wieder mit entspannten Gliedern, die Augen geschlossen, in den Armen seines Lieblingsjüngers ruhend. „Er erinnert damit an die schönlinige und damit in gewisser Weise versöhnlich-tröstliche Gestaltung des »Broken Body«, wie der vom Kreuz abgenommene, in den Armen Gottvaters geborgene Christus im Englischen so treffend bezeichnet wird“ (Sander 2005, S. 139).
Holbein geht über Grünewald hinaus: In keinem anderen Bild der damaligen Zeit wurde der Leichnam Christi so kompromisslos, so veristisch und ausschließlich geradezu als Kadaver präsentiert. Mitverantwortlich ist dafür die vollständige Isolierung des Körpers, die das Gemälde schon kompositorisch von anderen gemalten Passionsszenen abhebt. Holbein zeigt nicht die Grablegung Christi, sondern deren Resultat. „Denn zuallererst kennzeichnet sein Werk die gänzliche Abwesenheit biblischen Personals und damit auch jeglicher Aktion“ (Brinkmann 2016, S. 110). Selbst in Andrea Mantegnas drastischer Darstellung des Cristo in scurto wird der Tote noch als Aufgebahrter und Beweinter gezeigt, gerade nicht alleine, sondern mit Johannes, Maria und Maria Magdalena an seiner Seite (siehe meinen Post Cristo in scurto“). Holbeins Christus dagegen bleibt gänzlich einsam, abgelegt an einem Ort, an dem er wie jeder andere Tote endgültig sich selbst überlassen ist. „Auch hat niemand die Arme überkreuzt oder gar Mund und Augen geschlossen, um den Körper in die milde Pose des zwar ewigen, aber doch friedlichen Schlafes zu überführen“ (Marek 2012, S. 66).
Andrea Mantegna: Beweinung Christi/Cristo in scurto; Mailand, Pinacoteca di Brera
Holbeins Bild suggeriert die Gegenwart eines wirklichen Leichnams – und erschüttert auf diese Weise die konventionelle Andachtshaltung des gläubigen Betrachters nachhaltig. Aber Holbeins toter Christus war im damaligen kirchlichen Kontext keineswegs als eine Attacke auf den Glauben gemeint; sein Gemälde zielt vielmehr darauf (ebenso wie der Isenheimer Altar), die persönliche Frömmigkeit zu stärken. Denn dieser Leichnam ist die große Ausnahme vom unumstößlichen Gesetz des Todes, dem wir alle unterworfen sind. „Am dritten Tage auferstanden von den Toten“: Holbeins Gemälde veranschaulicht, welch ungeheure Behauptung in diesem Satz des Glaubensbekenntnisses liegt. Der Betrachter soll die abgründige Einsamkeit eines ganz und gar menschlichen Todes empfinden und erkennen, wie groß und letztlich ungeheuerlich der Glaube an das Wunder des Ostertages ist. Für den damaligen Gläubigen war dieser Tod des Heilands nicht das Ende, sondern der Anfang und bedeutete damit Trost und Hoffnung. Der Leichnam Christi gemahnt den Betrachter zwar als memento mori an den eigenen Tod – zugleich ist er aber auch ein Bild der Verheißung, weil jeder, der an den Sohn Gottes und sein Erlösungswerk glaubt, wie er auferstehen wird. Aber um an diesen Punkt zu gelangen – Trost und Hoffnung – , musste der zur Andacht bereite und geübte Betrachter in seiner Imagination die Passion Christi sozusagen „nacherleben“.
Jochen Sander meint sogar, an Holbeins totem Christus selbst Zeichen für dessen bevorstehende Auferstehung zu erkennen: „Der Oberkörper scheint sich emporzuwölben, die Muskeln und Sehnen von Armen und Beinen wirken angespannt, der grausige Kopf mit den verdrehten Augen und dem klaffenden Mund vermittelt durch die leichte Wendung zum Betrachter und die über die Nischenfront herabfallenden Haarsträhnen auf paradoxe Weise den Eindruck von Bewegung. Gleiches gilt für die Rechte, die gleichfalls über die Nischenkante herüberzugreifen scheint, und deren ausgestreckter Mittelfinger das dünne Leichentuch nach vorne geschoben hat. Bewegungsspuren finden sich auch sonst an dem weißen Tuch: Auf Höhe des Oberarms ist es etwas zurückgerafft und gibt daher – und nur an dieser Stelle – den Blick auf die steinerne Nischenfront frei. Etwas zusammengeschoben ist es auch unter der Ferse des rechten Fußes. Sind diese Faltenbildungen zunächst als Spuren des Hineinschiebens des Leichnams in die schmale, mit dem Tuch ausgelegte Grabnische zu verstehen, so wirken sie zusammen mit der beschriebenen Gestaltung des Körpers doch zugleich wie Hinweise auf eine rätselhafte Belebung des Toten (Sander 2005, S. 132). Auch wenn Kopf, Hände und Füße grünlich verfärbt seien, erinnere die Hautfarbe, so Sander, dennoch eher an einen Lebenden als an einen Toten. Andreas Prater bestätigt diesen Eindruck und spricht von einer „klandestinen Verlebendigung“ des Leichnams: „Zarte bläuliche Adern durchziehen schon das Inkarnat. Das Auge ist geöffnet, noch nicht wirklich blickend, aber auch nicht gebrochen und matt wie bei einem Toten. Der Brustkorb scheint sich zu heben, der offene Mund mit der sich nach vorne tastenden Zunge zu atmen(Prater 2018a, S. 27). Christus erwacht nach der Todesnacht, so seine Deutung, dem Gottessohn wächst die Kraft zu, den Tod zu überwinden.
