Freitag, 20. November 2020

Trauernde Gestirne – Albrecht Dürers „Kreuzigung Christi“ von 1498

Albrecht Dürer: Kreuzigung Christi (1498); Holzschnitt
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Albrecht Dürer (1471–1528) veröffentlichte 1511 in Buchform eine zwölfteilige, heute Große Passion genannte Holzschnitt-Folge, die mit lateinischen Hexameter-Versen von Benedictus Chelidonius versehen war. In großen Bänden konnte man diese Passionserzählung auch zusammengebunden mit seinen beiden anderen bedeutenden Holzschnitt-Serien, dem Marienleben (siehe meinen Post „Ein Buch für die Himmelskönigin“) und der Apokalypse (siehe meinen Post „Kunstvoller Weltuntergang“), erwerben. Etwa zur gleichen Zeit entstanden die besonders ausführliche Kleine Passion mit 37 Holzschnitten (1509/10, 1511 gedruckt) und die 15-teilige Kupferstich-Passion (1507–1512; siehe meinen Post „Ruhender Pol im Tumult“). Dürers Druckgrafik belegt eindrücklich, dass sich der Künstler in allen Stadien seines Schaffens intensiv mit der neutestamentlichen Heilsgeschichte beschäftigt hat.

Die Große Passion gilt als inhomogene Grafik-Folge, da sich die einzelnen Blätter stilistisch erkennbar voneinander unterscheiden. Dies lässt sich durch den langen Zeitraum erklären, in dem die Holzschnitte entstanden sind: Die frühesten sind um 1496 angefertigt und die letzten um 1510 hinzugefügt worden. Ähnlich wie in Dürers Apokalypse zeichnen sich die zwischen 1496 und 1500 entstandenen Blätter besonders durch ihre szenische Dramatik aus. Die um 1498 datierbare Kreuzigung Christi gehört zu diesen frühen Blättern der Großen Passion, die Dürer auch als Einzeldrucke vertreiben ließ.

Es herrscht eine unübersichtliche Fülle auf dem 28 x 39 cm großen Blatt, die den Blick hin und her springen lässt: Das Format wird nahezu vollständig von Figuren und kleinteiligem Landschaftshintergrund in Form einer „Weltlandschaft“ mit Wäldern, Felsen, einem Fluss und einer großen Steinbrücke ausgefüllt. Mit gestreckten Gliedmaßen hängt Christus an dem in der Mittelachse des Bildes errichteten, bis an den oberen Bildrand reichenden Kreuz und ragt hoch über die übrigen Gestalten hinaus. Sein Strahlennimbus weist ihn als Sohn Gottes aus. Der kräftige, muskulöser Körper unterscheidet sich deutlich von den schmalgliedrigen mittelalterlichen Christustypen unterscheidet. Dürer gibt den Gekreuzigten nicht streng frontal wieder, sondern leicht nach links und damit den Trauernden zugewendet. Die hier nur angedeutete Drehung des Gekreuzigten hatte Dürer bereits 1496 in der Kreuzigung des Dresdener Bildes der Sieben Schmerzen Mariens konsequent umgesetzt. Die zentrale, erhöhte Position Christi ist innerhalb der Großen Passion nur mit dem Blatt der Auferstehung vergleichbar, auf die sie damit verweist (siehe meinen Post „Lichtgestalt“).

