Donnerstag, 25. März 2021

Die dicke Rechnung am Ende – Rembrandt malt sich als verlorenen Sohn

Rembrandt van Rijn: Rembrandt mit Saskia als verlorener Sohn in der Schenke (1635);
Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (für die Großansicht einfach anklicken)
In einem Wirtshaus (links oben an der Wand hängt eine Tafel, auf der die Zeche angekreidet wird) sitzt ein prächtig gekleideter junger Mann mit dem Rücken zum Betrachter an einem reich gedeckten Tisch. Auf dem Kopf trägt er ein schwarzes Barett mit Straußenfedern, an seinem Gürtel einen prunkvollen Degen mit vergoldetem Griff. Lachend dreht er sich nach hinten und erhebt sein Bierglas, um uns zuzuprosten. Seine linke Hand liegt auf der Hüfte einer jungen Frau, die, ebenfalls kostbar gekleidet und geschmückt, auf seinem Schoß sitzt. Auch sie wendet den Kopf und blickt aus dem Bild heraus. Die beiden lassen es sich gutgehen (auf dem Tisch hinter ihnen, der von einem schweren Teppich bedeckt wird, ist eine Pfauenpastete sichtbar) und haben offensichtlich nichts dagegen, dass man das merkt. Das schräg gehaltene Kelchglas verweist darauf, wie ausgelassen es hier zugeht.
Rembrandt hat in diesem Gemälde, das auf halber Höhe links signiert ist, sich selbst und seine Frau Saskia abgebildet. Das Paar war seit 1634 verheiratet, und lange Zeit galt das Bild als Doppelporträt, mit dem der Maler das gemeinsame überschäumende Glück feiern wollte. Man betrachtete es als Zeugnis eines Künstlers und Mannes, der mit sich selbst und der Welt mehr als zufrieden und stolz auf seinen Erfolg ist.
Hat Rembrandt mit diesem Bild den eigenen, von Prunksucht, Prahlerei und Verschwendung gekennzeichneten Lebensstil illustriert, wie früher vermutet wurde? Sehen wir hier die eitle Selbstbespiegelung eines erfolgsverwöhnten Künstlers? Wohl kaum. Heute besteht weitgehend Einigkeit, dass es sich um eine biblische „Historie“ handelt: Thema des Bildes ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11-32). In einer langen ikonografischen Tradition wurde der verlorene Sohn genau in dieser Weise dargestellt: zechend, mit einer Hand eine Prostituierte umfassend und mit der anderen ein Glas Wein.
Saskia wirkt herausgeputzt und zeigt nur wenig Begeisterung für ihren übermütigen Freier. „Vielmehr demonstriert sie genau die Art von innerer Abwesenheit und Toleranz, die üblicherweise mit den Pflichten ihres Berufes einhergeht“ (Schama 2000, S. 382). Dass es sich bei der Szenerie um ein Bordell handelt, macht der Vorhang rechts deutlich, hinter dem sich eine Bettstatt befinden dürfte. „Zudem lässt der vergoldete, aufragende Degengriff des Protagonisten einen Phallus assoziieren“ (Buck/Müller 2019, S. 134). Schließlich verweisen der Pfau, Standardsymbol der Eitelkeit, und die Zählstrichtafel an der Rückwand, Sinnbild für die dicke Rechnung am Ende, auf eine moralische Botschaft des Bildes.
Röntgenaufnahmen haben außerdem ergeben, dass Rembrandts Gemälde früher querrechteckig und zwischen den beiden Rückenfiguren im Hintergrund eine nackte Lautenspielerin platziert war – ein deutlicher Hinweis auf den Charakter des Ortes. Sie wurde mit den Pfauenfedern übermalt, die hinter dem Kopf des jungen Mannes zu sehen sind. Warum das Bild beschnitten und die Lautenspielerin von Rembrandt selbst oder auch später übermalt wurde, ist unklar – vielleicht um es auf die Hauptfiguren zu konzentrieren.
Keiner von den Guten: Rembrandt (mit Barett) als Scherge in der Kreuzaufrichtung von 1633
(München, Alte Pinakothek)
