Dienstag, 20. April 2021

Der gelassene Gelehrte – Albrecht Dürers Kupferstich „Hieronymus im Gehäus“ (1514)

Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514);
Kupferstich (für die Großansicht anklicken)
Wenn von Albrecht Dürers „drei Meisterstichen“ die Rede ist, dann sind damit die Kupferstiche Ritter, Tod und Teufel (1513), Hieronymus im Gehäus und Melencolia (beide 1514 entstanden) gemeint. Das fast identische Großformat, die auch von Dürer kaum je wieder erreichte stecherische Präzision und die zeitliche Nähe ihrer Entstehung hat dazu geführt, die drei Grafiken als künstlerische Einheit zu sehen. Nachdem ich Ritter, Tod und Teufel bereits vorgestellt habe (siehe meinen Post „Unbeirrt und furchtlos“), soll es diesmal um den Hieronymus im Gehäus gehen.
Drei rahmende Elemente, die Stufe unten, der Pfeiler links und der gekehlte Balken oben, geben den Blick frei in eine Stube mit Bohlendecke und Sprossenfenstern, durch deren Butzenscheiben weithin mildes Licht fällt. Bautechnisch betrachtet, macht das Zimmer den Eindruck, als sei es nachträglich in ein massives steinernes Gemach eingefügt worden: Die zweite der beiden großen rundbogigen Fensteröffnungen ist gut zur Hälfte zugemauert, da sich hier die hölzerne Rückwand anschließt. Im hinteren Winkel der Stube sitzt der greise Hieronymus in fast kauernder Haltung an einem Holztisch und ist mit der Niederschrift eines Textes in ein dünnes Buch oder Heft befasst. Die mit einfachen, zweckmäßigen Möbeln ausgestattete Studierstube wirkt ruhig und geordnet, erfüllt von einer Atmosphäre stiller Intensität: Schützend umgibt sie den konzentriert arbeitenden Gelehrten, „der in den Hintergrund gerückt und dennoch Hauptperson ist“ (Sonnabend 2007, S. 196).
Die Schwelle des Raumes besetzt der Löwe des Hieronymus. Der Legende nach zog der Kirchenvater dem Raubtier einen Dorn aus der Tatze, worauf es sein Wesen änderte und zum Genossen des Gelehrten wurde. Der Löwe gehört wie der Kardinalshut, der an der Rückwand hängt, zu den Attributen des Hieronymus, an denen er erkannt werden kann. Das Tier, wach oder halbwach „in zufriedener Langeweile vor sich hin dösend“ (Panofsky 1977, S. 206), wirkt recht harmlos – was daran liegen mag, dass Dürer keinen Löwen von Angesicht kannte, als er den Kupferstich schuf. Entstanden ist deswegen eine Art überdimensionaler Hauskatze. Der Hund, der bei dem Löwen liegt, schläft dagegen wirklich tief und fest.
Dürer hat in diesem Kupferstich erstmals die Raumperspektive exakt konstruiert. Ihr Fluchtpunkt liegt etwas außerhalb des rechten Bildrands, deswegen ist die Nordwand des Zimmers nicht zu sehen. Auf diese Weise wirkt das kleine Gemach weniger beengt und kastenartig, und das Spiel von Licht und Schatten auf den Fensterlaibungen links erhält größeres Gewicht. Die Stein- und Tischkanten, Fenstersimse, Deckenbalken und andere gerade Linien, die auf den Fluchtpunkt hinzielen, erzeugen mit dem nach rechts hin weniger abgeschlossenen Bildraum einen Sog, der den Blick des Betrachters von links unweigerlich auf das kahlköpfige Haupt des bärtigen Greises lenkt, das von einem hellen Lichtschein hinterfangen wird. Dürers Wiedergabe des einfallenden Lichts – Sinnbild göttlicher Erleuchtung – ist von Anfang an bewundert worden, ebenso die Perfektion, mit der er als Stecher so verschiedene Materialien wie Stein, gemasertes Holz und Glas nachzuformen imstande war. 
Für die perspektivische Konstruktion des Zimmers wählte Dürer einen tiefen Augenpunkt, durch den der Betrachter nicht auf Hieronymus herab-, sondern eher zu ihm hinaufblickt. Dabei entsteht der Eindruck, als steige der Betrachter eine zum Studierzimmer führende Treppe hinauf und blicke auf die Szene, deren Frieden vom Löwen auf der Schwelle beschützt wird“ (Sonnabend 2007, S. 196).
