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Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514);
Kupferstich (für die Großansicht anklicken) |
Wenn von Albrecht Dürers „drei Meisterstichen“ die Rede ist, dann sind damit die Kupferstiche Ritter, Tod und Teufel (1513), Hieronymus im Gehäus und Melencolia (beide 1514 entstanden) gemeint. Das fast identische Großformat, die auch von Dürer kaum je wieder erreichte stecherische Präzision und die zeitliche Nähe ihrer Entstehung hat dazu geführt, die drei Grafiken als künstlerische Einheit zu sehen. Nachdem ich Ritter, Tod und Teufel bereits vorgestellt habe (siehe meinen Post „Unbeirrt und furchtlos“), soll es diesmal um den Hieronymus im Gehäus gehen.
Drei rahmende Elemente, die Stufe unten, der Pfeiler links und der gekehlte Balken oben, geben den Blick frei in eine Stube mit Bohlendecke und Sprossenfenstern, durch deren Butzenscheiben weithin mildes Licht fällt. Bautechnisch betrachtet, macht das Zimmer den Eindruck, als sei es nachträglich in ein massives steinernes Gemach eingefügt worden: Die zweite der beiden großen rundbogigen Fensteröffnungen ist gut zur Hälfte zugemauert, da sich hier die hölzerne Rückwand anschließt. Im hinteren Winkel der Stube sitzt der greise Hieronymus in fast kauernder Haltung an einem Holztisch und ist mit der Niederschrift eines Textes in ein dünnes Buch oder Heft befasst. Die mit einfachen, zweckmäßigen Möbeln ausgestattete Studierstube wirkt ruhig und geordnet, erfüllt von einer Atmosphäre stiller Intensität: Schützend umgibt sie den konzentriert arbeitenden Gelehrten, „der in den Hintergrund gerückt und dennoch Hauptperson ist“ (Sonnabend 2007, S. 196).
Die Schwelle des Raumes besetzt der Löwe des Hieronymus. Der Legende nach zog der Kirchenvater dem Raubtier einen Dorn aus der Tatze, worauf es sein Wesen änderte und zum Genossen des Gelehrten wurde. Der Löwe gehört wie der Kardinalshut, der an der Rückwand hängt, zu den Attributen des Hieronymus, an denen er erkannt werden kann. Das Tier, wach oder halbwach „in zufriedener Langeweile vor sich hin dösend“ (Panofsky 1977, S. 206), wirkt recht harmlos – was daran liegen mag, dass Dürer keinen Löwen von Angesicht kannte, als er den Kupferstich schuf. Entstanden ist deswegen eine Art überdimensionaler Hauskatze. Der Hund, der bei dem Löwen liegt, schläft dagegen wirklich tief und fest.
Dürer hat in diesem Kupferstich erstmals die Raumperspektive exakt konstruiert. Ihr Fluchtpunkt liegt etwas außerhalb des rechten Bildrands, deswegen ist die Nordwand des Zimmers nicht zu sehen. Auf diese Weise wirkt das kleine Gemach weniger beengt und kastenartig, und das Spiel von Licht und Schatten auf den Fensterlaibungen links erhält größeres Gewicht. Die Stein- und Tischkanten, Fenstersimse, Deckenbalken und andere gerade Linien, die auf den Fluchtpunkt hinzielen, erzeugen mit dem nach rechts hin weniger abgeschlossenen Bildraum einen Sog, der den Blick des Betrachters von links unweigerlich auf das kahlköpfige Haupt des bärtigen Greises lenkt, das von einem hellen Lichtschein hinterfangen wird. Dürers Wiedergabe des einfallenden Lichts – Sinnbild göttlicher Erleuchtung – ist von Anfang an bewundert worden, ebenso die Perfektion, mit der er als Stecher so verschiedene Materialien wie Stein, gemasertes Holz und Glas nachzuformen imstande war.
Für die perspektivische Konstruktion des Zimmers wählte Dürer einen tiefen Augenpunkt, durch den der Betrachter nicht auf Hieronymus herab-, sondern eher zu ihm hinaufblickt. Dabei entsteht der Eindruck, als steige der Betrachter eine zum Studierzimmer führende Treppe hinauf und blicke auf die Szene, „deren Frieden vom Löwen auf der Schwelle beschützt wird“ (Sonnabend 2007, S. 196).
