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Hans Holbein: Der tote Christus im Grabe (1521/22); Basel, Kunstmuseum
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Hans Holbeins Der tote Christus im Grabe, 1521/22
auf eine lange, extrem schmale Lindenholztafel gemalt (32,4 x 202,1 cm), gehört ohne Zweifel
zu den größten Provokationen der abendländischen Malerei. Fjodor M. Dostojewski
lässt in seinem Roman Der Idiot (1868/69) die Hauptfigur Fürst Myschkin
sagen, dieses Bild habe die Kraft, den Glauben auszulöschen. Der russische
Dichter hatte die Holbeinsche Tafel 1867 während eines Besuchs im Basler
Kunstmuseum gesehen und dabei beinahe einen epileptischen Anfall erlitten.
Schockierender als auf diesem Bild ist das
Menschsein des Gottessohnes kaum dargestellt worden. Christus liegt rücklings ausgestreckt auf dünnem Linnen in einer
flachen, steinernen und vorne geöffneten Grabnische, das Haupt ein wenig nach außen gewendet. Die Falten, zu denen das unter dem Verstorbenen ausgebreitete Tuch hier und da zusammengeschoben ist, deuten an, auf welche Weise der Leichnam in die Nische gebettet wurde. Offensichtlich aus einem Fels herausgehauen, bietet sie gerade genug Raum für seinen nur mit einem Lendentuch bekleideten und von den Qualen der Passion gezeichneten Körper. Gesicht, Seitenwunde,
Hände und Füße sind bereits von beginnender Fäulnis grünlich verfärbt, der ausgetrocknete Mund steht
offen, das nur halb geöffnete rechte Auge zeigt die abgedrehte Pupille, die Haare hängen struppig herab.
Kein Nimbus verweist darauf, wen wir hier vor uns haben; nichts erinnert mehr an den „schönen“ Menschensohn in der Tradition des mittelalterlichen Beau Dieu der Kathedralplastik oder etwa den heroischen Schmerzensmann von Hans Multscher am Westportal des Ulmer Münsters (1429). Dieser Christus hier ist ganz Mensch, weil er, wie ihn Holbein zeigt,
ganz tot ist: Er verwest vor unseren Augen. Holbein gelingt es, „den Toten nicht bloß als Toten, sondern dabei besonders das Tote am Toten zu zeigen“ (Marek 2012, S. 62). Dem Gläubigen wird mit diesem Bild viel
zugemutet, denn es ist nur schwer vorstellbar, wie dieser knochige, abgezehrte Leichnam, eingesperrt
in sein klaustrophobisch enges Grabverlies, jemals auferstehen soll.
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Christus verwest vor unseren Augen ...
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Entscheidend ist die optische Nähe. Wir sehen in leichter Untersicht auf die vordere Kante der Grabnische. Von ihr zeigt uns Holbein zwar die rechte Schmalseite (wo Signatur und Datierung angebracht sind), jedoch nicht die linke. Man hat daraus geschlossen, dass das Gemälde auf eine Betrachtung von der Seite angelegt ist (Blickrichtung schräg, in spitzem Winkel nach rechts). Doch die Figur selbst fordert eine Betrachtung aus ganz naher Distanz und vor der Mitte des Bildes stehend, mit einem Blickpunkt in Höhe der tuchbedeckten Steinplatte.
Holbein präsentiert den Leichnam bildparallel; wir sehen genau die Rippen, die sich unter
der Haut abzeichnen, die offenen, nässenden Wunden an der Seite, an den Händen und Füßen –
wir haben einen ausgemergelten Körper vor uns, der erstaunlich realistisch dargeboten wird. Sichtbare Spuren von Geißelung und Dornenkrönung fehlen jedoch. Die
größte Nähe hat der Betrachter zur verfärbten rechten Hand Christi, die sich in der vordersten Ebene der Malfläche und exakt in der Bildmitte befindet – sie lässt den
Schmerz und Todeskampf des Gekreuzigten erahnen. Die überlangen Finger sind gespenstisch gekrümmt, die Gelenke wirken gichtig geschwollen. Der ausgestreckte Mittelfinger
macht deutlich, dass der Nagel, mit dem Jesus ans Kreuz
geschlagen wurde, die Muskulatur durchtrennt hat.