... oder beginnt das Wunder seiner Auferstehung?
Holbein dokumentiere
in seinem Gemälde, führt Prater weiter aus, sozusagen mit naturwissenschaftlichem Blick den Übergang zwischen der Totenruhe Christi und seiner Auferstehung – wofür es ikonographisch keinerlei Tradition gibt. „Der Vorgang des Sterbens wird umgekehrt: Statt im Tod gefangen zu bleiben, erfüllt neues Leben den Leib, und zwar nicht schlagartig in einem plötzlichen übernatürlichen und überwältigenden Geschehen, sondern in einem verborgenen, geheimnisvollen und wunderbaren Prozess“ (Prater 2018a, S. 28). Was wir daher vor uns sehen, wäre nach Prater der auferweckte Christus, seine Auferstehung in statu nascendi. Das Wunder seiner Auferweckung vollzieht sich an Jesus aber ohne eigenes Zutun und Wollen passiv, körperlich und gleichsam vegetativ und keineswegs spirituell“ (Prater 2018a, S. 30). Holbein wage mit seinem Bild, so Prater, die Imagination eines nie beschriebenen und nie zuvor dargestellten Geschehens der Heilsgeschichte.
Die sorgfältig ausgeführte Signatur und Datierung am rechten Bildrand lauten: „M.DXXI.HH, aufzulösen als 1521 Hans Holbein“. 1522 nahm Holbein einen Eingriff an seinem Bild vor: Er wandelte die Grabnische, die ursprünglich wie eine Viertelrundung gebildet war, in eine rechteckige Vertiefung um. Im 16. Jahrhundert gehörte die Tafel zur Sammlung des Basler Juristen Basilius Amerbach, die 1662 von der Stadt Basel erworben und der Universität übergeben wurde. Die Kunsthistoriker haben sehr unterschiedlche Vorschläge dazu gemacht, wo das Bild ursprünglich angebracht war bzw. welchem Zweck es diente, bevor es Basilius Amerbach seiner Sammlung hinzufügte. Als Bestimmungsort hat z. B. Walter Überwasser eine Heilig-Grab-Nische“ vorgeschlagen. Die in einer solchen Nische ruhende Christus-Skulptur wurde den Gläubigen nur zwischen Karfreitag und Ostern gezeigt, ansonsten war sie von einer gemalten Tafel bedeckt. Der auf ihr zu sehende Leichnam diente als Hinweis auf den Corpus des Erlösers in der Höhlung und auf die Eucharistie-Feier am nahen Altar.
Beispiel einer Heilig-Grab-Skulptur: Grabchristus von Meister Arnt (1486/87); Kalkar, St. Nikolai
Christian Müller hat dieser These mit dem Hinweis auf die perspektivischen Besonderheiten des Bildes widersprochen. Er geht vielmehr davon aus, dass Holbeins Gemälde über dem Wandepitaph der Familie Amerbach im Kreuzgang der Basler Kartause angebracht werden sollte. Die Steinplatte wurde jedoch erst 1544 aufgerichtet. Für den ursprünglichen Zusammenhang zwischen Epitaph und Gemälde spricht aus Müllers Sicht u.a. neben übereinstimmenden Maßen auch das Thema. Mit dem Ausbruch der Reformation in Basel habe man das Gemälde jedoch nicht mehr anbringen können – auch danach nicht. Deswegen sei es vor den Folgen des Bildersturms bewahrt geblieben und befinde sich heute in einem ausgezeichneten Erhaltungszustand. Holbeins Bild könnte sich daher von Anfang an im Besitz der Familie Amerbach befunden haben.
Prater hat diesen Vorschlag wiederum in Zweifel gezogen. Gegen Müllers Annahme spreche, dass die empfindlichen Lasuren, die Holbein angewandt habe, „kaum für eine derartige öffentliche Funktion und die Anforderungen an eine entsprechend robuste Malweise geeignet gewesen wären“ (Prater 2018a, S. 24). Denkbar sei eher, dass Holbeins Gemälde in einem privaten Andachtsraum fest in einer Vertäfelung installiert, aber z. B. durch einen Vorhang nicht permanent sichtbar war. Bodo Brinkmann wiederum sieht in den Grabnischen der römischen und frühchristlichen Katakomben, die sich zahlreich im Mittelmeeraum erhalten haben, das mögliche Vorbild für das ungewöhnliche Format von Holbeins Gemälde. Dieser Rückgriff auf das antike Bestattungswesen diene „der authentischen Visualisierung der historischen Grablege Christi“ (Brinkmann 2016, S. 128) Sie verbindet sich mit der beeindruckend veristischen Darstellung des Totseins, um den Betrachter davon zu überzeugen, dass er den wahren Leichnam des am Kreuz gestorbenen Erlösers vor sich sieht.
Arnold Böcklin: Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi (1867); Basel, Kunstmuseum
Fanz von Stuck: Pietà (1891); Frankfurt, Städel Museum
Holbeins Bild schockierte – und faszinierte. Es wirkte nachhaltig auf zahlreiche Künstler, besonders auf Schweizer Maler. Zwei Gemälde, die deutlich von Holbeins totem Christus beinflusst sind, finden sich ebenfalls im Kunstmuseum Basel: Es sind Arnold Böcklins Trauer der Magdalena an der Leiche Christi (1867) und Die tote Valentine Godé-Darel von Ferdinand Hodler (1915). Auch Franz von Stuck hat 1891 eine Darstellung des aufgebahrten Christus angefertigt, die von Holbein die bildparallele Präsentation des Leichnams übernimmt.