Selbstporträts in der Gestalt negativer Figuren gibt es von Rembrandt mehrfach: So hat er sich z. B. als einer der Schergen gemalt, die das Kreuz Christi aufrichten. Für Simon Schama hat sich Rembrandt in seinem Doppelbildnis in der Schenke „in den Elk, den Jedermann verwandelt, den Inbegriff der sündigen Menschheit“ (Schama 2000, S. 382). Die Identifikation mit dem verlorenen Sohn könnte auch eine Mahnung Rembrandts an sich selbst sein, im Überschwang des Glücks nicht dessen Zerbrechlich- und Vergänglichkeit zu vergessen. Auch Albrecht Dürer hat sich in einem Kupferstich als verlorener Sohn bei den Schweinen dargestellt (siehe meinen Post Der Künstler am Schweinetrog“) – bei Dürer wie bei Rembrandt drückt sich darin die Einsicht aus, dass der Mensch von vornherein verloren ist und der Umkehr bedarf. Barbara Martin allerding sieht die moralisierende Warnung vor sinnlichen Ausschweifungen, die dem Sujet vom Verlorenen Sohn zugrunde liegt, von Rembrandt durchaus konterkariert „durch das sichtliche Vergnügen, mit dem die Dargestellten diese genießen“ (Martin 2017, S. 50).
Albrecht Dürer: Der verlorene Sohn bei den Schweinen (1496/97), Kupferstich
Lovis Corinth: Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektglas (1902); Privatsammlung
Lovis Corinth (1858–1925), ein großer Bewunderer Rembrandts, hat sich in seinem Selbstporträt mit Charlotte Berend und Sektglas von 1902 eng an das Gemälde seines verehrten Vorbilds angelehnt: Auch hier sehen wir ein Zechgelage, eine festlich gedeckte Tafel im Hintergrund und einen weinselig dem Betrachter zuprostenden Mann. Charlotte Berend war eine der ersten Schülerinnen in der Malschule für Damen, die Corinth 1901 in Berlin eröffnet hatte. Nach wenigen Monaten wurden die beiden ein Paar, sie heirateten 1903. Auf dem Selbstbildnis von 1902 schmiegt sich der verliebte Corinth, im Frack und mit geöffnetem Hemd, an seine halbnackte Braut, die – wie Saskia bei Rembrandt – auf seinem Schoß sitzt. Aber drängt sich der als fröhlicher Haudegen verkleidete Rembrandt auf seinem Gemälde in den Vordergrund, steht bei Corinth die schimmernde Haut Charlottes im Mittelpunkt: „Die führt uns der Maler vor, als wäre er König Kandaules, der seinen Freund Gyges hinter einem Vorhang sich zu verstecken hieß, von wo er dieses sein prächtiges Weib bewundern sollte“ (Wyss 2008, S. 315). 
Corinth inszeniert sich als Bohemien und Lebemann, ohne jeglichen Hinweis auf seine Profession. Charlotte wird als Aktfigur vor allem über ihren jugendlich-attraktiven Körper charakterisiert. Mit regelrechtem Besitzerstolz präsentiert der Maler sie als die Seine. „Die deutlich jüngere Frau fungiert so implizit auch als Demonstrationsobjekt für die Virilität Corinths, seine sexuelle wie künstlerische Potenz“ (Martin 2017, S. 49). 
Die erotische Beziehung der beiden wird deutlich betont: Das Paar hat die Arme umeinander gelegt; Corinths Rechte greift nach Charlottes nacktem Busen, wobei die Brustwarze markant zwischen zwei Fingern hervorragt. „Nicht nur für ein noch unverheiratetes Paar war eine solch offene Zurschaustellung der sexuellen Beziehung zur damaligen Zeit gewagt“ (Martin 2017, S. 49). 
Corinths Rembrandt-Rezeption fällt zusammen mit einer regelrechten Wiederentdeckung des Malers durch französische und deutsche Kunstschriftsteller und -historiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zudem dürfte Rembrandt, der sich vom einfachen Müllerssohn zum gefeierten Künstler emporgearbeitet hatte und so für künstlerische Selbstständigkeit und Erfolg stand, Corinth auch als direkte Identifikationsfigur gedient haben. Im Gegensatz zu seinem Vorbild gestaltet Corinth kein historisierendes Rollenspiel mit moralischer Botschaft, das die erotische Komponente seines Bildes rechtfertigen könnte – er verortet es im Hier und jetzt.