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Matthias Grünewald: Isenheimer Altar (1512-1515); Colmar, Musée d’Unterlinden (für die Großansicht einfach anklicken)
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Holbein sucht die erschütternde Wirkung und
schließt damit an Matthias Grünewalds Isenheimer
Altar in Colmar an (1512-1515; siehe meinen Post „O Haupt voll Blut und Wunden!“): Grünewald zeigt dem Betrachter auf
der ersten Schauseite in aller Drastik den mit Geißelspuren übersäten, entsetzlich
geschundenen Körper des Gekreuzigten und in der Predella eine Beweinung und
Grablegung Christi. Damit provoziert der Künstler Schuld- und Mitgefühl des
Betrachters („cruzifixus etiam pro nobis“). Ähnlich wie die Trauernden in der
Predella unterhalb des Altarbildes soll er den Sohn Gottes glühend beklagen,
dessen grausige Wunden ihm sagen: „Das habe ich für euch erlitten, meine Schmerzen
dienen eurem Heil, mein Tod ist euer Leben.“ Doch Grünewald schildert den verunstalteten Körper Christi in der Predella dann wieder mit entspannten Gliedern, die Augen geschlossen, in den Armen seines Lieblingsjüngers ruhend. „Er erinnert damit an die schönlinige und damit in gewisser Weise versöhnlich-tröstliche Gestaltung des »Broken Body«, wie der vom Kreuz abgenommene, in den Armen Gottvaters geborgene Christus im Englischen so treffend bezeichnet wird“ (Sander 2005, S. 139).
Holbein geht über Grünewald hinaus: In keinem anderen Bild der damaligen Zeit wurde der Leichnam Christi so kompromisslos, so veristisch und ausschließlich geradezu als Kadaver präsentiert. Mitverantwortlich ist dafür die vollständige Isolierung des Körpers, die das Gemälde schon kompositorisch von anderen gemalten Passionsszenen abhebt. Holbein zeigt nicht die Grablegung Christi, sondern deren Resultat. „Denn zuallererst kennzeichnet sein Werk die gänzliche Abwesenheit biblischen Personals und damit auch jeglicher Aktion“ (Brinkmann 2016, S. 110). Selbst in Andrea Mantegnas drastischer Darstellung des Cristo in scurto wird der Tote noch als Aufgebahrter und Beweinter gezeigt, gerade nicht alleine, sondern mit Johannes, Maria und Maria Magdalena an seiner Seite (siehe meinen Post „Cristo in scurto“). Holbeins Christus dagegen bleibt gänzlich einsam, abgelegt an einem Ort, an dem er wie jeder andere Tote endgültig sich selbst überlassen ist. „Auch hat niemand die Arme überkreuzt oder gar Mund und Augen geschlossen, um den Körper in die milde Pose des zwar ewigen, aber doch friedlichen Schlafes zu überführen“ (Marek 2012, S. 66).