Seine Lebenszeit läuft ab – Hieronymus ficht das nicht an
Zeigt Dürer Hieronymus eigentlich bei der Übersetzung der Bibel aus dem griechischen Urtext ins Lateinische, die dann als Vulgata vorliegen wird? Denn das gewohnte Nebeneinander verschiedener Folianten als Hinweis auf die Übersetzungsarbeit fehlt – auf dem großen Tisch befinden sich nur ein kleines Schreibpult, ein Tintenfass und ein Kruzifix. Mehr noch, die vier sichtbaren Bücher sind alle verschlossen außer Reichweite des Gelehrten links im Vordergrund abgelegt. Der auffällig platzierte Totenschädel auf der Fensterbank, das Kruzifix am Rand des Tisches und die mächtige Sanduhr an der Rückwand verweisen vielmehr auf das Memento mori als zentrale Aussage des Kupferstichs. „So könnte man den Eindruck gewinnen, als gehe das Lebenswerk des Heiligen seinem Ende entgegen und als bilde einzig der Gekreuzigte den Gegenstand seines Schreibens, der sich für Hieronymus bei jedem innehaltenden Aufblicken in direkter Linie mit dem Totenkopf und den Büchern befände“ (Schauerte 2003, S. 188). 
Dabei ist der Totenschädel für Hieronymus nicht nur ein Hinweis auf die eigene Sterblichkeit – mit dem Kopf ist ebenso der Stammvater Adam gemeint, durch den der Tod in die Welt kam, weil mit ihm und vorgezeichnet von ihm alle Menschen gesündigt haben (Römer 5,12). Christus als der neue oder auch der „zweite“ bzw. der „letzte Adam“ (1. Korinther 15,45, LUT) hat jedoch durch sein stellvertretendes Sterben am Kreuz Erlösung für die Menschheit erwirkt und den Tod damit überwunden. Ulrich Kuder verweist deswegen besonders auf das „kreuzgeteilte Fenster“, durch das das rettende Licht der Erlösung in den Raum dringe. Es trifft auf das Kruzifix, das die Großform des Kreuzes klein wiederholt“ (Kuder 2013, S. 38).
Der prächtige Flaschenkürbis mit seinem großen Blatt und der Korkenzieherranke, der vor dem Einbau am Deckenbalken aufgehängt ist, hat immer wieder besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er gilt vielen Forschern als Anspielung auf einen Gelehrtenstreit: Bei der Übersetzung des Propheten Jona aus dem Hebräischen fand Hieronymus für die in Palästina wachsende Rizinuspflanze kein lateinisches Wort. Er wählte hedera (Efeu) statt wie frühere Übersetzer cucurbita (Kürbis), was Augustinus kritisierte. Ganz anders allerdings deutet Ulrich Kuder den Kürbis: Er sieht in ihm ein Uterussymbol. Die Gebärmutter werde in einschlägigen mittelalterlichen medizinischen Handschriften wie ein Flaschenkürbis dargestellt, dessen Form dem Dürerschen Gewächs sehr nahe komme. Die rundliche Gestalt des Kürbisses scheine ein Licht zu bergen, denn die „Frucht ihres Inneren ist Christus, das Wort Gottes. Er ist es, auf den Hieronymus seine Gedanken richtet, auf das Geheimnis der Inkarnation, der Fleischwerdung des Wortes“ (Kuder 2013, S. 261/262). 
Nach Ansicht von Tobias Leuker wiederum hat Dürer den Kürbis eingefügt, „weil er seit dem Mittelalter wegen seines Reichtums an kühler Flüssigkeit als Heilmittel gegen cholerische Ausbrüche eingestuft wurde“ (Leuker 2001, S. 70). Das Werk des Hieronymus belege ein äußerst reizbares Temperament des Kirchenvaters; sein Jähzorn habe ihn vielen Gläubigen supekt werden lassen. Der Kürbis verweise daher auf die Schattenseiten seines Naturells und diene Hieronymus dazu, seine cholerischen Anfälle zu mildern. „Da Hieronymus sich willig zeigte, sein cholerisches Naturell zu überwinden, wird seine ländliche Zelle vom Licht des Heiligen Geistes durchflutet“ (Leuker 2001, S. 73). Martin Sonnabend erwägt dagegen, ob Jonas schnell erblühende und bald wieder vergehende Pflanze nicht ganz allgemein auf die Vergänglichkeit alles Irdischen anspielt (Sonnabend 2007, S. 196). 