Literaturhinweise
Buck, Stephanie/Müller, Jürgen: Rembrandts Strich. Paul Holberton Publishing, London 2019;
Martin, Barbara: nackt und bloß. lovis corinth und der akt um 1900. Sandstein Verlag, Dresden 2017, S. 48-52;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000;
Schwartz, Gary Das Rembrandt-Buch. Leben und Werk eines Genies. Verlag C.H. Beck, München 2006;
Wyss, Beat: Das Selbstporträt als Historie. Der moderne Rembrandt. In: Lovis Corinth und die Geburt der Moderne. Kerber Verlag, Bielefeld 2008.

(zuletzt bearbeitet am 21. August 2024)

Sonntag, 21. März 2021

Die Chemie einer Ehe – Jacques-Louis David porträtiert Antoine-Laurent und Marie-Anne Lavoisier

Jacques-Louis David: Antoine-Laurent und Marie-Anne Lavoisier (1788);
New York, Metropolitan Museum of Art (für die Großansicht einfach anklicken)

Wenn sich Naturwissenschaftler und Ärzte im 18. bei ihrer Tätigkeit bzw. ihren Experimenten porträtieren ließen, dann trugen sie keine weißen Laborkittel, sondern mit Knopfrabatten doppelreihig besetzte Stutzfräcke, weiße Hemden mit gekräuselten Jabots, Kniehosen, Seidenstrümpfe, Schnallenschuhe und eine gepuderte Perücke. Als Paradebeispiel sei hier das Doppelporträt von Antoine-Laurent Lavoisier und seiner Frau Marie-Anne vorgestellt, ausgeführt 1788 von dem französischen Maler Jacques-Louis David (1748–1825).

Lavoisier gilt als einer der Begründer der modernen Chemie: 1743 geboren und zunächst als Jurist ausgebildet, widmete er sich schon früh den Naturwissenschaften und wurde nach ersten Erfolgen 1768, im Alter von nur 24 Jahren, in die Académie royale des sciences aufgenommen. Gemeinsam mit Claude-Louis Berthollet (1748–1822), Antoine-François Comte de Fourcroy (1755–1809) und Louis-Bernard Guyton de Morveau (1737–1816) erarbeitete er eine neuen Nomenklatur der Chemie und schuf damit die Grundlage für einen Verständigungskanon, aufgrund dessen die neue Disziplin überhaupt erst wissenschaftlich effizient werden konnte. Durch empirische Forschungen, die insbesondere auf einer bis dahin unbekannten Präzision von meist selbstentworfenen Messinstrumenten und minutiös protokollierten Messverfahren beruhten, entdeckte er u. a. die chemische Zusammensetzung von Luft und Wasser, die zu dieser Zeit noch immer als Elemente galten. Er isolierte deren Bestandteile Sauerstoff und Wasserstoff, entwickelte seine Theorien zu Respiration und Oxidation und formulierte das auch heute noch gültige Gesetz der Massenerhaltung.

