Sonntag, 18. Dezember 2022

Noch ist nichts entschieden – Rembrandts „Ecce homo“-Radierung von 1655

Rembrandt: Ecce homo (1655, erster Zustand); Kaltnadel-Radierung
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Alle vier Evangelien überliefern die meist als „Ecce homo“ bezeichnete Szene, in der es nach der Gefangennahme Jesu am Ölberg darum geht, gerichtlich über seine Schuld oder Unschuld zu befinden. Dazu wurde der Messias zunächst zu den Hohepriestern Hannas und Kaiphas gebracht, die ihn aber dem römischen Statthalter Pontius Pilatus übergaben. In dessen Gerichtspalast wurde Jesus befragt, verspottet, misshandelt und schließlich zum Tod am Kreuz verurteilt, mit einer Dornenkrone gekrönt und in einen purpurnen Mantel gehüllt. Die genaue Abfolge dieser Ereignisse variiert in den Evangelien. Nur im Johannes-Evangelium findet sich der Satz „Ecce homo“ („Sehet, welch ein Mensch!“). Pilatus spricht ihn, als er den Gefangenen, an dem er keine Schuld erkennen kann, nach der Dornenkrönung herausbringt, um ihn dem Volk zu zeigen (Johannes 19,4-6).

In seiner Kaltnadel-Radierung von 1655 (35,4 x 43,3 cm) versetzt Rembrandt das Geschehen vor und in eine stattliche Architektur, deren Seitenflügel einen ungepflasterten Platz einschließen. In diesem Hof des Gerichtspalastes hat sich eine bunte, friesartige aufgereihte Menschenmenge versammelt – Alte, Junge, Männer, Frauen und Kinder, bewaffnete, fesch und ärmlich gekleidete Personen – , um an dem Schauspiel teilzunehmen, das sich auf der erhöhten Tribüne darbietet. Dort oben präsentiert ihnen Pilatus, ein würdiger älterer Turbanträger, mit gelassener Geste den gefesselten Jesus als Gefangenen. Dieser ist mit einem Lendenschurz bekleidet; ein Mantel hängt an seinem Rücken herab und bedeckt kaum eine Schulter. Schweigsam steht er da, in duldender Haltung, den Blick gesenkt.

Das unten versammelte Volk steht dicht gedrängt, und auch in den Fenstern des Palastes versuchen Zuschauer, einen Blick auf das Spektakel zu erhaschen. Alle Figuren sind animiert; die Menschen drehen und wenden sich, wobei ihre Gesten insgesamt gemäßigt erscheinen; es finden sich keine Fratzen, keiner scheint laut zu schreien. Die Menge wirkt eher neugerig als boshaft und verblendet. Auf der linken Seite deutet ein mondäner Mann mit Federhut mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Gefangenen, ein alter hat gleichfalls die linke Hand erhoben, ein anderer den Hut gelüpft, als grüße er die oben auf dem Podest stehende Gruppe.

Rembrandt: Hundertguldenblatt (um 1647/48 fertiggestellt); Radierung
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Frauen und Kinder sind nur von hinten zu sehen. Die Menschen tragen wie auch in anderen Szenen auf Rembrandts Radierungen zeitgenössische Kleidung. Viele erinnern an Figuren aus dem Hundertguldenblatt (siehe meinen Post „Christi Worte werden Bild“), ohne dass identische Modelle auszumachen wären. Ein alter Mann rechts, dessen dramatischer Schatten auf die Wand fällt, weist zaghaft nach oben, als hoffe er, Jesus als Heilsbringer berühren zu können. Ruhig und unaufgeregt wirken ebenso die rechts außen versammelten Personen. Eine Mutter kümmert sich um ihr Baby, andere hören zu, auch solche mit Turban wie auf dem Podest von Pilatus. Die bewaffneten Soldaten stehen abwartend da. Ihre Lanzen fest im Griff, scheinen sie die Situation eher mit Interesse als mit Aggressivität zu verfolgen.