Dass der Kürbis inhaltlich bedeutsam ist, belegt auch ein weiteres Detail: Betrachtet man das darunter am Boden liegende Holztäfelchen mit der berühmten Signatur, dann scheint dies mittels der Ringöse und einer durchgezogenen Schnur ursprünglich dafür gedacht gewesen zu sein, anstelle des Kürbisses am Deckenhaken aufgehängt zu werden. „Wenn dieser wirklich als Ausdruck von des Hieronymus literarisch-philologischem Ingenium zu deuten ist, dann hätte Dürer dieser Tatsache mit der bescheideneren Platzierung seines Monogramms eine versteckte Reverenz erwiesen“ (Schauerte 2013, S. 109). Denn Dürer wusste sein Namensschild durchaus unübersehbar und selbstbewusst im Bild anzubringen, wie sein berühmter Adam und Eva-Kupferstich von 1504 demonstriert (siehe meinen Post Aus Göttern werden Menschen“). Auf dem Hieronymus-Kupferstich liegt die tabula gewissermaßen wie Hund und Löwe zu Füßen des Kirchenvaters. Thomas Schauerte meint, dass sich Dürer auf diese Weise in die Vergänglichkeitsmotivik des Blattes einbezieht. Denn dort am Boden gerät die Signatur, die in ihrer konsequenten Perspektivität fast an die Deckplatte eines Bodengrabes erinnert“ (Schauerte 2013, S. 110), wie auch bei Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel (siehe meinen Post Unbeirrt und furchtlos“) in das augenlose Blickfeld des Totenschädels auf der Fensterbank.
Albrecht Dürer: Adam und Eva (1504); Kupferstich
Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel (1513); Kupferstich
Dürer nennt seinen Kupferstich im Tagebuch seiner Niederländischen Reise 1520/21 mehrfach „Hieronymus im Gehäus“ – vermutlich meinte er „Hieronymus im Haus“, im Gegensatz zu den Darstellungen des Kirchenvaters, die ihn in der Wildnis oder in der Natur zeigen, wie z. B. auf seinem Kupferstich Hieronymus in der Wüste von 1497 (siehe meinen Post „Löwe mit Greis“). Der Nürnberger Meister hat Hieronymus insgesamt sieben Mal in seiner Druckgrafik und in Gemälden dargestellt. Das dürfte vor allem mit der großen Beliebtheit des Kirchenvaters bei den zeitgenössischen Humanisten zusammenhängen: Dürers Freund Willibald Pirckheimer und Erasmus von Rotterdam sahen in ihm das Idealbild des christlichen  Gelehrten. Die Hieronymus-Verehrung wurde im 16. Jahrhundert auch nicht durch die Reformation beeinträchtigt, die die katholischen Heiligen ansonsten entschieden ablehnte. So konnte sich dann im 17. Jahrhundert der holländische Protestant Rembrandt (1606–1669) intensiv mit der Gestalt des Hieronymus beschäftigen und sich dabei auf Dürers Druckgrafiken beziehen (siehe meinen Post
Im Schneckenhaus).
Albrecht Dürer: Hieronymus in der Zelle (1511); Holzschnitt
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Bereits 1511 schuf Dürer der Holzschnitt Hieronymus in der Zelle, der thematisch auf den Hieronymus im Gehäus vorausweist: Der greise Bibelübersetzer mit bis auf die Brust herabreichendem Bart wird von Dürer hier ebenfalls als gebildeter Literat dargestellt, der sich in einem tonnengewölbtem „Studiolo“ seinen Studien widmet. Hieronymus sitzt in der hinteren Ecke des engen Raums an seinem Schreibpult und ist ganz in seine Arbeit vertieft, wobei er seine Gedanken mit einem Federkiel in dem vor ihm aufgeschlagenen Buch festhält. Er trägt seine auf der Sitzbank ausgebreitete Kardinalsrobe, im Vordergrund ruht bildparallel der Löwe, der ihn zu beschirmen scheint. Hieronymus ist umgeben von einem Sammelsurium an Alltagsgegenständen, Büchern, Briefschaften und Schreibhilfen. Das am Schreibpult befestigte kleine Kruzifix sowie der an der Rückwand aufgehängte Rosenkranz dienen der persönlichen Andacht, Sanduhr und erloschene Kerze auf dem Regalbord über seinem Kopf verweisen als Memento mori auf die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins.