Ferdinand Hodler: Die tote Valentine Godé-Darel (1915); Basel, Kunstmuseum

Literaturhinweise
Bätschmann, Oskar/Griener, Pascal: Hans Holbein. DuMont Buchverlag, Köln 1997;
Brinkmann, Bodo: Das Grab bei Holbein: Versuch über den Toten Christus. In:  Bodo Brinkmann (Hrsg.), Archäologie des Heils. Das Christusbild im 15. und 16. Jahrhundert. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg im Allgäu 2016, S. 110-129;
Kunstmuseum Basel (Hrsg.): Hans Holbein d.J. Die Jahre in Basel 1515-1532. München u.a. 2006, S. 257-259;
Lindemann, Bernd Wolfgang: „Der Leichnam Christi im Grabe“ von Hans Holbein dem Jüngeren. In: Norbert Stefenelli (Hrsg.), Körper ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 1998, S. 461-473;
Lloyd, Jill: Valentine Godé-Darel: Zeit und Ewigkeit. In: Jill Lloyd/Ulf Küster (Hrsg.), Ferdinand Hodler. Fondation Beyeler, Basel 2013, S. 111-121;
Marek, Kristin: Zwischen Verehrung und Ekel. Die Ambiguität des toten Christus als bildliche Rhetorik bei Holbein d.J. In: Valeska von Rosen (Hrsg.), Erosionen der Rhetorik? Strategien der Ambiguität in den Künsten der Frühen Neuzeit. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2012, S. 61-80;
Müller, Christian: Holbeins Gemälde „Der Leichnam Christi im Grabe“ und die Grabkapelle der Familie Amerbach in der Basler Kartause. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 58 (2001), S. 279-289;
Nuechterlein, Jeanne: Translating Nature into Art. Holbein, the Reformation, and Renaissance Rhetoric. Penn State University Press, University Park 2011, S. 85-114; 
Prater, Andreas: Zwischen Grabesruhe und Auferstehung. Holbeins „Christus im Grab“ neu gesehen (I). In: Kunstchronik 71 (2018a), Heft 1, S. 22-35;
Prater, Andreas: Ein Andachtsbild für Erasmus? Holbeins „Christus im Grab“ neu gesehen (II). In: Kunstchronik 71 (2018b), Heft 2, S. 94-105;
Sander, Jochen: Hans Holbein d.J. Tafelmalerei in Basel 1515-1532. Hirmer Verlag, München 2005, S. 132-141;
Überwasser, Walter: Hans Holbeins des Jüngeren „Christus in der Grabnische“. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 18 (1959), S. 187-188;
Ziermann, Horst: Matthias Grünewald. Prestel Verlag, München 2001.