Rembrandt: Ecce homo (1635); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Frühere Ecce-homo-Darstellungen zeigen oft das aufgebrachte Volk, dass auch ohne Belege für Jesu Schuld unerbittlich dessen Kreuzigung fordert. Das gilt auch für Rembrandts eigene Radierung von 1635, in der er die Szene in dramatischer Schrägsicht zeigt. Christus trägt die Dornenkrone und blickt wie hilfesuchend zum Himmel, um die Schultern das purpurne Gewand. Ein Hohepriester versucht die wütende Menge zu beschwichtigen. So hatte sich schon Lucas van Leyden (1494–1533) 1510 dem Thema genähert: Die Menschen stehen unten und recken empört die Hände in die Luft. Auch wenn die Situation noch nicht außer Kontrolle geraten ist, vermitteln die Gesten Leidenschaft, die Volksmenge ist übermächtig, die Figuren in vorderster Reihe erscheinen riesenhaft im Vergleich zu dem kleinen, weiter hinten im Bild stehenden Christus.

Auf der Grundlage dieser Komposition gestaltete Rembrandt in seiner 20 Jahre später entstandenen Kaltnadel-Radierung eine ganz neue, andere Interpretation der Passionsszene: Er beruhigt die dramatische Situation und verleiht dem gefesselten Christus statuarische Würde. Als Vorbild für Duldsamkeit fordert er unsere Bewunderung und Empathie. Gleichzeitig schafft Rembrandt eine Atmosphäre beklemmender Ausweglosigkeit, indem er den Betrachterblick auf die Palastfassade verengt und anders als Lucas van Leyden darauf verzichtet, den Himmel zu zeigen.

Lucas van Leyden: Ecce homo (1510); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Auch der Skulpturenschmuck ist ähnlich angelegt und unterscheidet sich scheinbar kaum von den verhalten agierenden Figuren. Links steht die Herme der Justitia, die Personifikation der Gerechtigkeit mit einer Waage, die Augen verbunden als Hinweis darauf, dass das Gesetz, das im Gerichtspalast walten soll, unparteiisch ist. Oder ist Justitia blind angesichts des Unrechts, das unten seinen Lauf nehmen wird? Rechts steht Herkules mit dem Löwenfell und der Keule als Verkörperung von Stärke. Auch er ist mit aufgestütztem Arm abwartend gezeigt.

Zwischen Pilatus und Christus erscheint eine ausgemergelte Gestalt mit grobschlächtigem Kopf in einem Büßerhemd. Bei dieser Figur in der  Mittelachse des Bildes dürfte es sich um Barrabas handeln, den gefangenen Räuber, den das Volk statt Jesus auf freiem Fuß sehen will, und der gemäß der Evangelien freikommt, während Christus gekreuzigt werden wird (Lukas 23,13-25). Die drei Figuren kontrastieren mit der dunklen Toröffnung hinter ihnen und werden so – trotz des Gedränges unter dem Podest  – deutlich als Hauptgruppe hervorgehoben. Links neben ihnen steht ein junger Mann mit gesenktem Blick, ein Diener, der in seiner rechten Hand einen Krug und in der linken eine flache Waschschüssel hält. Diese Gestalt weist voraus auf eine spätere Szene, die im Matthäus-Evangelium geschildert wird: „Da aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern das Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen; seht ihr zu!“ (Matthäus 27,24; LUT).

Nur bei Matthäus wird auch die Frau des Pilatus erwähnt, von der einige Verse zuvor die Rede ist: „Und als er auf dem Richterstuhl saß, schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinetwillen“ (Matthäus 27,19; LUT). Bei der prächtig gekleideten Dame oben links im Fenster, die scheinbar emotionslos zuschaut, dürfte es sich um die Frau des Pilatus handeln. Sie wird gerade von einem Boten verlassen, der dem Gemahl von ihrem unheilvollen Traum berichten soll.