Auf seiner Entdeckung baute Lavoisier seine Theorie der prozessualen Einheitlichkeit von Oxidation, Kalzination und Atmung auf, die er zwischen 1787 und 1788 in zahlreichen Aufsätzen publizierte. 1789 erschien sein bahnbrechendes Lehrbuch „Traité élémentaire de chimie“; 1790 verwaltete er die von der Konstituierenden Versammlung beschlossene Reform der Maße und Gewichte; er war außerdem Vorsitzender eines Normenausschusses, dessen Tätigkeit zur Einführung der seither geltenden Raum- und Zeitmaße geführt hat. Dennoch wurde Lavoisier als Repräsentant der verhassten Steuerverwaltung während der jakobinischen Schreckensherrschaft vor ein Revolutionstribunal gestellt und im Mai 1794 auf der Guillotine hingerichtet. Als Generalpächter der Steuern eines großen Staatsgutes in der Loire-Region war Lavoisier äußerst wohlhabend; ab 1791 wurde er deswegen von dem Arzt und revolutionären Publizisten Jean-Paul Marat (1743–1793) heftig angegriffen, den er sich 1780 zum Feind gemacht hatte, als er dessen fehlerhafte Schrift über Verbrennung („Recherches physiques sur le feu“) abkanzelte.

David, der Porträtist Lavoisiers, saß damals im Konvent, als man den Wissenschaftler in einem öffentlichen Schauprozess zum Tode verurteilte und sein Vermögen konfiszierte. Zu denen, die für die Hinrichtung seines prominenten Modells stimmten gehörte er nicht. Er musste sich aber sicherlich „hüten, etwas von der Existenz seines Gemäldes laut werden zu lassen; es wäre sein eigenes Todesurteil gewesen“ (Roters 1998, S. 99). Das Bild blieb in Privatbesitz und deshalb fast zwei Jahrhunderte lang der Forschung verborgen. Erst 1977 gelangte es durch eine Schenkung in das Metropolitan Museum of Art in New York.

David zeigt das Ehepaar in bürgerlicher Kleidung: Lavoisier im schwarzen Rock mit seidener culotte, spitzenbesetztem Hemd, schwarzen Strümpfen und ebensolchen Schuhen mit silberner Schnalle; Madame Lavoisier im hellen, gleichfalls spitzenbesetzten Musselinkleid, um das ein blaues Band geschlungen ist. Auf dem Kopf trägt sie eine Perücke, die einige Strähnen bis weit auf den Rücken fallen lässt. Der Chemiker sitzt an einem Tisch, bedeckt mit roter, Falten werfender Samtdraperie, auf dem drei teils gefüllte Behältnisse aus Glas und Messing als Attribute seines Berufs zu sehen sind. Mit der rechten Hand setzt er schreibend eine Feder auf einige vor ihm ausgebreitete Blätter, aller Wahrscheinlichkeit nach soll es sich hier um das Manuskript seines „Traité élémentaire de chimie“ handeln, den er nur wenige Monate später im April 1789 veröffentlichen wird. Sein rechtes Bein hat er am Tischbein vorbei ausgestreckt; zu seinen Füßen sind weitere Apparate zu einem zweiten Stillleben arrangiert: ein gläserner Rundkolben auf geflochtener Halterung und ein zylindrisch geformtes Gefäß aus Messing.

Lavoisier schaut über seine rechte Schulter zurück, hebt Kopf und Blick zu seiner Frau, die seitlich und etwas hinter ihm steht und sich in leicht vorgebeugter Haltung einerseits mit den Fingern ihrer rechten Hand auf den Tisch stützt, während sie den linken Unterarm auf die Schulter ihres Mannes legt. Ihr Blick ist auf den Betrachter „als Zeugen der Bildsituation“ (Fleckner 2014, S. 547) gerichtet. Hinter ihr ist am linken Bildrand ein Stuhl zu erkennen, über den ein Tuch geworfen wurde; darauf liegt ein großes Portfolio, wie es Künstler zum Aufbewahren von Zeichnungen oder Grafiken benutzen. Die beiden Figuren befinden sich in einem großen, saalartigen Innenraum, dessen lichte Höhe und überaus repräsentative Ausstattung mit aufragenden Pilastern und marmorner Wandtäfelung ebenso wenig zum bürgerlichen Habit der Personen passen will wie der üppige rote Überwurf des Tisches, der weder zum Schreiben noch zum Hantieren mit chemischen Geräten taugen dürfte. Wir haben es hier keineswegs mit einer authentischen Aufnahme der Wohnräume Lavoisiers oder gar seines Labors zu tun, mit einem Einblick in den Arbeitsalltag des Chemikers, sondern mit einer „durch und durch komponierten Anordnung aussagekräftiger Bildelemente“ (Fleckner 2014, S. 547).