Albrecht Dürer: Auferstehung Christi (1510); Holzschnitt
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In der linken Bildecke ist Maria in ihrem Schmerz zusammengesunken. Ihr Gesicht wird für den Betrachter zu einem „Fixpunkt in der detailreichen Komposition“ (Mack-Andrick 2007, S. 235), umgeben von Johannes, der die Gottesmutter am Ärmel fasst, und den trauernden Frauen, die nach dem Johannes-Evangelium bei der Kreuzigung anwesend waren (Johannes 19,25). Ihnen gegenübergestellt ist auf der rechten Seite ein zeitgenössisch herausgeputzter berittener Soldat mit mächtigem Federhelm: Er wendet sich einem vom Bildrand angeschnittenen Turbanträger zu, der auf Christus weist. Unklar ist, ob der Landsknecht sich gleichgültig von dem Sterbenden abwendet – oder ob wir hier den Augenblick vor uns haben, in dem ein römischer Hauptmann Christus als Sohn Gottes erkennt (Matthäus 27,54). Auffällig ist, dass innerhalb des Blattes ein Perspektivwechsel stattfindet: Der Augenpunkt befindet sich auf der Höhe der angenagelten Füße Christi, zu dem der Betrachter aufschaut; zugleich nimmt er jedoch die Gruppe der Trauernden in Aufsicht, also von oben wahr.

Die gedrängte Komposition wird zusätzlich durch symbolische Motive bereichert. Hierzu zählen die mit bekümmerten Gesichern dargestellten Gestirne Sonne und Mond in den oberen Ecken – altertümlich anmutende Bildelemente, die der Kreuzigungsikonographie des 9. bis 11. Jahrhunderts angehören. Sie repräsentieren die kosmologische Diemension des Geschehens, auf die auch die im Neuen Testament beschriebene Sonnenfinsternis beim Tod Jesu verweist (Matthäus 27, 45). In späteren Druckgrafiken wird Dürer diesen Aspekt der Kreuzigung durch eine atmosphärische Verdunkelung des Himmels anschaulich machen.

Martin Schongauer: Christus am Kreuz mit vier Engeln (um 1475);
Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Martin Schongauer: Christus am Kreuz (um 1475); Kupferstich
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Auch die großen Engel, die in Kelchen das aus den Wunden fließende Blut und Wasser Jesu auffangen (Johannes 19,34), unterstreichen den symbolischen Bildgehalt und verweisen auf die sakramentale Bedeutung des Sterbens Jesu. Dürer hat dieses Motiv aus älteren Darstellungen übernommen – z. B. von Martin Schongauers Kupferstich Christus am Kreuz mit vier Engeln (um 1475). Einer der Engel kniet am Kreuzesstamm und fängt das Blut der Nagelwunde an den Füßen Jesu auf. Dürer stellt ihn in der Haltung der Maria Magdalena dar, wie sie sich auch in dem entsprechenden Kupferstich aus der Passionsfolge von Schongauer findet (siehe meinen Post „Kunstvoll gestochenes Leiden“). Ebenso könnte die verhüllte, ihre Hand vor das Gesicht führende trauernde Frau hinter Maria diesem Vorbild entnommen sein. Der Totenschädel am Fuß des Kreuzes ist nicht nur ein Hinweis auf Golgatha, den Ort des Geschehens – es handelt sich um einen ganz bestimmten Schädel, nämlich um den Kopf
Adams: Christus hat den durch den Sündenfall in die Welt gekommenen Tod durch sein Erlösungswerk überwunden.

Lucas Cranach d.Ä.: Kreuzigung Christi (1502); Holzschnitt
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Dürers Große Passion wirkte nachhaltig auf viele Künstler und wurde vorbildhaft für die Darstellung von Passionsszenen. So nimmt etwa die Kreuzigung Christi von Lucas Cranach d.Ä., ein 1502 entstandener Holzschnitt, deutlich Bezug auf Dürers vier Jahre älteres Werk.

 

Literaturhinweise

Fröhlich, Anke: Christus am Kreuz. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band II: Holzschnitte. Prestel Verlag, München 2002, S. 202-202;

Kuder, Ulrich/Luckow, Dirk (Hrsg.): Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürerzeit. Kunsthalle zu Kiel, Kiel 2004, S. 216;

Mack-Andrick, Jessica: Albrecht Dürer, Christus am Kreuz. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 234-235;

Schneider, Erich (Hrsg.): Dürer – Die Kunst aus der Natur zu „reyssenn“. Welt, Natur und Raum in der Druckgraphik. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung-Otto–Schäfer-II. Schweinfurt 1997, S. 98.

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