Anders als in seiner Radierung von 1635 und im Unterschied zu Lucas van Leyden illustriert Rembrandt also nicht den „Ecce homo“-Ausspruch des Pilatus, dem der Schrei des Volkes nach der Kreuzigung Jesu folgte. Jesus ist ist in Rembrandt Grafik von 1655 noch nicht gegeißelt und dornengekrönt, sondern barhäuptig. Es wird noch um ihn verhandelt, noch ist nichts entschieden. Rembrandt zeigt den Heiland ohne besonderes Attribut, das ihn als Sohn Gottes auswiese – ohne Krone und ohne Nimbus. „Er ist hier als Inbegriff eines Menschen gezeigt, über den verfügt wird, und der alle zu Unrecht Angeklagten repräsentiert“ (Buck 2022, S. 243).

Raffael: Die Schule von Athen (1510/11, Ausschnitt); Vatikan, Stanza della Segnatura
Als Rahmen für die nachdenkliche, stärker beruhigte Umsetzung der Szene entschied sich Rembrandt für eine bildparallel gestellte, symmetrische Architekturkulisse, die die Figuren wie ein Bühnenbild hinterfängt. Die beklemmend wuchtige Fassade entfaltet ihre monumentale Wirkung auch dadurch, dass die Darstellung in leichter Untersicht ausgeführt ist. Rembrandt verzichtet völlig auf die Tiefenwirkung des Bauwerks auf van Leydens Grafik; er arbeitet stattdessen mit ungestalteten Wandflächen und fasst die Gruppen kompakt zusammen, isoliert sie. Indem Rembrandt Christus, Pilatus und Barnabas als Hauptfiguren herausarbeitet, folgt er dem Beispiel Raffaels, der in seiner Schule von Athen die beiden Protagonisten Platon und Aristoteles auf vergleichbare Weise in einer symmetrisch komponierten Monumentalarchitektur inszeniert. Sie gibt die Bühne für den Auftritt der beiden Philosophen ab, die zu Lebzeiten zwei diametral entgegengesetzte Schulen begründeten. In Raffaels Fresko sind sie aber als zentrales Paar vereint, die die Wurzeln des europäischen Denkens verkörpern.

Rembrandt: Ecce homo (1655, vierter Zustand); Kaltnadel-Radierung
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Um die extrem großformatige Platte in ihren ersten drei Zuständen abzudrucken, mussten am oberen Rand der damals handelsüblichen Papierbögen einige Zentimeter angestückt werden. Im vierten Zustand verkleinerte Rembrandt die Darstellung an der Oberseite. Nach dem fünften Zustand waren mindestens die heute nachweisbaren 70 Exemplare und vermutlich eine weit größere Anzahl von der Platte abgezogen und damit wohl der Grat niedergepresst – die Kaltnadellinien hatten ihre Qualität verloren. Rembrandt entschied sich deswegen wohl für eine radikale Überarbeitung der Platte: Er gestaltete den unteren Teil der Komposition neu, indem er die Figurengruppe unterhalb der Tribüne bis auf Reste einer schemenhaften Silhouette auspolierte und die Basis des Podests bis an den unteren Bildrand versetzte.

Rembrandt: Ecce homo (1655, achter Zustand); Kaltnadel-Radierung
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An dieser Stelle fügte Rembrandt im sechsten Zustand einen flachen Bogen ein, der in der Komposition motivisch auf den zentralen Torbogen hinter Christus antwortet. Doch der Künstler verwarf diese Lösung wieder, da nur ein einziger Abzug im British Museum in London auf wertvollem chinesischem Papier erhalten ist. Stattdessen setzte Rembrandt im siebten Zustand zwei grob gemauerte Bogenöffnungen ein und skizzierte dazwischen einen bärtigen alten Kopf mit nackten Schultern und Armen. Erst in diesem Druckzustand signierte und datierte er das Bild mit der Jahreszahl 1655 auf dem Türsturz rechts.

