Hans Memling: Diptychon des Maarten van Nieuwenhove (1487); Brügge, Musea Brugge, Sint-Janshospitaal (für die Großansicht einfach anklicken) |
Unter einem Diptychon versteht man ein ein zweiteiliges, in der Regel durch Scharniere verbundenes und dadurch klappbares Tafelbild. Es kann also geöffnet und geschlossen werden. Bei drei Tafeln spricht man von einem Triptychon; sind es noch mehr, nennt man das Bildwerk Polytychon.
Eine besondere Blüte erlebte das zweiflügelige Bildformat in der altniederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts. Hier haben sich nacheinander drei Diptychen-Typen herausgebildet. Um 1430 wurden nahezu ausschließlich christliche Figuren als Bildpaare zusammengefügt. Vor allem der dornengekrönte Schmerzensmann und seine weinende Mutter, die Mater dolorosa, sind immer wieder sehr naturalistisch gegenübergestellt worden. Albrecht Bouts (1450–1549) hat dieses Bildtypus vielfach und am eindringlichsten verwendet (siehe meinen Post „Blut und Tränen“).
Albrecht Bouts: Diptychon mit Schmerzensmann und Mater dolorosa (um 1500/1520); Aachen, Suermondt-Ludwig-Museum |
Um 1450 nahmen dann erstmals reale Personen – hohe Adlige und kirchliche Aufttraggeber – eine der beiden Seiten in den Diptychen ein. Sie ließen sich in Anbetungshaltung vor der heiligen Figur – in der Regel Christus oder die Madonna – porträtieren. Am Ende dieser Entwicklung beanspruchten die Porträts dann beide Bildseiten des Diptychons in Anspruch, um durch dieses Format ihre besondere Verbundenheit zu demonstrieren. Dies können dann sowohl Ehepaar- als auch Freundschaftsbildnisse sein, wie etwa die beiden Porträts von Erasmus von Rotterdam und Peter Gillis, die Quinten Massijs (1466–1530) gemalt hat. Ein herausragendes Beispiel des zweiten Diptychon-Typus sei hier näher vorgestellt: das Diptychon des Maarten van Nieuwenhove, gemalt von Hans Memling (um 1430–1494).
Rogier van der Weyden: Diptychon des Philippe de Croy (um 1460); Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten |
In einem sich über beide Flügel erstreckenden Innenraum werden links die Madonna mit dem Kind und rechts der betende Auftraggeber gezeigt. Eine Inschrift auf der unteren Schräge nennt Namen und Alter des Stifters sowie das Entstehungsjahr: Maarten van Nieuwenhove (gest. 1500) bestellte das Diptychon demnach 1487. Der damals 23-Jährige entstammte einer einflussreichen Brügger Patriziat-Familie; sein Schutzpatron – der hl. Martin – erscheint in einem der farbigen Glasfenster hinter ihm. Wappen und Devise („IL YA CAVSE“, „Nicht ohne Grund“) des van Nieuwenhove wiederum sind im Glasfenster hinter Maria angebracht.
Dass van Nieuwenhove das Werk in noch jungen Jahren bei dem damals bedeutendsten Maler Brügges bestellte und mit seinem persönlichen Motto sowie dem von einer Helmzier bekrönten Familienwappen schmücken ließ, verweist auf die repräsentative Bedeutung des Diptychons. „Es antiziperte gewissermaßen den erhofften zukünftigen Status des Stifters“ (Borchert 2010, S. 194), indem es nicht nur die Frömmigkeit, sondern auch die hohe Abstammung des Porträtierten visualisierte. Und so kam es dann auch: 1492 und 1494 war van Nieuwenhove Mitglied, 1495 und 1498 Vorsitzender des Brügger Stadtrats; 1497 hatte er das Bürgermeisteramt inne.
Memling verknüpft den Repräsentationsehrgeiz seines Auftraggebers mit einer künstlerisch anspruchsvollen Komposition, die besonders wegen ihrer komplexen Raumkonstruktion verblüfft. Hatte Rogier van der Weyden in seinen Bildnis-Diptychen den Hintergrund von Heiligenfigur und Porträtiertem noch farblich voneinander abgesetzt, so verlegt Memling die Szenerie nun in die Umgebung eines Privathauses – „man möchte fast meinen, es handele sich um ein Ehepaarbildnis“ (Beyer 2002, S. 95/100). Tatsächlich scheinen die beiden Tafeln des Diptychons den Eindruck eines gemeinsamen Innenraums zu vermitteln, in welchem dem Stifter die Jungfrau Maria erscheint. Doch macht der Rundspiegel vor den geschlossenen Fensterläden auf der Seite Mariens deutlich, dass es ein Fenster ist, hinter dem der Auftraggeber und Maria in den Blick treten. Dort spiegelt sich das Bildpersonal und das Doppelfenster, das mit dem Bildrahmen identisch ist. Das Spiegelbild soll den Beweis für die Anwesenheit Mariens im Haus des Stifters liefern. Da Memling aber keinen Blickkontakt zwischen der Madonna und ihm herstellt, unterstreicht er, dass es sich um eine Vision van Nieuwenhoves handelt: Die Hände gefaltet, das aufgeschlagene Gebetbuch vor sich und den Blick nach innen gerichtet, ersehnt er die physische Anwesenheit von Gottesmutter und Jesuskind in seinem Haus. Sein leicht geöffneter Mund lässt die Überraschung, das ehrfürchtige Erstaunen angesichts der Erscheinung Mariens erkennen.