Lavoisiers Gasometer
Die chemischen Geräte, die auf Davids Gemälde abgebildet sind, weisen auf einige der entscheidenden Entdeckungen Lavoisiers hin und markieren den wissenschaftstheoretischen Bruch, den der Chemiker zu genau dieser Zeit in seinem „Traité élémentaire de chimie“ auch publizistisch vorbereitete: Zu sehen ist rechts unten im Bild ein Aerometer zur Bestimmung der Dichte von Gasen, wie ihn Lavoisier bereits seit den späten 1760er Jahre bei seinen Experimenten verwendete. Der Glasballon, der sich neben dem Messingkolben befindet, diente der Aufnahme und Gewichtsbestimmung von Gasen. Beide Apparate sind mit der Figur des Chemikers kompositorisch deutlich verbunden: Dessen Bein sowie die auffallende diagonale Falte der roten Draperie leiten unseren Blick vom Dargestellten auf die glänzenden Gegenstände und verbinden diese mit der Figur des Mannes sowie mit den übrigen Geräten auf dem Tisch. Dort, rechts vom Bildrand leicht angeschnitten, ist eine hohe, teils mit Wasser gefüllte Glasglocke zu sehen, die unter anderem der Bestimmung des Sauerstoffverbrauchs bei Verbrennung oder menschlicher Atmung diente. Links daneben befindet sich ein schlichtes Objekt, dessen geschlossenes Glasrohr teilweise mit Quecksilber gefüllt ist und dem Chemiker erlaubte, bei Oxidationsversuchen freigesetzten Wasserstoff zu isolieren – eine simple Anordnung, mit der Lavoisier 1784 die Zusammensetzung von Wasser aus zwei gasförmigen Bestandteilen belegen konnte. Der prominenteste Gegenstand auf dem Tisch ist ein Gasometer aus Glas und Messing, versehen mit zwei Ventilen und zu etwa einem Viertel mit Quecksilber gefüllt, mit dessen Hilfe der Wissenschaftler Sauerstoff auffangen, messen und gezielt in seine diversen Versuchsanordnungen einleiten konnte.

Marie-Anne Lavoisier: zu Recht selbstbewusst
Marie-Anne Lavoisier spielt auf Davids Doppelporträt keineswegs eine untergeordnete Rolle. Dafür spricht ihr Blick aus dem Bild, die dominante Präsenz ihrer stehenden Ganzfigur ebenso wie deren Betonung durch den mittleren Wandpilaster. Der selbstbewusste Habitus und der kompositorische Anteil, den Madame Lavoisier am gemeinsamen Bildnis hat, entsprechen ihrer historisch überlieferten Persönlichkeit: Sie übersetzte wissenschaftliche Literatur aus dem Lateinischen, Italienischen und Englischen, die von ihr teilsweise mit eigenen Kommentaren versehen und herausgegeben wurden, wie auch die Schriften ihres Mannes. Anne-Marie Lavoisier unterhielt zudem eine weitverzweigte intellektuelle Korrespondenz und führte in Paris einen Salon, in dem regelmäßig internationale Wissenschafter, Politiker und Künstler zu Gast waren. Sie war nicht nur Lavoisiers Ehefrau, sie war auch seine engste Mitarbeiterin. Sie übersetzte für ihren Gatten ins Französische, darunter den Essay sur la phlogistique, und fertigte die Zeichnungen zu Lavoisiers Abhandlungen an, worauf die Zeichenmappe am linken Bildrand verweist. Sie soll eine begabte Schülerin Davids gewesen sein.