Der alte Mann rechts blieb bei der Überarbeitung allerdings erhalten und wurde nun auf einem kleinen Podest platziert. Durch die Reduktion des Personals in den späteren Zuständen der Radierung wird die Geschichte auf erzählerischer Ebene weniger stark ausgeschmückt. „Die unmittelbare Konfrontation des Betrachtenden mit dem zur Schau gestellten gefangenen Jesus wird dadurch intensiviert – ebenso die Entscheidung, ob nach der Ermordung des ausgestellten nackten Menschen geschrien werden sollte“ (Buck 2022, S. 250).

Im finalen achten Zustand kamen weitere grafische Akzentuierungen hinzu, die an den Motiven nichts Grundlegendes mehr änderten, auch wenn die Figur des bärtigen Alten nur noch schemenhaft zu erkennen ist. Möglicherweise ist mit der geheimnisvollen Gestalt Adam gemeint, so Stephanie Buck, und damit der Mensch an sich, der nach biblischem Verständnis durch den Sündenfall der Macht des Todes verfiel (Römer 5,12).

Albrecht Dürer: Christus in der Vorhölle (1510); Holzschnitt
Die Evangelien kennen die Szene des Abstiegs Christi in die Unterwelt oder in das Reich des Todes nicht, und doch gehört sie zum Kernbestand christlicher Ikonografie. Albrecht Dürer (1471–1528) nimmt sie in seine Große Holzschnitt-Passion auf. In dieser Szene wird dargestellt, wie Christus in der Nacht nach seiner Kreuzigung in die Unterwelt hinabsteigt und dort die Seelen der Gerechten seit Adam befreit. Es liegt nahe, in den kerkerartigen Höhlen, dem Gefängnis unter dem Gerichtspalast, einen Hinweis auf diese Unterwelt zu sehen, in der die Seelen auf Erlösung harren. Nach christlichem Glauben wurde diese Erlösung erst durch den Kreuzestod und die Auferstehung Christi möglich. Christus, der in Rembrandts Radierung in der Bildachse über der geheimnisvollen Höhlenfigur steht, kann als der neue Adam verstanden werden. Denn als der neue oder auch der „zweite“ bzw. der „letzte Adam“ (1. Korinther 15,45; LUT) hat der Sohn Gottes durch seinen in freier Hingabe erlittenen, stellvertretenden Sühnetod den Tod für alle Menschen überwunden.

Die Tore in das Verlies öffnen die Tribünenwand, die in den früheren fünf Zuständen des Ecce homo durch die Figurengruppe verdeckt wurde. Doch sie war bereits in den frühen Zuständen durch ein verstecktes Portal geöffnet: Rechts der Mitte, neben dem großen Schlagschatten, ist ein Hutträger zu sehen, der durch eine mit klassischen Säulen bzw. Wandpfeilern gerahmte Tür herabsteigt. Links von ihm hat eine Mutter ihr Kind auf den Türsturz gestellt. 

Rembrandt: Die drei Kreuze (1653, erster Zustand); Kaltnadel-Radierung
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Rembrandts Ecce homo-Darstellung ist nach seiner Kaltnadel-Radierung der Drei Kreuze von 1653 sein zweites großes Projekt im Bereich der Druckgrafik gewesen. Wahrscheinlich hat der Künstler die beiden Arbeiten, die sich im ungewöhnlichen Format, im Kaltnadel-Verfahren und im hohen technischen wie künstlerischen Aufwand sehr nahe stehen, als Pendants geschaffen.

 

Literaturhinweise

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik. SMB DuMont, Köln und Berlin 2006, S. 149-151;

Buck, Stephanie: Nachdenken über Rembrandts Ecce Homo. In:Bertram Kaschek u.a. (Hrsg.), Das subversive Bild. Festschrift für Jürgen Müller. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2022, S. 237-252;

Kroll, Josefine: Christus dem Volke vorgestellt (1655). In: In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 182;

Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 270-273;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Montag, 5. Dezember 2022