Erst im Spiegelbild wird also deutlich, in welchem räumlichen Verhältnis der Stifter und die ihm vor dem inneren Auge erscheinende Madonna zueinander stehen. Es ergänzt zugleich jene Raumteile, die auf dem Gemälde verborgen bleiben. Dabei berücksichtigt Memling bei seiner Perspektivkonstruktion auch die Aufstellung des Diptychons – er nimmt quasi optisch vorweg, dass die Flügel in einem Winkel zwischen 45° und 90° geöffnet wurden. Das Spiegelbild zeigt außerdem, dass der Stifter einen langen Mantel trägt und vor der Gottesmutter kniet, die wiederum auf einer Bank sitzt, die von zwei Bögen gegliedert wird. Links von ihr befindet sich ein Stuhl mit einem blauen Kissen, auf dem ein aufgeschlagenes Buch liegt.
Die uns frontal präsentierte Maria wird eingehüllt von einem scharlachroten Umhang, unter dem sie ein ultramarinblaues Wollkleid trägt; sie reicht dem nackten Jesuskind einen Apfel, den sie in ihrer Linken hält, während der Knabe mit seinem rechten Händchen danach greift. Der Apfel verweist auf den Sündenfall und damit auf die Passion Christi, an deren Ende er mit seinem Kreuzestod stellvertretend die Sünden der Menschheit auf sich nehmen wird. Das Kind sitzt auf einem Goldbrokatkissen, das wiederum auf einem türkischen Teppich aufliegt.
Memling hat Maria und ihren Sohn so vor dem als Fenster aufgefassten Bildrahmen platziert, dass das Kissen und Marias Mantel leicht über die Bildebene in den Raum des Betrachters zu ragen scheinen. Ein Zipfel ist sogar auf den Bildrahmen gemalt, erkennt man doch deutlich einen Schatten, der sich auf der unteren Leiste abzeichnet. „Wie das Spiegelbild an der Rückwand des Innenraums hat auch das Trompe-l’œil die Funktion, beim Betrachter die Illusion von Wirklichkeit, von tatsächlicher Präsenz der Bildpersonen und Dinge hervorzurufen, und möchte vergessen machen, daß das Bild letztlich eine fiktive Begegnung des Stifters mit Maria darstellt, die sich der Maler ausgedacht hat“ (Belting/Kruse 1997, S. 258). Diese Anmutung von realer Anwesenheit ist zugleich eine Einladung an den Betrachter, sich an der visionären Schau des van Nieuwenhove zu beteiligen und Maria so zu „aktualisieren“ als sei sie leibhaftig anwesend.Hans Memling: Portinari-Madonna (1487); Berlin, Gemäldegalerie |
Kunsthistoriker gehen davon aus, dass für das Marienbild ein bereits gezeichnetes oder gemaltes Modell vorlag, das auf die Tafel übertragen wurde. Dafür spricht, dass Memlings Brügger Madonna eine Variante der Mitteltafel seines gleichzeitig entstandenen Portinari-Triptychons zeigt. Während die Gottesmutter dort vor einer durch eine Arkade gesehenen Landschaft erscheint, platziert sie Memling hier in einem luxuriösen Innenraum, dessen Fenster den Blick auf eine Landschaft freigibt. Damit schließt Memling an einen erstmals von Dirk Bouts (1415–1475) formulierten und bald im übrigen Europa erfolgreichen Bildtypus an.
Dirk Bouts: Maria mit dem Kind (1460/65); London, National Gallery |
Literaturhinweise
Anmut und Andacht. Das Diptychon im Zeitalter von Jan van Eyck, Hans Memling und Rogier van der Weyden. Belser Verlag, Stuttgart 2007;
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002;
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 257-258;
Borchert, Till-Holger: Van Eyck bis Dürer. Altniederländische Meister und die malerei in Mitteleuropa. Belser Verlag, , Stuttgart 2010S. 194-195;
De Vos, Dirk: Hans Memling. Das Gesamtwerk. Belser Verlag, Stuttgart/Zürich 1994, S. 278-281;
De Vos, Dirk: Flämische Meister. Jan van Eyck – Rogier van der Weyden – Hans Memling. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002, S. 181-188;
Salvarese, Silvio u.a.: Reflections on praxis and facture in a devotional portrait diptych: A computer analysis of the mirror in Hans Memling’s Virgin and Child and Maarten van Nieuwenhove. In: https://www.researchgate.net/publication/237585809 (zuletzt aufgerufen am 12.11.2020).
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