Literaturhinweise
Kuder, Ulrich/Luckow, Dirk (Hrsg.): Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürerzeit. Kunsthalle zu Kiel, Kiel 2004, S. 182;
Kuder, Ulrich: Dürers Hieronymus im Gehäus. Der Heilige im Licht. Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2013;
Mende, Michael: Hieronymus im Gehäus, 1514. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 174-178;
Leuker, Tobias: Seliger Friede im Gehäus des Hieronymus. In: Tobias Leuker, Dürer als ikonographischer Neuerer. Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2001, S. 69-75;
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 206-208;
Parshall, Peter W.: Albrecht Dürers St. Jerome in His Study: A Philological Reference. In: The Art Bulletin 53 (1971), S. 303-305;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 188-189;
Schauerte, Thomas: Kürbisfragen. Dürers historisierte Grotesken zwischen Deutung und Decorum. In: Thomas Schauerte u.a. (Hrsg.), Von der Freiheit der Bilder. Spott, Kritik und Subversion in der Kunst der Dürerzeit. Michael Imhof Verlag. Petersberg 2013, S. 92-110;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 418;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 196;
Weis, Adolf: »... diese lächerliche Kürbisfrage ...«. Christlicher Humanismus in Dürers Hieronymusbild. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1982), S. 195-201;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 20. April 2021)