Victim of Love – „Samson und Delila“ von Peter Paul Rubens


Peter Paul Rubens: Samson und Delila (1609); London, National Gallery
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Als Peter Paul Rubens (1577–1640) im Dezember 1608 von seinem neunjährigen Italienaufenthalt nach Antwerpen zurückkehrte, war ihm sein Ruf als begnadeter Maler bereits in seine Heimat vorausgeeilt. Der damals amtierende Außenbürgermeister Nicolaas Rockox wurde sein erster wichtiger Mäzen. Rockox vermittelte Rubens verschiedene Aufträge; so entstand u.a. für die Ausstattung der „Statenkamer“, dem größten Saal im Antwerpener Rathaus, eine prachtvolle Anbetung der Könige (heute im Prado, Madrid). Vermutlich noch im selben Jahr bestellte er ein großformatiges Werk bei Rubens, das für den Platz über dem Kamin im großen Salon seines eleganten Patrizierhauses vorgesehen war. Nur wenige Monate später erhielt er das in üppigen Farben gemalte Bild Samson und Delila, das sich heute in der Londoner National Gallery befindet.
Wir blicken in ein nächtliches Schlafzimmer, das durch mehrere Lichtquellen erleuchtet wird. Delila sitzt links im Vordergrund mit aufrechtem Oberkörper und lang ausgestreckten Beinen auf einem niedrigen Bett. Sie trägt ein scharlachrotes Kleid und einen safrangelben, von ihrem Lager herabhängenden Umhang, „so prächtig und sinnlich wie das blonde Weib selbst“ (Simson 1996, S. 113). Delilas heruntergezogenes weißes Hemd gibt Schultern und Oberkörper frei; ihre üppigen Brüste werden zusätzlich durch ein über den Busen verlaufendes Stoffband betont. Vor der jungen Frau liegt der schlafende Samson auf dem mit einem orientalischen Teppich gepolsterten Bett. Nur mit einem Fellschurz um die Hüften bekleidet, hat er seine Kopf auf die rechte Hand gebettet, die im Schoß seiner Geliebten ruht. Sein linker Arm hängt entspannt über ihrem rechten Knie. Delila blickt auf Samson herab und legt ihm sanft, fast zärtlich die linke Hand auf den muskulösen Rücken, während ein hinter ihm stehender Mann vorsichtig zum ersten Schnitt in seine Locken ansetzt, sorgsam bedacht, den Hünen nicht aufzuwecken. Rubens hält sich dabei eng an die biblische Vorgabe: „Und sie ließ ihn einschlafen in ihrem Schoß und rief einen, der ihm die sieben Locken seines Hauptes abschnitt“ (Richter 16,19; LUT). Delila betrachtet den Mann, der soeben noch ihr Liebhaber gewesen ist, mit einem Blick, „aus dem Liebe und Sinnlichkeit noch nicht ganz entwichen sind“ (Simson 1996, S. 113). Deutlich spürbar ist aber auch ihre Anspannung, ob die „Schur“ vollzogen sein wird, bevor bevor Samson erwacht. Unter dem Kandelaber am linken Bildrand ist die Lehne der Lagerstatt zu erkennen; sie findet ihren Abschluss in einem Eselskopf, der darauf anspielen dürfte, wie töricht sich Samson durch seine Liebesleidenschaft hat blenden lassen. Oder anders gesagt: Delilas erotische Anziehungskraft wird Samson im wahrsten Sinn des Wortes blind machen.