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Seine Lebenszeit läuft ab – Hieronymus ficht das nicht an |
Zeigt Dürer Hieronymus eigentlich bei der Übersetzung der Bibel aus dem griechischen Urtext ins Lateinische, die dann als Vulgata vorliegen wird? Denn das gewohnte Nebeneinander verschiedener Folianten als Hinweis auf die Übersetzungsarbeit fehlt – auf dem großen Tisch befinden sich nur ein kleines Schreibpult, ein Tintenfass und ein Kruzifix. Mehr noch, die vier sichtbaren Bücher sind alle verschlossen außer Reichweite des Gelehrten links im Vordergrund abgelegt. Der auffällig platzierte Totenschädel auf der Fensterbank, das Kruzifix am Rand des Tisches und die mächtige Sanduhr an der Rückwand verweisen vielmehr auf das Memento mori als zentrale Aussage des Kupferstichs. „So könnte man den Eindruck gewinnen, als gehe das Lebenswerk des Heiligen seinem Ende entgegen und als bilde einzig der Gekreuzigte den Gegenstand seines Schreibens, der sich für Hieronymus bei jedem innehaltenden Aufblicken in direkter Linie mit dem Totenkopf und den Büchern befände“ (Schauerte 2003, S. 188).
Dabei ist der Totenschädel für Hieronymus nicht nur ein Hinweis auf die eigene Sterblichkeit – mit dem Kopf ist ebenso der Stammvater Adam gemeint, durch den der Tod in die Welt kam, weil mit ihm und vorgezeichnet von ihm alle Menschen gesündigt haben (Römer 5,12). Christus als der neue oder auch der
„zweite“ bzw. der „letzte Adam“ (1. Korinther 15,45, LUT) hat jedoch durch sein stellvertretendes Sterben am Kreuz Erlösung für die Menschheit erwirkt und den Tod damit überwunden. Ulrich Kuder verweist deswegen besonders auf das „kreuzgeteilte Fenster“, durch das das rettende Licht der Erlösung in den Raum dringe. Es trifft auf das Kruzifix, „das die Großform des Kreuzes klein wiederholt“ (Kuder 2013, S. 38).
Der
prächtige Flaschenkürbis mit seinem großen Blatt und der
Korkenzieherranke, der vor dem Einbau am Deckenbalken aufgehängt ist,
hat immer wieder besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er gilt
vielen Forschern als Anspielung auf einen Gelehrtenstreit: Bei der
Übersetzung des Propheten Jona aus dem Hebräischen fand Hieronymus für
die in Palästina wachsende Rizinuspflanze kein lateinisches Wort. Er
wählte hedera (Efeu) statt wie frühere Übersetzer cucurbita
(Kürbis), was Augustinus kritisierte. Ganz anders allerdings deutet
Ulrich Kuder den Kürbis: Er sieht in ihm ein Uterussymbol. Die
Gebärmutter werde in einschlägigen mittelalterlichen medizinischen
Handschriften wie ein Flaschenkürbis dargestellt, dessen Form dem
Dürerschen Gewächs sehr nahe komme. Die rundliche Gestalt des Kürbisses
scheine ein Licht zu bergen, denn die „Frucht
ihres Inneren ist Christus, das Wort Gottes. Er ist es, auf den
Hieronymus seine Gedanken richtet, auf das Geheimnis der Inkarnation,
der Fleischwerdung des Wortes“ (Kuder 2013, S. 261/262).
Nach Ansicht von Tobias Leuker wiederum hat Dürer den Kürbis eingefügt, „weil er seit dem Mittelalter wegen seines Reichtums an kühler Flüssigkeit als Heilmittel gegen cholerische Ausbrüche eingestuft wurde“ (Leuker 2001, S. 70). Das Werk des Hieronymus belege ein äußerst reizbares Temperament des Kirchenvaters; sein Jähzorn habe ihn vielen Gläubigen supekt werden lassen. Der Kürbis verweise daher auf die Schattenseiten seines Naturells und diene Hieronymus dazu, seine cholerischen Anfälle zu mildern. „Da Hieronymus sich willig zeigte, sein cholerisches Naturell zu überwinden, wird seine ländliche Zelle vom Licht des Heiligen Geistes durchflutet“ (Leuker 2001, S. 73). Martin Sonnabend erwägt dagegen, ob Jonas’
schnell erblühende und bald wieder vergehende Pflanze nicht ganz allgemein auf die Vergänglichkeit alles Irdischen anspielt (Sonnabend 2007, S. 196).
Dass der Kürbis inhaltlich bedeutsam ist, belegt auch ein weiteres Detail: Betrachtet man das darunter am Boden liegende Holztäfelchen mit der berühmten Signatur, dann scheint dies mittels der Ringöse und einer durchgezogenen Schnur ursprünglich dafür gedacht gewesen zu sein, anstelle des Kürbisses am Deckenhaken aufgehängt zu werden. „Wenn dieser wirklich als Ausdruck von des Hieronymus literarisch-philologischem Ingenium zu deuten ist, dann hätte Dürer dieser Tatsache mit der bescheideneren Platzierung seines Monogramms eine versteckte Reverenz erwiesen“ (Schauerte 2013, S. 109). Denn Dürer wusste sein Namensschild durchaus unübersehbar und selbstbewusst im Bild anzubringen, wie sein berühmter Adam und Eva-Kupferstich von 1504 demonstriert (siehe meinen Post „Aus Göttern werden Menschen“). Auf dem Hieronymus-Kupferstich liegt die tabula gewissermaßen wie Hund und Löwe zu Füßen des Kirchenvaters. Thomas Schauerte meint, dass sich Dürer auf diese Weise in die Vergänglichkeitsmotivik des Blattes einbezieht. Denn dort am Boden gerät die Signatur, „die in ihrer konsequenten Perspektivität fast an die Deckplatte eines Bodengrabes erinnert“ (Schauerte 2013, S. 110), wie auch bei Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel (siehe meinen Post „Unbeirrt und furchtlos“) in das augenlose Blickfeld des Totenschädels auf der Fensterbank.