(zuletzt bearbeitet am 2. Juni 2022)



Material

1.

Auf diesem Bilde ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als auch nach der Abnahme von demselben immer noch mit außerordentlich schönem Gesicht darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm sogar bei den furchtbarsten Leiden zu bewahren. Auf Rogoshins Bild aber kann von Schönheit nicht die Rede sein; dies ist in vollem Maße der Leichnam eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung, während er das Kreuz auf seinen Schultern trug und unter ihm zusammensank, grenzenlose Qualen erlitten hat, Verwundungen, Martern, Schläge von Seiten der Wache und des Volkes, und dann schließlich die sechsstündige Kreuzesqual (so lange dauerte sie nach meiner Berechnung mindestens). Es ist wirklich das Gesicht eines soeben vom Kreuz abgenommenen Menschen, das heißt, es bewahrt noch sehr viel Lebenswärme, es ist an ihm noch nichts erstarrt, so daß auf dem Gesicht des Toten noch immer ein Ausdruck des Schmerzes liegt, als empfände er ihn noch jetzt (dies hat der Künstler sehr gut erfaßt); aber dafür ist das Gesicht auch ohne jede Schonung dargestellt, durchaus naturgetreu; so mußte wahrhaftig der Leichnam eines Menschen, wer er auch sein mochte, nach solchen Qualen aussehen. Ich weiß, daß die christliche Kirche schon in den ersten Jahrhunderten als Dogma festgestellt hat, daß Christus nicht figürlich, sondern tatsächlich gelitten habe und daß folglich sein Körper am Kreuz dem Naturgesetz voll und ganz unterworfen gewesen sei. Auf dem Bild ist dieses Gesicht furchtbar von Stockhieben zerschlagen, verschwollen, von schrecklichen, blutunterlaufenen blauen Flecken bedeckt, die Augen stehen weit offen, die Pupillen schielen, die großen, offen sichtbaren Augäpfel haben einen toten, gläsernen Glanz. Aber es ist seltsam: betrachtet man diesen Leichnam eines gepeinigten Menschen, so drängt sich einem eine eigenartige, interessante Frage auf: wenn alle seine Jünger, die seine wichtigsten Apostel werden sollten, und die Weiber, die ihm nachgefolgt waren und an seinem Kreuze gestanden hatten, und alle, die an ihn glaubten und ihn für den Sohn Gottes hielten, wenn diese alle einen solchen Leichnam sahen (und er mußte unbedingt genau so aussehen): wie konnten sie dann trotzdem glauben, daß dieser Märtyrer auferstehen werde? Hier kommt einem unwillkürlich der Gedanke: wenn der Tod so furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte, derjenige, der da rief: ›Talitha kumi‹ und das Mägdelein stand auf, oder: ›Lazarus, komm heraus!‹ und der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde anschaut, so erscheint die Natur als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie oder, um es richtiger, weit richtiger, wenn auch etwas sonderbar auszudrücken, als eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses herrliche, unschätzbare Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses Wesen, das allein so viel wert war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und der ganze Erdball, der vielleicht einzig und allein zu dem Zweck geschaffen wurde, damit dieses Wesen auf ihm erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer dunklen, brutalen, sinnlosen Macht, der alles gehorcht, wird durch dieses Bild zum Ausdruck gebracht und teilt sich dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese Menschen, die den Toten umgaben und von denen hier keiner auf dem Gemälde dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der mit einem Schlag all ihre Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die entsetzlichste Angst und Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten Furcht auseinandergehen, obgleich sie alle eine gewaltige Idee in sich trugen, die ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister selbst am Tage vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte er dann wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen und den Tod erlitten? Auch diese Frage steigt einem bei Betrachtung dieses Gemäldes unwillkürlich auf.