Cormelis Bos: Leda und der Schwan (nach 1537); Stich nach einem verlorenen Gemälde Michelangelos
Für die Haltung der Delila hat Rubens auf Michelangelo und dessen berühmtem Gemälde Leda und der Schwan zurückgegriffen. Das Bild ist nicht erhalten, aber durch zahlreiche Kopien und Stiche überliefert. Auch Rubens hat in seiner Frühzeit eine Leda-Kopie angefertigt, die sich heute in Dresden befindet. Der Rücken des schlafenden Helden wiederum erinnert an ein berühmtes antikes Vorbild, das Rubens in Rom mehrfach gezeichnet hat: den Torso vom Belvedere
Torso vom Belvedere, Zeichnung von Peter Paul Rubens
Rubens fügt der Dreiergruppe noch eine weitere Figur hinzu: Hinter Delila steht eine alte Frau mit zerfurchtem Gesicht und beinahe zahnlosem Mund. Bekleidet mit einem schlichten, bräunlich-grünen Gewand und weißer Haube, leuchtet sie dem Barbier bei seiner Arbeit mit einer Kerze. Dabei schirmt sie die Flamme mit ihrer rechten Hand ab, damit sie nicht durch Zugluft gelöscht wird. Die Alte gehört zum Typus der Kupplerinnen, die in der niederländischen Kunst häufig anzutreffen ist. In der biblischen Erzählung (Richter 16,4-22) ist nicht die Rede davon, dass Delila eine Prostituierte gewesen sei, in den „Antiquitates Judaicae“ (V,8) des Flavius Josephus dagegen wird daran kein Zweifel gelassen. Auch die Venus-und-Cupido-Statuette in der Nische der Holzvertäfelung kann als Hinweis auf das Gewerbe Delilas verstanden werden.
Delilas erotische Reize werden vergehen, sie enden in Runzeln und Zahnlosigkeit
Das Gesicht der jungen Schönheit neben das der runzligen Alten zu setzen, entspricht der damaligen Kunstheorie, in der solche Kontraste als reizvoll empfohlen wurden. Dieses Gestaltungsprinzip, contrapposto genannt, begegnet uns häufig bei Caravaggio, z. B. in seinem Gemälde Judith und Holofernes. Indem Rubens den beiden Frauen trotz des Altersunterschieds mit der geraden Nase, der Form ihrer Augen und dem hervorspringenden Kinn auffällig ähnliche Gesichtszüge verleiht, führt er dem Betrachter das gleiche Antlitz in Jugend und Alter vor Augen. Zum einen erhalten wir auf diese Weise einen Hinweis auf die Vergangenheit der Alten, zum anderen wird so auf Delilas Zukunft angespielt. Darüber hinaus ist die Gegenüberstellung der beiden Köpfe, durch die unmittelbare Nähe und die Ähnlichkeiten besonders frappierend, „zugleich Ausdruck des Vanitasgedankens“ (Ressos 2014, S. 182).
Caravaggio: Judith und Holofernes (1598/99), Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
Rechts im Hintergrund lauert eine Gruppe Soldaten vor der geöffneten Tür, einer von ihnen trägt eine Fackel in der Hand, ein anderer, wohl der Anführer, wirft seinen Männern einen erzürnten Blick zu, um sie zu warnen, nur ja keinen Laut von sich zu geben. Zwischen Tür und Wandnische sehen wir noch ein kleines Regal, auf dem sich Glaskaraffen befinden; davor ist ein Dreifuß mit Schale platziert, in der eine reich verzierte Kupferkanne steht. Mit der unregelmäßigen nächtlichen Beleuchtung durch mehrere Lichtquellen berücksichtigt Rubens die tatsächliche Hängung seines Gemäldes über einem Kamin: „So wie die realen Personen abends in diesem Raum durch das Kaminfeuer und somit von unten beleuchtet gewesen sind, zeigt der Künstler auch zahlreiche Bildelemente wie die Kupplerin, die Venusstatue im Hintergrund oder die Soldaten in der Tür des Bildes in flackerndem Schein niedriger Lichtquellen“ (Ressos 2014, S. 183). Beim Einsatz des Lichts ist immer wieder auf den Einfluss von Adam Elsheimer (1578–1610) hingewiesen worden, mit dem Rubens in der gemeinsamen römischen Zeit befreundet war. 