Jean-Honoré Fragonard: Die Inspiration (1769); Paris, Louvre
Die Arbeitsgeräte der beiden, die chemischen Apparate und die Zeichenmappe, weisen auf die geistige Kooperation hin, wobei die Ehefrau als inspirierende Muse erscheint. Denn die Kopfwendung des Mannes mit verklärtem Blick und zur Seite gedrehten Augäpfeln ist ein vom mittelalterlichen christlichen Autorenbild übernommenes Gestaltungsmuster, das den Moment der göttlichen Inspiration markiert. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wird diese Kopfhaltung immer wieder in Porträts von Künstlern, Dichtern, Philosophen und Musikern verwendet.

Hyacinthe Rigaud: Ludwig XIV. (1701); Paris, Louvre
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Erstaunlich sind die Maße des Doppelporträts von David: Auf 286 x 224 cm Leinwand sind die beiden Figuren lebensgroß dargestellt – ein Format, das bis zum 18. Jahrhundert in der französischen Bildnismalerei ausschließlich dem adligen Standesporträt und insbesondere dem prunkvollen portrait d’apparat, dem herrscherlichen Repräsentationsporträt vorbehalten war. Als das geradezu klassische Beispiel dieser Gattung in der französischen Malerei gilt Hyacinthe Rigauds berühmtes Bildnis Ludwig XIV. von 1701, das den Monarchen, ausgestattet mit allen Insignien seiner Macht, im Thronsaal vor Säule und Vorhang zeigt. Das Werk ist mit 277 x 194 cm sogar noch etwas kleiner als das Porträt der Eheleute Lavoisier.

 

Literaturhinweise

Fleckner, Uwe: Respiration und Inspiration. Jacques-Louis Davids Bildnis des Chemikers Antoine-Laurent Lavoisier und seiner Frau Marie-Anne. In. Zeitschrift für Kunstgeschichte 77 (2014), S. 545-564;

Gaus, Joachim: Ingenium und Ars – das Ehepaarbildnis von David und die Ikonographie der Museninspiration. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 36 (1974), S. 199-228:

Roters, Eberhard: Malerei des 19. Jahrhunderts. Themen und Motive. Band I. DuMont Buchverlag, Köln 1998, S. 97-101.


Sonntag, 14. März 2021

Das Geheimnis des Grabes – Caspar David Friedrichs „Abtei im Eichwald“

Caspar David Friedrich: Abtei im Eichwald (1809/10); Berlin, Alte Nationalgalerie
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In den Jahrzehnten nach dem Tod des Landschaftsmalers Caspar David Friedrich (1777–1840) wurde seine Abtei im Eichwald immer wieder als Hauptwerk des Künstlers bezeichnet. Wenn man Friedrich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt noch kannte, dann weitgehend aufgrund dieses Bildes. Der Maler hatte es zusammen mit dem Mönch am Meer (siehe meinen Post „Eisiges Schweigen“) Ende September 1810 verspätet auf die Berliner Akademieausstellung geschickt, wo die beiden Gemälde übereinander gehängt waren: oben der Mönch, unten die Abtei. Das Bilderpaar erregte in der Ausstellung großes Aufsehen und wurde von König Friedrich Wilhelm III. erworben.

Caspar David Friedrich: Mönch am Meer (1809/10); Berlin, Alte Nationalgalerie

Sechs Mönche tragen einen Sarg durch das auffällig große Portal einer gotischen Kirchenruine, in das ein Kruzifix eingesetzt ist. Hinter ihnen folgen weitere acht Mönche in Zweiergruppen; der Zug bewegt sich an einem offenen Grab vorbei, das zu einem alten und verfallenen Friedhof gehört. Links und rechts des Kruzifixes nimmt man das Leuchten von Altarkerzen wahr. Eine feierliche Symmetrie bestimmt den Bildaufbau, trotz des bizarren Astwerks der kahlen Eichen. Diese bilden mit der Architektur eine Art Schranke, die den Vordergrund geradezu abschließt. Dahinter steigt eine geheimnisvolle, grau-braune Nebelwand auf; am darüber liegenden Himmel, vom Abendglanz erleuchtet, ist ein zunehmender Mond sichtbar.

