Hermann Scherer: Das kleine Mädchen (1924/25); Kaiserslautern, Museum Pfalzgalerie (für die Großansicht einfach anklicken) |
Ein kleines Mädchen wird von einer hockenden Frau mit den Armen schützend umfangen. Auffallend sind die weit aufgerissenen Augen des Mädchens, die sich direkt auf den Betrachter richten und deren Eindringlichkeit man sich kaum entziehen kann. Die unverhältnismäßige Größe der Köpfe, die kompakten Formen und die Wirkung des natürlich belassenen Materials Holz verleihen der Zweiergruppe große Ausdruckskraft. Beide Figuren sind nackt; wie alle Skulpturen Scherers: Der nackte Körper wird bei ihm Inbegriff menschlicher Schutzlosigkeit. Überzeugend gelingt es dem Bildhauer mit seinen aus Arvenholz geschnitzten Gestalten, Angst und Bedrängnis als existenzielle Grunderfahrung und zugleich die Sehnsucht nach Fürsorge und Geborgenheit darzustellen.
Hermann Scherer: Bleistift-Skizze zu einer Holzskulptur mit drei Figuren (1924), Privatsammlung |
Hermann Scherer: Mädchen und Frau (1925); Winterthur, Kunstmuseum |
Kirchner und Scherer fanden Gefallen aneinander; Kirchner lud ihn in sein Atelierhaus nach Frauenkirch (bei Davos) ein, Scherer besuchte ihn mehrmals für längere Zeit, begann dort zu zeichnen, Holzschnitte und erste Holzplastiken anzufertigen. Der junge Mann entfaltete eine erstaunliche Schaffenskraft: In etwas mehr als einem Jahr entstanden sechzehn Skulpturen. Zusammen mit Albert Müller und Paul Camenisch gründete Scherer Ende 1924 nach dem Vorbild der Dresdener „Brücke“ dann die Gruppe „Rot-Blau“. Im April 1925 konnte die Vereinigung (in die als vierter und letzter Künstler noch Werner Neuhaus aufgenommen wurde) in der Kunsthalle Basel erstmals ihre Werke präsentieren. Dabei hinterließen vor allem Scherers Holzkulpturen beim Publikum einen starken Eindruck.
Das bekam der Gemeinschaft offensichtlich nicht gut. Noch vor Ausstellungsende gab Müller seinen Austritt aus der Gruppe bekannt – er sah sich benachteiligt, weil Scherer in der Kunsthalle mit einer größeren Zahl an Werken vertreten war. In der Folge zerbrach die zehnjährige Freundschaft zwischen Müller und Scherer. Auch Kirchner beklagte sich über seinen Basler Schüler: Scherer kopiere ihn sklavisch. Der deutsche Künstler fürchtete offensichtlich, dass das Werk der „Rot-Blau“-Gruppe bekannt wird, ohne dass man ihn als inspirierende Quelle würdigt. „Rot-Blau“ bestand jedoch nur wenige Jahre – nicht nur Müller starb im Dezember 1926 unerwartet früh mit 29 Jahren durch Typhus, sondern wenige Monate darauf auch Scherer am 13. Mai 1927 an einer Infektion.
Literaturhinweis
Schwander, Martin: Hermann Scherer. Die Holzskulpturen 1924–1926. Wiese Verlag, Basel/Stuttgart 1988, S. 68-75.
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