Sonntag, 18. April 2021

Löwe mit Greis – Albrecht Dürers Kupferstich „Hieronymus in der Wüste“ (1497)


Albrecht Dürer: Hieronymus in der Wüste (1497); Kupferstich
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Im grafischen Werk Albrecht Dürers finden sich nicht weniger als sechs Darstellungen des hl. Hieronymus – deutliches Zeichen für die wachsende Verehrung, die dem Kirchenvater im Verlauf  des 15. Jahrhunderts entgegengebracht wurde. Hieronymus hatte das Alte Testament aus dem Hebräischen und das Neue Testament aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen; die daraus hervorgegangene Vulgata wurde zur wichtigsten Bibelübersetzung des Mittelalters – und der Kirchenvater zum bewunderten Vorbild vieler Humanisten. Der hier vorgestellte großformatige Kupferstich von 1497 zeigt jedoch nicht den Gelehrten, den Dürers berühmter Hieronymus im Gehäus von 1514 präsentiert (siehe meinen Post Der gelassene Gelehrte“). Was wir vor uns sehen, ist vielmehr der büßende Eremit: Die Legenda aurea berichtet ausführlich, das sich Hieronymus nach seinen Studien bei Gregor von Nyzanz für vier Jahre als Einsiedler in die Wüste begab, um mit Fasten, Selbstkasteiung und Gebet den Anfechtungen der Welt zu entsagen.
Dürer stellt den hageren Asketen vor den schroffen Wänden einer Felsschlucht in einer kahlen Sandmulde dar. Mit langem Bart und nacktem Oberkörper kniet der weißhaarige Alte vor einem kleinen Kruzifix, das er in einen geborstenen Baumstumpf gesteckt hat. Mit einem Stein in seiner Rechten schlägt er sich bei seiner Meditation über die Passion Christi gegen die Brust. Das strähnig und verfilzt wirkende Haupt- und Barthaar, das den Mund völlig überwachsen hat, zeugt davon, dass der Büßer sein Äußeres bewusst vernachlässigt und körperliche Bedürfnisse gering achtet. Ihm zur Seite ruht – im Maßstab verkleinert – der Löwe, dem er der Legende nach einen Dorn aus der Pranke gezogen hatte und der daraufhin sein treuer Kamerad wurde. Das Tier gehört deswegen zu den Attributen des Heiligen.
Am linken Bildrand erhebt sich eine steile Felswand, rechts ragen in einiger Entfernung, jenseits einer kleinen Meeresbucht, bizarr geformte Klippen aus dem Wasser. Auf ihrem bewaldeten Rücken erscheint über der Gestalt des Büßenden das Dach einer Kapelle, zu der ein von den schroffen Felsen eingefasster Hohlweg hinführt. Rechts außen lassen sich am Horizont eine kleine Insel mit einer Burg und einige Boote erkennen – sie verweisen darauf, wie weit Hieronymus von der Welt der Menschen entfernt ist. Die zerklüfteten Felsen wiederum verdeutlichen, an welch unwirtlich-einsamen Ort sich der Eremit freiwillig begeben hat.
Albrecht Dürer: Der verlorene Sohn bei den Schweinen (1496/97); Kupferstich
Dürers Hieronymus-Kupferstich ist immer wieder mit seinem Verlorenen Sohn (siehe meinen Post „Der Künstler am Schweinetrog“) verglichen und zeitlich in dessen Nähe gerückt worden: „In beiden Fällen ist eine kniende Büßerfigur in ein nahräumliches Ambiente eingefügt, das auf detaillierten Naturstudien basiert und die Bildwirkung dominierend mitbestimmt“ (Schoch 2000, S. 38). Dürer scheint verschiedene Naturstudien, die vermutlich in den Steinbrüchen des Schmausenbuck in der Umgebung Nürnbergs entstanden sind, für seinen Kupferstich verwendet zu haben.
Albrecht Dürer: Das Meerwunder (1498); Kupferstich
Albrecht Dürer: Buße des Johannes Chrysostomos (1497); Kupferstich
Albrecht Dürer: Sonne der Gerechtigkeit (1499/1500); Kupferstich
Formal steht Dürers Hieronymus in der Wüste aber auch noch mit anderen frühen grafischen Arbeiten in Verbindung. So ähnelt der Kopf des Kirchenvaters dem Unhold aus dem Meerwunder (siehe meinen Post „Geraubte Schönheit“), die Felsformationen denen der Buße des Johannes Chrysostomos und der Löwe dem der Sonne der Gerechtigkeit.
Hans Baldung Grien: Hieronymus als Büßer in einer Schlucht
(1511); Holzschnitt
Hans Baldung Grien: Hieronymus als Büßer in der Wildnis
(1511); Holzschnitt
Hans Baldung Grien: Hieronymus in der Wüste (1511); Holzschnitt
Hans Baldung Grien (1484–1545), von 1503 bis 1506 Werkstatt-Mitarbeiter von Dürer, schuf um 1511 drei Holzschnitte, die sich erkennbar auf den Kupferstich von 1497 beziehen. Insbesondere Hieronymus als Büßer in einer Schlucht deutet durch seine bizarren Felsformationen auf eine Auseinandersetzung mit dem Dürer-Blatt hin. Baldung verstärkt auf seiner Komposition die bei Dürer angelegte Idee, dass die Felsen den Büßer regelrecht als Wände umschließen. Er integriert die Felsen in eine lebendig-bewegte Wildnis, die den Eremiten zu überwuchern droht. Auch auf Baldungs Holzschnitt ist Hieronymus auf eine Achse mit einer auf Fels gebauten Kirche gesetzt, jedoch sind beide in die Mitte des Bildes gerückt und eine aufgeschlagene Bibel hinzugefügt. Arbeitet bereits Dürer mit der bei den Kirchenvätern verbreiteten Metaphorik des Felsens als Sinnbild der christlichen Standfestigkeit gegenüber den weltlichen Anfechtungen, wird sie von Baldung nochmals zugespitzt. Die entwurzelten und schwankenden Bäume erscheinen dagegen als sinnbildliches Gegenstück zu den unverrückbaren Felsen.