Friedrich hat sich in einem Brief selbst zu seinem Bild geäußert: „Jezt arbeite ich an einem grossen Bilde, worin ich das Geheimnis des Grabes, und der Zukunft darzustellen gedenke. Was nur im Glauben gesehn, und erkannt werden kann, und dem endlichen Wissen des Menschen ewig ein Rätsel bleiben wird: (mir selbst ist was ich darstellen will, und wie ich es darstellen will, auf gewisse Weise ein Räthsel) Unter, mit Schnee bedekten Grabmälern, und Grabhügeln, stehen die Überreste, einer gothischen Kirche, umgeben von uralten Eichen. Die Sonne ist untergegangen, und in der Dämmerung leuchtet über den Trümmern stehent, der Abendstern und des Mondes Viertel. Diker Nebel dekt die Erde, und wärent man den obern Theil des Gemäuers noch deutlich sieht, werden nach unten, immer ungewisser, und unbestimmter die Formen, bis endlich sich alles, je näher der Erde, im Nebel Verliehrt. Die Eichen streken nach oben die Arme aus dem Nebel, währent sie unten schon ganz verschwunden“ (Scholl 2004, S. 90).

Auf der Mittelachse des Bildes sind unmittelbar übereinander das leere Grab, das Portal mit dem Kruzifix, der durch die Tür getragene Sarg, die Altarleuchter sowie das pfeilartig nach oben weisende Kirchenfenster angeordnet. Dabei markiert das Kruzifix in zweifacher Hinsicht einen Durchgang: Unter den ausgebreiteten Armen des Gekreuzigten wird der Sarg in die Kirche hineingetragen. Offensichtlich wird im Innenraum eine Trauerfeier abgehalten werden, während das eigentliche Grab vor der Kirche liegt – es ist offensichtlich nicht die endgültige Ruhestätte des Verstorbenen. Durch die Zentrierung der wesentlichen Bildgegenstände ergibt sich eine Blickpassage, die sich vom Grab im Vordergrund über das Kruzifix und das Fenster in den Himmel erstreckt, obwohl sich jedes dieser Elemente räumlich auf einer anderen Ebene befindet. Der Weg in den Himmel führt über das Kreuz, so lässt sich die Bildaussage zusammenfassen. „Dem christlichen Glauben des Künstlers entsprechend ist der im Kruzifix repräsentierte Erlösungstod Christi der Garant für ein Leben nach dem Tode“, folgert Christian Scholl (Scholl 2004, S. 92) und schließt sich damit der Sicht des Friedrich-Forschers Helmut Börsch-Supan an. Im Zusammenhang mit der Abtei im Eichwald wird daher auch oft ein Gedicht des Künstlers zitiert, in dem sich dessen gläubige Jenseitshoffnung unmissverständlich ausdrückt:

 

„Dunkelheit decket die Erde

Ungewiß ist aller Wissen doch nur

Es leuchtet im Abend der Himmel

Klarheit strahlt von oben.

Sinnet und grübelt, wie ihr auch wollt

Geheimnis bleibt auch ewig der Tod,

Aber Glaube und Liebe sieht

Freude und Licht jenseits dem Grabe.“

                                                            (Hinz 1984, S. 79)

 