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Andrea Mantegna: Beweinung Christi/Cristo in scurto; Mailand, Pinacoteca di Brera |
Holbeins Bild suggeriert die Gegenwart eines wirklichen Leichnams – und erschüttert auf diese Weise die konventionelle Andachtshaltung des gläubigen Betrachters nachhaltig. Aber Holbeins toter Christus war im damaligen
kirchlichen Kontext keineswegs als eine Attacke auf den Glauben gemeint; sein Gemälde zielt vielmehr darauf (ebenso
wie der Isenheimer Altar), die
persönliche Frömmigkeit zu stärken. Denn dieser Leichnam ist die große Ausnahme vom unumstößlichen Gesetz des Todes, dem wir alle unterworfen sind. „Am dritten Tage auferstanden von den
Toten“: Holbeins Gemälde veranschaulicht, welch ungeheure Behauptung in diesem Satz
des Glaubensbekenntnisses liegt. Der Betrachter soll die abgründige Einsamkeit eines
ganz und gar menschlichen Todes empfinden und erkennen, wie groß und letztlich
ungeheuerlich der Glaube an das Wunder des Ostertages ist. Für den damaligen Gläubigen war dieser Tod des Heilands nicht das Ende, sondern der Anfang und bedeutete damit Trost und Hoffnung. Der Leichnam Christi gemahnt den Betrachter zwar als memento mori an den eigenen Tod – zugleich ist er aber auch ein Bild der Verheißung, weil jeder, der an den Sohn Gottes und sein Erlösungswerk glaubt, wie er auferstehen wird. Aber um an diesen Punkt zu gelangen – Trost und Hoffnung – , musste der zur Andacht bereite und geübte Betrachter in seiner Imagination die Passion Christi sozusagen „nacherleben“.
Jochen Sander meint sogar, an Holbeins totem Christus selbst Zeichen für dessen bevorstehende Auferstehung zu erkennen: „Der Oberkörper scheint sich emporzuwölben, die Muskeln und Sehnen von Armen und Beinen wirken angespannt, der grausige Kopf mit den verdrehten Augen und dem klaffenden Mund vermittelt durch die leichte Wendung zum Betrachter und die über die Nischenfront herabfallenden Haarsträhnen auf paradoxe Weise den Eindruck von Bewegung. Gleiches gilt für die Rechte, die gleichfalls über die Nischenkante herüberzugreifen scheint, und deren ausgestreckter Mittelfinger das dünne Leichentuch nach vorne geschoben hat. Bewegungsspuren finden sich auch sonst an dem weißen Tuch: Auf Höhe des Oberarms ist es etwas zurückgerafft und gibt daher – und nur an dieser Stelle – den Blick auf die steinerne Nischenfront frei. Etwas zusammengeschoben ist es auch unter der Ferse des rechten Fußes. Sind diese Faltenbildungen zunächst als Spuren des Hineinschiebens des Leichnams in die schmale, mit dem Tuch ausgelegte Grabnische zu verstehen, so wirken sie zusammen mit der beschriebenen Gestaltung des Körpers doch zugleich wie Hinweise auf eine rätselhafte Belebung des Toten“ (Sander 2005, S. 132). Auch wenn Kopf, Hände und Füße grünlich verfärbt seien, erinnere die Hautfarbe, so Sander, dennoch eher an einen Lebenden als an einen Toten. Andreas Prater bestätigt diesen Eindruck und spricht von einer „klandestinen Verlebendigung“ des Leichnams: „Zarte bläuliche Adern durchziehen schon das Inkarnat. Das Auge ist geöffnet, noch nicht wirklich blickend, aber auch nicht gebrochen und matt wie bei einem Toten. Der Brustkorb scheint sich zu heben, der offene Mund mit der sich nach vorne tastenden Zunge zu atmen“ (Prater 2018a, S. 27). Christus erwacht nach der Todesnacht, so seine Deutung, dem Gottessohn wächst die Kraft zu, den Tod zu überwinden. |
... oder beginnt das Wunder seiner Auferstehung?
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Holbein dokumentiere in seinem Gemälde, führt Prater weiter aus, sozusagen mit naturwissenschaftlichem Blick den Übergang zwischen der Totenruhe Christi und seiner Auferstehung – wofür es ikonographisch keinerlei Tradition gibt. „Der Vorgang des Sterbens wird umgekehrt: Statt im Tod gefangen zu bleiben, erfüllt neues Leben den Leib, und zwar nicht schlagartig in einem plötzlichen übernatürlichen und überwältigenden Geschehen, sondern in einem verborgenen, geheimnisvollen und wunderbaren Prozess“ (Prater 2018a, S. 28). Was wir daher vor uns sehen, wäre nach Prater der auferweckte Christus, seine Auferstehung in statu nascendi. Das Wunder seiner Auferweckung vollzieht sich an Jesus aber „ohne eigenes Zutun und Wollen passiv, körperlich und gleichsam vegetativ und keineswegs spirituell“ (Prater 2018a, S. 30). Holbein wage mit seinem Bild, so Prater, die Imagination eines nie beschriebenen und nie zuvor dargestellten Geschehens der Heilsgeschichte.