Albrecht Dürer: Hieronymus neben dem Weidenbaum (1512), Kaltnadelradierung
Aus dem Jahr 1512 stammt eine Kaltnadelradierung, auf der Dürer den Typus des büßenden Hieronymus in der Wildnis und des gelehrten Bibelübersetzers kombiniert: Der bärtige Eremit ist hier in eine schroffe Felskulisse versetzt; sein Kopf ähnelt erkennbar dem des frühen Kupferstichs von 1497. Hieronymus hat sich an einem schattigen Platz zwischen Felswänden und einer Kopfweide seine Klause eingerichtet. Auf einem rohen, in Untersicht wiedergegebenen Brett, das ihm als Tisch dient, sind Kardinalshut und -mantel, das Schreibzeug, ein aufgeschlagenes Buch und ein kleines Kruzifix verteilt. Ein schmaler Felsspalt gibt den Blick auf eine ferne Stadt am Wasser frei. Während sich Hieronymus mit gefalteten Händen dem Kruzifix zuwendet, schläft der Löwe an einer Quelle zu seinen Füßen.

Literaturhinweise
Jacob-Friesen, Holger (Hrsg.): Hans Baldung Grien. heilig | unheilig. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2019, S. 112-113 und 300-301;
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 46;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 190-191; 
Schoch, Rainer: Der heilige Hieronymus in der Wüste/Der heilige Hieronymus neben dem Weidenbaum. In: Mende, Matthias/Schoch, Rainer (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 38-39 und 158-160;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 212-217;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 41.

(zuletzt bearbeitet am 18. April 2021) 

Samstag, 17. April 2021

Der melancholische Menschensohn – Albrecht Dürers „Christus als Schmerzensmann“

Albrecht Dürer: Christus als Schmerzensmann (1493/94);
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
(für die Großansicht einfach anklicken)
Im Frühjahr 1490 brach der 19-jährige Albrecht Dürer (1471–1528) zu einer Gesellenwanderung auf, die ihn für vier Jahre von seiner Heimatstadt wegführte. Der genaue Verlauf seiner Reise ist zwar unbekannt, doch gilt als sicher, dass er zumindest die zweite Hälfte dieser Zeit am Oberrhein verbrachte. Der Humanist Christoph Scheurl (1481–1542) berichtet, Dürer habe 1492 in Colmar die Werkstatt des kurz zuvor verstorbenen Malers und Kupferstechers Martin Schongauer (1448–1491) besucht und sei von den Brüdern des Meisters freundlich aufgenommen worden. Danach dürfte Dürer nach Basel aufgebrochen sein, wo er wahrscheinlich als Illustrator für den florierenden Buchdruck tätig war. Für 1493/94 vermutet man einen Aufenthalt in Straßburg. Hier dürfte das kleinformatige (30,1 x 18,8 cm), heute in Karlsruhe aufbewahrte Andachtsbild entstanden sein, das Christus als Schmerzensmann zeigt. Es ist neben dem Pariser Selbstbildnis von 1493 das einzige erhaltene Gemälde aus Dürers Straßburger Zeit.