Friedrich hat wie so oft in seinen Gemälden auch in der Abtei im Eichwald zwei Bildschichten streng voneinander getrennt. Der Vordergrund erweist sich als einheitlich düstere Grenzzone der Vergänglichkeit und des Todes: eine dunkle frostige Winterlandschaft, die mit Vanitas-Symbolen wie Grabsteinen und -kreuzen, abgestorbenen Sträuchern und verkrüppelten Bäumen besetzt ist. Auch der Kirchbau als Menschenwerk hat letztlich keinen Bestand. Börsch-Supan hat die Eichen als Sinnbilder einer heidnischen Götterwelt und Lebensauffassung gedeutet, die angesichts des Todes in Verzweiflung erstarrt. Eichen erscheinen in Friedrichs Bildern oft in Verbindung mit Hünengräbern, so z. B. im Dresdener Hünengrab im Schnee. Ebenso steht die gotische Ruine für die mittelalterliche, endgültig vergangene Frömmigkeit: Sie muss ersetzt werden durch eine neue Art der Jenseitserwartung, die auf das vertraut, was „nur im Glauben gesehn, und erkannt werden kann“.

Caspar David Friedrich: Hünengrab im Schnee (1807), Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister
Gegen die gespenstische Unruhe der Eichen mit ihrem wilden Wuchs setzt Friedrich den gemessenen Rhythmus des Leichenzuges. Auffällig ist, dass der Sarg gerade nicht zu Grabe getragen wird, sondern unter dem Kreuz hindurch in den nicht näher erkennbaren Hintergrund hinein, dem anbrechenden Tag entgegen. Diese Lichtzone erfasst sowohl den oberen Teil der Kirchenruine mit dem Maßwerkfenster wie auch den oberen Teil der umstehenden Bäume – es ist der Auferstehungsmorgen. Die Sichel des zunehmenden Mondes verwendet Friedrich, so Börsch-Supan, als Symbol für den Gottessohn: Er ist das Licht, das die Nacht des Todes erhellt. Die volle Scheibe zeichnet sich bereits als Verheißung einer helleren Zukunft im ewigen Reich Gottes ab.
Caspar David Friedrich: Ruine Eldena mit Begräbnis (1801); Dresden, Kupferstich-Kabinett

Jacob van Ruisdael: Der Judenfriedhof (um 1660); Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
Als Vorstufe für die Abtei im Eichwald gilt ein Sepia-Blatt, das Friedrich um 1801 angefertigt hat: Es zeigt den Westteil der Klosterkirche Eldena bei Greifswald. Leicht zu übersehen, weil nur sehr klein im Mittelgrund dargestellt, ist eine Prozession mit Sarg, die durch ein Friedhofstor eintritt; die Gruppe der Träger steht gerade in der Toröffnung, sodass sie von ihm gerahmt scheint. Den Hügel im Vordergrund bekrönt ein Kruzifix, vor dem ein Betender kniet. Als „entscheidende Inspirationsquelle“ für Friedrichs Gemälde verweist Reinhard Zimmermann (Zimmermann 2000, S. 217) auf das um 1660 entstandene Bild Der Judenfriedhof von Jacob van Ruisdael (1628–1682), das der Künstler von der Dresdener Gemäldegalerie her kannte: Wie bei Friedrich sind hier Kirchenruine, Friedhof und abgestorbene Eichen als Vanitas-Motive vereint.

 

Literaturhinweise

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel-Verlag, München 41987, S. 82-87;

Grave, Johannes: Caspar David Friedrich. Prestel Verlag, München 2012, S. 162-169;

Hinz, Sigrid (Hrsg.): Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen. Henschel Verlag, Berlin 1984

Scholl, Christian: Bildobjekt und Allegorie – Caspar David Friedrichs Selbstdeutungen zu „Mönch am Meer“, „Abtei im Eichwald“ und „Tetschener Altar“. In: Susanne H. Kolter u.a. (Hrsg.), Forschung 107. Kunstwissenschaftliche Studien Band 1. Herbert Utz Verlag, München 2004, S. 85-122;

Zimmermann, Reinhard: Das Geheimnis des Grabes und der Zukunft. Caspar David Friedrichs „Gedanken“ in den Bilderpaaren. In: Jahrbuch der Berliner Museen 42 (2000), S. 187-257. 

 

(zuletzt bearbeitet am 21. März 2023)