(aus: „Der Idiot“ von Fjodor M. Dostojewski, übersetzt von Hermann Röhl, Aufbau Verlag, Berlin 1958)

 


2.

sicht. (holbein d.j.)

 

basels rechter fuß (links:

blikk gekappt, weggeklapptes ange-

sicht; nebenfuß, geröntgt, rechz,

weist signatur weist sein

unverfallsdatum auf unterm

dunkel. sehbahre, basels anseh-

bare totnsohle.

 

Thomas Kling

(aus: Thomas Kling, Gesammelte Gedichte. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, S. 346)

Donnerstag, 26. November 2020

Porträt-Kunst der italienischen Spätrenaissance (1): die Jünglinge des Jacopo da Pontormo

Jacopo da Pontormo: Bildnis eines jungen Mannes mit roter Kappe
(um 1530); London, National Gallery
Der italienische Maler Jacopo da Pontormo (1495–1557) gehört mit Rosso Fiorentino (1495–1540), Agnolo Bronzino (1503–1572) und Giorgio Vasari (1511–1574) zu den wichtigsten Künstlern des Florentiner Manierismus. Neben Fresken und Altarbildern (siehe meinen Post „Vier Frauen heben ab“) kennen wir 15 Porträts von seiner Hand. Pontormos Bildnis eines jungen Mannes mit roter Kappe, um 1530 entstanden und lange für verloren gehalten, konnte 2019 von der National Gallery in London erworben werden. Es handelt sich um das Dreiviertelporträt eines jungen florentinischen Patriziers, dessen Gesicht dem Betrachter zwar frontal zugewandt ist, der aber dennoch versonnen an uns vorbeiblickt. Das Haupt bedeckt eine schräg aufgesetzte rote Kappe; er trägt außerdem ein geschlitztes schwarzes Lederwams über einem weitärmeligen grauen Hemd, dessen Faltenbildung in seiner Stofflichkeit sehr naturalistisch widergegeben wird.

Ein fest angezogener, ebenfalls schwarzer Schwertgürtel betont die Wespentaille des bis an den oberen Bildrand aufragenden jungen Mannes. In der rechten Hand hält er einen Brief, der allerdings keinen näheren Hinweis auf den Dargestellten oder die Funktion des Porträts bietet, zu lesen ist nur „Domi [...] ni / ul e [...] eli“. Seine Linke hat er auf die Hüfte gelegt – eine Pose, die Pontormo auch für das Porträt eines Hellebardiers im kalifornischen J. Paul Getty Museum verwendet. Die selbstbewusst-stolze Haltung des jungen Mannes wird noch verstärkt durch den niedrigen Blickpunkt des Betrachters, der uns zu ihm aufschauen lässt. Bei dem Modell dürfte es sich um den etwa achtzehnjährigen Carlo Neroni handeln; der mehr als Künstlerbiograf denn als Maler bekannte Giorigio Vasari erwähnt in seinen Vite (Erstauflage 1550), dass Pontormo ein Porträt von ihm geschaffen habe. Das schwarze Lederwams könnte daher, so der Vorschlag von Francis Russell, auf den Namen des jungen Mannes anspielen (ital. nero = schwarz). Auch der Name des Hellebardiers findet sich bei Vasari: Es handelt sich wahrscheinlich um Francesco Guardi, dessen Bildnis Pontormo ebenfalls um 1529/30 anfertigte, als die Florentiner Republik durch die Truppen Karls V. belagert wurde.

Jacopo da Pontormo: Bildnis eines Hellebardiers (um 1529/30);
Los Angeles, J. Paul Getty Museum
Charakteristisch für die beiden Bildnisse wie überhaupt für das Porträt des Manierismus (also etwa der Zeitspanne zwischen 1520 und 1600) sind die verzerrten Körperproportionen der Dargestellten: Die Gliedmaßen, inbesondere Hals und Finger, werden überlängt, während der Kopf verkleinert erscheint. Haupt und Oberkörper sind zudem oft in unterschiedliche Richtungen gedreht. Pontormo präsentiert den Hellebardier als elegant gekleidete Dreiviertelfigur, den Körper leicht nach rechts, das Gesicht dem Betrachter zugewendet. Der junge Soldat trägt eine karmesinrotze Mütze mit weißer Feder, die durch eine Brosche befestigt ist. Das Rot der Kopfbedeckung korrespondiert mit dem der leicht geschlitzten, durch Nestelbänder mit der Jacke verbundenen Kniebundhose. Sie ist mit einer auffälligen Schamkapsel versehen, vor der ein Degengriff ins Bild ragt.