Albrecht Dürer: Selbstporträt (1493); Paris, Louvre

Christus erscheint wie in einer Vision als der am Kreuz Gestorbene – die blutigen Wunden an Kopf, Rumpf und Händen sind deutlich betont –, zugleich aber auch als lebendig, als Auferstandener. Er ist in die vorderste Bildebene gerückt, ganz nah an den Betrachter heran. Der Erlöser hat sich aus seinem Sarkophag aufgerichtet (so darf man die Steinbrüstung vor ihm wohl deuten), dessen Rand den vorderen Abschluss des Gemäldes bildet. Das weiße Leichentuch um die Hüfte gewickelt und das Gesicht in die rechte Hand gelegt, blickt er uns aus großen Augen intensiv an. Der Ellenbogen stützt sich auf das angewinkelte rechte Bein; Jesu linker Arm hängt scheinbar völlig kraftlos herab, die Hand ruht, nach oben geöffnet, auf dem Sarkophagrand. Der bläuliche, durch den Goldgrund spitzbogig begrenzte und um die Figur aufgehellte Hintergrund mag als Eingang zur Grabeshöhle interpretiert werden; die räumliche Anordnung bleibt allerdings unklar. An Folter und Verspottung erinnern das Rutenbündel, die blutige Geißel und die Dornenkrone auf Christi Haupt. Ein zarter Strahlennimbus betont die Göttlichkeit Jesu.

Die punzierte Darstellung auf dem Goldgrund bezieht sich symbolisch ebenfalls auf die Passion Christi: Man erkennt hier stilisierte, sich verflechtende Distelranken und eine von anderen Vögeln attackierte Eule mit aufgerissenem Schnabel: Die Augen vor Angst geweitet, sträubt sie ihre Kopffedern; in einen Ast verkrallt, erwehrt sie sich mit ausgespreizten Flügeln ihrer von beiden Seiten angreifenden Peiniger. Das Tier steht für den schuldlos verfolgten Jesus und seine Einsamkeit angesichts des Todes (in Anlehnung an Psalm 102,7). Der als Goldschmied ausgebildete Dürer dürfte die Punzierung in den mit Blattgold ausgelegten Hintergrund selbst ausgeführt haben.

Martin Schongauer: Schmerzensmann zwischen Maria und Johannes
(um 1475); Kupferstich
Hans Leinberger: Christus im Elend (um 1525);
Berlin, Bode-Museum
Körperbau, Physiognomie, Haut, Adern, Muskeln und Falten, die Dornenzweige und Haare, der marmorierte, vom Blut befleckte Sarkophagrand – all das ist mit großer Realitätsnähe und technischer Meisterschaft wiedergegeben. Dennoch steht Dürer noch erkennbar in der spätmittelalterlichen Darstellungstradition: Das zeigen die verschobenen Größenverhältnisse des Körpers, der vergleichweise große Kopf, aber auch der Gegensatz zwischen dem schmächtigen Oberkörper und den langen muskulösen Armen mit den auffallend großen Händen. Ein Stich des von Dürer verehrten Schongauer, der den Schmerzensmann zwischen Maria und Johannes zeigt, hat wahrscheinlich als Anregung gedient: Die spitzbogige Umrahmung sowie Körper und Gesicht Christi sind verwandt, wenn auch von Dürer umgeformt. Vor allem verknüpft Dürer seinen Schmerzensmann mit einem ikonographischen Typus, den man „Christus in der Rast“ oder „Christus im Elend“ nennt: Er zeigt den Gottessohn, der sich vor der Kreuzigung erschöpft niederlässt und den Kopf melancholisch in die stützende Hand legt, einsam und traurig über die Bos- und Sündhaftigkeit der Menschen nachsinnend.