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Albrecht Dürer: Adam und Eva (1504); Kupferstich
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Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel (1513); Kupferstich
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Dürer nennt seinen Kupferstich im Tagebuch seiner Niederländischen Reise 1520/21 mehrfach „Hieronymus im Gehäus“ – vermutlich meinte er „Hieronymus im Haus“, im Gegensatz zu den Darstellungen des Kirchenvaters, die ihn in der Wildnis oder in der Natur zeigen, wie z. B. auf seinem Kupferstich Hieronymus in der Wüste von 1497 (siehe meinen Post „Löwe mit Greis“). Der Nürnberger Meister hat Hieronymus insgesamt sieben Mal in seiner Druckgrafik und in Gemälden dargestellt. Das dürfte vor allem mit der großen Beliebtheit des Kirchenvaters bei den zeitgenössischen Humanisten zusammenhängen: Dürers Freund Willibald Pirckheimer und Erasmus von Rotterdam sahen in ihm das Idealbild des christlichen Gelehrten. Die Hieronymus-Verehrung wurde im 16. Jahrhundert auch nicht durch die Reformation beeinträchtigt, die die katholischen Heiligen ansonsten entschieden ablehnte. So konnte sich dann im 17. Jahrhundert der holländische Protestant Rembrandt (1606–1669) intensiv mit der Gestalt des Hieronymus beschäftigen und sich dabei auf Dürers Druckgrafiken beziehen (siehe meinen Post „Im Schneckenhaus“).
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Albrecht Dürer: Hieronymus in der Zelle (1511); Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)
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Bereits 1511
schuf Dürer der Holzschnitt Hieronymus in
der Zelle, der thematisch auf den Hieronymus
im Gehäus vorausweist: Der greise Bibelübersetzer mit bis auf die Brust
herabreichendem Bart wird von Dürer hier ebenfalls als gebildeter Literat
dargestellt, der sich in einem tonnengewölbtem „Studiolo“ seinen Studien
widmet. Hieronymus sitzt in der hinteren Ecke des engen Raums an seinem Schreibpult
und ist ganz in seine Arbeit vertieft, wobei er seine Gedanken mit einem
Federkiel in dem vor ihm aufgeschlagenen Buch festhält. Er trägt seine auf der
Sitzbank ausgebreitete Kardinalsrobe, im Vordergrund ruht bildparallel der
Löwe, der ihn zu beschirmen scheint. Hieronymus ist umgeben von einem
Sammelsurium an Alltagsgegenständen, Büchern, Briefschaften und Schreibhilfen.
Das am Schreibpult befestigte kleine Kruzifix sowie der an der Rückwand
aufgehängte Rosenkranz dienen der persönlichen Andacht, Sanduhr und erloschene
Kerze auf dem Regalbord über seinem Kopf verweisen als Memento mori auf die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins.
Literaturhinweise
Kuder, Ulrich/Luckow, Dirk (Hrsg.): Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürerzeit. Kunsthalle zu Kiel, Kiel 2004, S. 182;
Kuder, Ulrich: Dürers
„Hieronymus im Gehäus“. Der Heilige im Licht. Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2013;
Mende, Michael: Hieronymus im Gehäus, 1514. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das
druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag,
München 2000, S. 174-178;
Leuker, Tobias: Seliger Friede im Gehäus des Hieronymus. In: Tobias Leuker, Dürer als ikonographischer Neuerer. Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2001, S. 69-75;
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 206-208;
Parshall, Peter W.: Albrecht Dürer’s St. Jerome in His Study: A Philological Reference. In: The Art Bulletin 53 (1971), S. 303-305;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 188-189;
Schauerte, Thomas: Kürbisfragen. Dürers „historisierte Grotesken“ zwischen Deutung und Decorum. In: Thomas
Schauerte u.a. (Hrsg.), Von der Freiheit der Bilder. Spott, Kritik und Subversion in der
Kunst der Dürerzeit. Michael Imhof Verlag. Petersberg 2013, S. 92-110;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 418;
Sonnabend,
Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel
Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 196;
Weis, Adolf: »... diese lächerliche Kürbisfrage ...«. Christlicher Humanismus in Dürers Hieronymusbild. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1982), S. 195-201;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 20. April 2021)