Adam Elsheimer: Philemon und Baucis (1608); Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
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Es ist ein letzter Augenblick der Ruhe unter dem schweren, gewundenen Stoff des purpurnen Baldachins, an dem wir teilnehmen. Die Spuren sexueller Erregung sind noch deutlich sichtbar, abzulesen an der fließenden feuerroten Seide von Delilas Gewand, der weißen Bluse in Unordnung, „als habe Samson sie in gieriger Ungeduld weggerissen, um sich an ihren üppigen Brüsten zu laben“ (Schama 2000, S. 142). Samson schläft den Schlaf des Befriedigten, die Lippen geöffnet, die Nasenflügel leicht gebläht, die linke Hand entspannt nach innen abgeknickt. Doch die Soldaten im Hintergrund lassen keinen Zweifel: Es wird nicht mehr lange dauern, bis ein Sturm der Gewalt über ihn hereinbricht.
Peter Paul Rubens: Anbetung der Könige (1609); Madrid, Prado (für die Großansicht einfach anklicken)
Die gleich nach seiner Ankunft in Antwerpen geschaffenen Bilder Samson und Delila, die Anbetung der Könige und eine Verkündigung im Kunsthistorischen Museum Wien bezeichnen den Beginn einer neuen Epoche – sie müssen Rubens’ Zeitgenossen überwältigt haben. Mit Rubens beginnt der nordische Barock. Otto von Simson hat die Bedeutung des flämischen Malers wie folgt zusammengefasst: „Er ist der erste, der wahrhaft monumentale Gestalten, wie er sie besonders in Michelangelos Sixtinischer Kapelle kennengelernt hatte, in ihrer Aussagekraft begriffen und verwendet hat; und er hat die zugleich geheimnisvolle und dramatische Wirkung des Lichts, die er bei Caravaggio und Adam Elsheimer bewundert hatte, als Erbe seiner römischen Zeit nach Norden getragen“ (von Simson 1996, S. 130).
Gerrit van Honthorst: Simson und Delila (um 1616);
Cleveland, The Cleveland Museum of Art
Einer der holländischen Caravaggisten, Gerrit van Honthorst (1592–1656), hat die Rubenssche Szenerie in der für ihn typischen Lichtregie nochmals aufgegriffen: In seinem um 1616 entstandenen Gemälde werden die Figuren caravaggesk herangezoomt und die Bildmotive auf diese Weise drastisch reduziert; außerdem setzt Honthorst nur noch eine Kerze als Beleuchtungsquelle ein und taucht das Geschehen damit in ein warmes, gelblich abgetöntes, harmonisierendes Licht.
Max Liebermann: Simson und Delia (1902); Frankfurt, Städel Museum
Max Liebermann: Simson und Delila (1909); Gelsenkirchen, Kunstmuseum
Als regelrechten Geschlechterkampf präsentiert Max Liebermann
(1847–1935) dann um 1900 die alttestamentliche Historie: Auf seinem Gemälde im Frankfurter Städel reckt Delila mit triumphierender Geste ihren Verbündeten Simsons Locken entgegen. Sie ist als femme fatale inszeniert, als erotisch verlockendes Weib, das den Mann ins Verderben stürzt – eine Frauenfigur, die in der damaligen Jahrhundertwende vielfach dargestellt wurde. Wenige Jahre danach griff der Berliner Maler das Thema erneut auf; das Bild ist heute im Kunstmuseum Gelsenkirchen ausgestellt.