Albrecht Dürer: Selbstporträt mit Binde (1492; Zeichnung); Erlangen, Universitätsbibliothek
Albrecht Dürer: Ruhe auf der Flucht (1492/93, Zeichnung); Berlin, Kupferstichkabinett
Bei Dürer kommt der überaus intensive Betrachterbezug hinzu, „der durchdringende, suggestive Blick, der den Gläubigen zu Mitleid und moralischer Umkehr ermahnt und bis heute wesentlich zur ergreifenden Wirkung des Gemäldes beiträgt“ (Jacob-Friesen 2019, S. 124). Der Betrachter soll dieses für die persönliche Andacht bestimmte Bild zum einen nutzen, um über die Passion Christi nachzusinnen, seine Leiden nachzuempfinden („compassio“) und zu erkennen, dass all dies wegen seiner eigenen Schlechtigkeit geschehen ist. Es geht Dürer zum anderen auch um „imitatio“ im Sinne der Nachfolge Christi. Dazu verlieh er dessen Antlitz seine eigenen Gesichtszüge, wie ein Vergleich mit dem Erlanger Selbstbildnis von 1492 deutlich macht. 

Albrecht Dürer: Titelblatt der Kleinen Passion (1511); Holzschnitt
Albrecht Dürer: Melencolia I (1514); Kupferstich
Niclaus Gerhaert: Büste eines sinnenden Mannes (um 1467);
Straßburg,  Musée de l’Œuvre Notre-Dame
Nicht nur bereits auf diesem frühen Selbstporträt hat Dürer den Denk- und Leidensgestus ins Bild gesetzt, sondern auch in einer ebenfalls um 1492/93 geschaffenen Federzeichnung, auf der die Ruhe auf der Flucht zu sehen ist. Auf dem Titelblatt der 1511 veröffentlichten, Kleine Passion genannten Holzschnittfolge wird er ihn dann erneut aufgreifen und 1514 nochmals in einem seiner berühmtesten Kupferstiche: der Melencolia I. Reinhold Recht hat als wichtige Inspiration für diese Pose auf die Büste eines sinnenden Mannes von Niclaus Gerhaert (1420–1473) verwiesen. Dürer dürfte die Sandsteinskulptur mit dem expressiv in die Hand gelegten Haupt (hinter der ein Selbstbildnis des niederländischen Bildhauers vermutet wird) in Straßburg gesehen haben, wo sie entstanden und heute im Musée de l’Œuvre Notre-Dame ausgestellt ist.

 

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010; S. 76;

Eissenhauer, Michael (Hrsg.): Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2021, S. 350;

Hess, Daniel: Albrecht Dürer, Christus als Schmerzensmann. In: Klaus Albrecht Schröder/Maria Luise Sternath (Hrsg.), Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz  Verlag, Ostfildern 2003, S. 128;

Hess, Daniel: Der Karlsruher Schmerzenmann. In: Daniel Hess/Thomas Eser, Der frühe Dürer. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2012, S. 508;

Jacob-Friesen, Holger: Albrecht Dürer, Christus als Schmerzensmann. In: Holger Jacob-Friesen (Hrsg.), Hans Baldung Grien. heilig | unheilig. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2019, S. 122-124;

Kutschke, Adela: Albrecht Dürer, Christus als Schmerzensmann. In: In: Jochen Sander (Hrsg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext. Prestel Verlag, München 2013, S. 70;

Moraht-Fromm, Anna: Albrecht Dürer, Christus als Schmerzensmann. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 371-373;

Recht, Reinhold: Nicolas de Leyde et la sculpture à Strasbourg (1460–1525). Presses universitaires de Strasbourg, Straßburg 1987;

Roth, Michael: Albrecht Dürer und Straßburg. In: Daniel Hess/Thomas Eser, Der frühe Dürer. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2012, S. 39-51.

 

(zuletzt bearbeitet am 3. April 2022)