Der Oberkörper des schlanken Jünglings ist in einen hellen giubbone gekleidet, ein geknöpftes, weitärmeliges Wams aus schwerer Seide. Darunter wird an den Handgelenken, am Stehkragen sowie zwischen Jacke und Hose ein weißes Seidenhemd sichtbar, dessen Schnüre am Hals offen geblieben sind. Um die Schultern trägt er eine lange goldene Gliederkette; die schmale Hüfte umfasst wie bei dem Porträt Guardis ein schmaler lederner Schwertgürtel.

Die wertvolle Kleidung kontrastiert mit der Hellebarde, deren schlichten hölzernen Schaft der junge Mann mit seiner Rechten umfasst und die vom oberen Bildrand angeschnitten wird. Überhaupt macht der Jüngling nicht wirklich den Anschein, für einen echten Kampf gerüstet zu sein. „Alles ist Pose, Schmuck und Programm“ (Beyer 2002, S. 174): Auf der Brosche ist der Kampf aus dem Herkules-Mythos dargestellt, bei dem der Heros seinen Gegner Antäus tötet. Da der Tugendheld zu den „Patronen“ der Stadt Florenz zählte, kann die leicht zu übersehende Szene als symbolhafter Hinweis auf ein wehrhaftes Florenz verstanden werden.

Die Figur ist vor einem Gebäude oder einer massiven Mauer platziert, die wohl als Wehrarchitektur gedeutet werden kann. Solche Befestigungen existierten in Florenz tatsächlich – sie wurden zur Verteidigung des Monte San Miniato und der Republik errichtet. Hellebardenträger treten in Kunst und militärischer Wirklichkeit meist in Wachfunktionen auf. Überzeugend ist deshalb der Vorschlag gemacht worden, dass Francesco, der einzige Erbe der Familie Guardi del Monte, hier in Form eines Namensbildes erscheint: die Wache am Berg, guardia al monte.  

Donatello: David (1408/09); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
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Donatello: Hl. Georg (um 1417); Florenz, Orsanmichele
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Andrea del Verrocchio: David (um 1475);
Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Solche Verweise machen es wahrscheinlich, dass Pontormo nicht in erster Linie die individuellen Züge des Francesco Guardi abbilden wollte. Denn seine Physiognomie erinnert stark an die des David von Donatello (1408/09), wie sich auch Haltung und Figur des wachsamen Jünglings an Donatellos Statue des Hl. Georg (um 1417) orientieren. Auch Andrea del Verrocchios Bronze-David mit der linken Hand auf der Hüfte ließe sich hier nennen. Indem er dem jungen Guardi die Bildniszüge florentinischer Skulptur verlieh, gab Pontormo seinem Porträt auch eine überpersönliche Funktion, weil es „zugleich die Wehrhaftigkeit der republikanischen Jugend von Florenz insgesamt darzustellen hatte“ (Beyer 2002, S. 175).

Agnolo Bronzino: Bildnis eines jungen Mannes (um 1540);
New York, Metropolitan Museum of Art
Pontormos Porträtkunst hatte großen Einfluss auf die Bildnisse seines Schülers Bronzino: Den in die Hüfte gestemmten linken Arm aus dem Neroni-Porträt übernimmt Bronzino in seinem um 1540 entstandenem Bildnis eines jungen Mannes, „and, once this link is realised, the way the younger painter’s sitter is posed and lit, as well as the determined silhouette of the shoulders and arms, seem to read like a brillant endeavour to rework Pontormo’s design, taking full advantage of the linear possibilities of the fashinable black slashed costume“ (Russell 2008, S. 677).

 

Literaturhinweise

Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002, S. 171-175;

Campbell, Lorne u.a. (Hrsg.): Die Porträtkunst der Renaissance. Van Dyck, Dürer, Tizian ... Chr. Belser AG, Stuttgart 2009, S. 224-227;

Russell, Francis: A portrait of a young man in black by Pontormo. In: The Burlington Magazine 150 (2008), S. 675-677.