Die sorgfältig ausgeführte Signatur und Datierung am rechten Bildrand lauten: „M.DXXI.HH“, aufzulösen als „1521 Hans Holbein“. 1522 nahm Holbein einen Eingriff an seinem Bild vor: Er wandelte die Grabnische, die ursprünglich wie eine Viertelrundung gebildet war, in eine rechteckige Vertiefung um. Im 16. Jahrhundert gehörte die Tafel zur Sammlung des Basler Juristen Basilius Amerbach, die 1662 von der Stadt Basel erworben und der Universität übergeben wurde. Die Kunsthistoriker haben sehr unterschiedlche Vorschläge dazu gemacht, wo das Bild ursprünglich angebracht war bzw. welchem Zweck es diente, bevor es Basilius Amerbach seiner Sammlung hinzufügte. Als Bestimmungsort hat z. B. Walter Überwasser eine „Heilig-Grab-Nische“ vorgeschlagen. Die in einer solchen Nische ruhende Christus-Skulptur wurde den Gläubigen nur zwischen Karfreitag und Ostern gezeigt, ansonsten war sie von einer gemalten Tafel bedeckt. Der auf ihr zu sehende Leichnam diente als Hinweis auf den Corpus des Erlösers in der Höhlung und auf die Eucharistie-Feier am nahen Altar.
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Beispiel einer Heilig-Grab-Skulptur: Grabchristus von Meister Arnt (1486/87); Kalkar, St. Nikolai
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Christian Müller hat dieser These mit dem Hinweis auf die perspektivischen Besonderheiten des Bildes widersprochen. Er geht vielmehr davon aus, dass Holbeins Gemälde über dem Wandepitaph der Familie Amerbach im Kreuzgang der Basler Kartause angebracht werden sollte. Die Steinplatte wurde jedoch erst 1544 aufgerichtet. Für den ursprünglichen Zusammenhang zwischen Epitaph und Gemälde spricht aus Müllers Sicht u.a. neben übereinstimmenden Maßen auch das Thema. Mit dem Ausbruch der Reformation in Basel habe man das Gemälde jedoch nicht mehr anbringen können – auch danach nicht. Deswegen sei es vor den Folgen des Bildersturms bewahrt geblieben und befinde sich heute in einem ausgezeichneten Erhaltungszustand. Holbeins Bild könnte sich daher von Anfang an im Besitz der Familie Amerbach befunden haben.Prater hat diesen Vorschlag wiederum in Zweifel gezogen. Gegen Müllers Annahme spreche, dass die empfindlichen Lasuren, die Holbein angewandt habe, „kaum für eine derartige öffentliche Funktion und die Anforderungen an eine entsprechend robuste Malweise geeignet gewesen wären“ (Prater 2018a, S. 24). Denkbar sei eher, dass Holbeins
Gemälde in einem privaten Andachtsraum fest in einer Vertäfelung
installiert, aber z. B. durch einen Vorhang nicht permanent sichtbar
war. Bodo Brinkmann wiederum sieht in den Grabnischen der römischen und frühchristlichen Katakomben, die sich zahlreich im Mittelmeeraum erhalten haben, das mögliche Vorbild für das ungewöhnliche Format von Holbeins Gemälde. Dieser Rückgriff auf das antike Bestattungswesen diene „der authentischen Visualisierung der historischen Grablege Christi“ (Brinkmann 2016, S. 128) Sie verbindet sich mit der beeindruckend veristischen Darstellung des Totseins, um den Betrachter davon zu überzeugen, dass er den wahren Leichnam des am Kreuz gestorbenen Erlösers vor sich sieht. |
Arnold Böcklin: Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi (1867); Basel, Kunstmuseum
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Fanz von Stuck: Pietà (1891); Frankfurt, Städel Museum
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Holbeins Bild schockierte – und faszinierte. Es wirkte nachhaltig auf zahlreiche Künstler, besonders auf Schweizer Maler. Zwei Gemälde, die deutlich von Holbeins totem Christus beinflusst sind, finden sich ebenfalls im Kunstmuseum Basel: Es sind Arnold Böcklins Trauer der Magdalena an der Leiche Christi (1867) und Die tote Valentine Godé-Darel von Ferdinand Hodler (1915). Auch Franz von Stuck hat 1891 eine Darstellung des aufgebahrten Christus angefertigt, die von Holbein die bildparallele Präsentation des Leichnams übernimmt.
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Ferdinand Hodler: Die tote Valentine Godé-Darel (1915); Basel, Kunstmuseum |
Literaturhinweise
Bätschmann, Oskar/Griener, Pascal: Hans Holbein. DuMont Buchverlag, Köln 1997;
Brinkmann, Bodo: Das Grab bei Holbein: Versuch über den Toten Christus. In: Bodo Brinkmann (Hrsg.), Archäologie des Heils. Das Christusbild im 15. und 16. Jahrhundert. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg im Allgäu 2016, S. 110-129;
Kunstmuseum Basel (Hrsg.): Hans Holbein d.J. Die Jahre in Basel 1515-1532. München u.a. 2006, S. 257-259;
Lindemann, Bernd Wolfgang: „Der Leichnam Christi im Grabe“ von Hans Holbein dem Jüngeren. In: Norbert Stefenelli (Hrsg.), Körper
ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar
1998, S. 461-473;
Lloyd, Jill: Valentine Godé-Darel: Zeit und Ewigkeit. In: Jill Lloyd/Ulf Küster (Hrsg.), Ferdinand Hodler. Fondation Beyeler, Basel 2013, S. 111-121;
Marek, Kristin: Zwischen Verehrung und Ekel. Die Ambiguität des toten Christus als
bildliche Rhetorik bei Holbein d.J. In: Valeska von Rosen (Hrsg.), Erosionen
der Rhetorik? Strategien der Ambiguität in den Künsten der Frühen Neuzeit.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2012, S. 61-80;
Müller, Christian: Holbeins Gemälde
„Der Leichnam Christi im Grabe“ und die Grabkapelle der Familie Amerbach in der
Basler Kartause. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und
Kunstgeschichte 58 (2001), S. 279-289; Nuechterlein, Jeanne: Translating Nature into Art. Holbein, the Reformation, and Renaissance Rhetoric. Penn State University Press, University Park 2011, S. 85-114;
Prater, Andreas: Zwischen Grabesruhe und Auferstehung. Holbeins „Christus im Grab“ neu gesehen (I). In: Kunstchronik 71 (2018a), Heft 1, S. 22-35;
Prater, Andreas: Ein Andachtsbild für Erasmus? Holbeins „Christus im Grab“ neu gesehen (II). In: Kunstchronik 71 (2018b), Heft 2, S. 94-105;
Sander, Jochen: Hans Holbein d.J. Tafelmalerei in Basel 1515-1532. Hirmer Verlag, München 2005, S. 132-141;
Überwasser, Walter: Hans Holbeins des Jüngeren „Christus in der Grabnische“. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 18 (1959), S. 187-188;
Ziermann, Horst: Matthias Grünewald. Prestel Verlag, München 2001.
(zuletzt bearbeitet am 2. Juni 2022)
Material
1.
Auf
diesem Bilde ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich
glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als auch
nach der Abnahme von demselben immer noch mit außerordentlich schönem Gesicht
darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm sogar bei den furchtbarsten Leiden
zu bewahren. Auf Rogoshins Bild aber kann von Schönheit nicht die Rede sein;
dies ist in vollem Maße der Leichnam eines Menschen, der schon vor der
Kreuzigung, während er das Kreuz auf seinen Schultern trug und unter ihm
zusammensank, grenzenlose Qualen erlitten hat, Verwundungen, Martern, Schläge
von Seiten der Wache und des Volkes, und dann schließlich die sechsstündige
Kreuzesqual (so lange dauerte sie nach meiner Berechnung mindestens). Es ist
wirklich das Gesicht eines soeben vom Kreuz abgenommenen Menschen, das heißt,
es bewahrt noch sehr viel Lebenswärme, es ist an ihm noch nichts erstarrt, so
daß auf dem Gesicht des Toten noch immer ein Ausdruck des Schmerzes liegt, als
empfände er ihn noch jetzt (dies hat der Künstler sehr gut erfaßt); aber dafür
ist das Gesicht auch ohne jede Schonung dargestellt, durchaus naturgetreu; so
mußte wahrhaftig der Leichnam eines Menschen, wer er auch sein mochte, nach
solchen Qualen aussehen. Ich weiß, daß die christliche Kirche schon in den
ersten Jahrhunderten als Dogma festgestellt hat, daß Christus nicht figürlich,
sondern tatsächlich gelitten habe und daß folglich sein Körper am Kreuz dem
Naturgesetz voll und ganz unterworfen gewesen sei. Auf dem Bild ist dieses
Gesicht furchtbar von Stockhieben zerschlagen, verschwollen, von schrecklichen,
blutunterlaufenen blauen Flecken bedeckt, die Augen stehen weit offen, die
Pupillen schielen, die großen, offen sichtbaren Augäpfel haben einen toten,
gläsernen Glanz. Aber es ist seltsam: betrachtet man diesen Leichnam eines
gepeinigten Menschen, so drängt sich einem eine eigenartige, interessante Frage
auf: wenn alle seine Jünger, die seine wichtigsten Apostel werden sollten, und
die Weiber, die ihm nachgefolgt waren und an seinem Kreuze gestanden hatten,
und alle, die an ihn glaubten und ihn für den Sohn Gottes hielten, wenn diese
alle einen solchen Leichnam sahen (und er mußte unbedingt genau so aussehen):
wie konnten sie dann trotzdem glauben, daß dieser Märtyrer auferstehen werde?
Hier kommt einem unwillkürlich der Gedanke: wenn der Tod so
furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden?
Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte,
der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte,
derjenige, der da rief: ›Talitha kumi‹ und das Mägdelein stand auf, oder:
›Lazarus, komm heraus!‹ und der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde
anschaut, so erscheint die Natur als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie
oder, um es richtiger, weit richtiger, wenn auch etwas sonderbar auszudrücken,
als eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand
dieses herrliche, unschätzbare Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses
Wesen, das allein so viel wert war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und
der ganze Erdball, der vielleicht einzig und allein zu dem Zweck geschaffen
wurde, damit dieses Wesen auf ihm erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer
dunklen, brutalen, sinnlosen Macht, der alles gehorcht, wird durch dieses Bild
zum Ausdruck gebracht und teilt sich dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese
Menschen, die den Toten umgaben und von denen hier keiner auf dem Gemälde
dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der mit einem Schlag all ihre
Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die entsetzlichste Angst und
Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten Furcht
auseinandergehen, obgleich sie alle eine gewaltige Idee in sich trugen, die
ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister selbst
am Tage vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte er dann
wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen und den Tod
erlitten? Auch diese Frage steigt einem bei Betrachtung dieses Gemäldes
unwillkürlich auf.
(aus: „Der Idiot“ von Fjodor M. Dostojewski, übersetzt von Hermann Röhl,
Aufbau Verlag, Berlin 1958)
2.
sicht. (holbein d.j.)
basels rechter fuß (links:
blikk gekappt, weggeklapptes ange-
sicht; nebenfuß, geröntgt, rechz,
weist signatur weist sein
unverfallsdatum auf unterm
dunkel. sehbahre, basels anseh-
bare totnsohle.
Thomas Kling
(aus: Thomas Kling, Gesammelte Gedichte. DuMont
Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, S. 346)