Literaturhinweise
Francone, Marcello (Hrsg.): Samson und Delilah – ein Rubensgemälde kehrt zurück. Skira editore, Milano 2007.
Buddensieg, Tilmann: Simson und Dalila von Peter Paul Rubens. In: Lucius Grisebach/Konrad Renger (Hrsg.), Festschrift für Otto von Simson zum 65. Geburtstag. Propyläen Verlag, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1977, S. 328-345;
Jaffe, David: Rubens back and front. The case of the National Gallery Samson and Deliah. In: Apollo 152 (2000), S. 21-25;
Kuhn-Wengenmayer, Annemarie: Rubens: Samson und Delilah von 1609 und zwei zugehörige Werke. In: Norbert Dubowy (Hrsg.), Festschrift Rudolf Bockoldt zum 60. Geburtstag. Pfaffenhofen 1990, S. 81-100;
Ressos, Xenia: Samson und Delila in der Kunst von Mittelalter und Früher Neuzeit. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 180-184;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 141-142.
von Simson, Otto: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler und Diplomat. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996, S. 112-114;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 21. Juli 2023)

Freitag, 11. November 2022

Verehrter Lehrmeister, naturgetreu abgebildet – Albrecht Dürer porträtiert Michael Wolgemut (1516)

Albrecht Dürer: Bildnis Michael Wolgemut (1516); Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
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Albrecht Dürer (1471–1528) hat seinem einstigen Lehrherrn Michael Wolgemut (um 1434/37–1519) lebenslang Verehrung entgegengebracht. Davon zeugt ein kleinformatiges Porträt (29,8 x 28,1 cm), das der Nürnberger Meister 1516 anfertigte; es „gehört zweifellos zu den besten und eindringlichsten Werken Dürers“ (Hess 2004, S. 134). Darüber hinaus gilt es als das früheste selbstständige deutsche Malerbildnis, das kein Selbstbildnis ist.

Das sehr eng in das Bildfeld eingepasste Porträt zeigt Wolgemut mit seidenem schwarzen Haarnetz, einer Schaube mit Pelzkragen über dem schwarzen Wams und einem kragenlosen weißen Hemd vor grünem Hintergrund. Der nach rechts gewandte hochbetagte Künstler ist nur bis zu den Schultern sichtbar; er blickt am Betrachter vorbei aus dem Bild heraus. Im rechten Auge spiegelt sich, wie bei vielen von Dürers Porträts, ein Fensterkreuz. Unter der dünn gewordenen Haut treten die geschlängelte Ader auf der Schläfe, die Wangenknochen und die Sehnen am Hals stark hervor. Fest umrissen sind das Kinn mit dem vorgeschobenen Unterkiefer, die gebogene Nase und der geschlossene Mund. Die obere Bildkante überschneidet die über der Stirn kreuzweise zusammengebundene Haarhaube, die das rechte Ohr teilweise verdeckt. Besonders markant an dem Greisenantlitz erscheint der Kontrast zwischen der erschlaffenden Haut und den wachen Augen.

In der rechten oberen Ecke benennt Dürer in einer siebenzeiligen Inschrift das Lebensalter des Dargestellten und dessen Bezug zu sich selbst; der Text ist in spätgotischer Buchkursive abgefasst: „Das hat albrecht durer abconterfet noch / seine(m) Lehrmeister michel wolgemut in jor / 1516 vnd er was 82 jor / vnd hat gelebt pis das man / zelet 1519 jor do ist er ferschiden an sant endres dag frv ee dy / sun awff gyng“. Nicht eindeutig ist, ob sich die Altersangabe von 82 Jahren auf das Jahr 1516 oder 1519 bezieht. Die Entstehungsgeschichte der Aufschrift ist umstritten: Wurde der erste Teil von Dürer bereits 1516 aufgetragen und dann 1519 nach dem Tod Wolgemuts vervollständigt, oder fügte er die gesamte Inschrift erst 1519 hinzu? Wie auch immer, das Bildnis muss nach dem Tod Wolgemuts für Dürer erreichbar gewesen sein, sodass er die Inschrift ergänzen konnte.

Unklar ist auch Anlass für das Bildnis: Wolgemut könnte es bestellt haben; es könnte aber auch als Geschenk für ihn gemalt worden sein, oder Dürer schuf es für sich selbst als „Gedenkbild“ an den verehrten Lehrmeister. Das ist wohl am wahrscheinlichsten; als persönliche Erinnerung sind auch die beiden Bildnisse  seiner Eltern entstanden.

Albrecht Dürer: Bildnis Barbara Dürer (1490); Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
Albrecht Dürer: Bildnis Albrecht Dürer d.Ä. (1490); Florenz, Uffizien

In seiner Lebensnähe ist das Wolgemut-Bildnis ein bedeutsames Dokument für die mimetischen Qualitäten, die Dürers gesamtes künstlerisches Werk prägen. Die Wiedergabe der leicht geröteten Augen zum Beispiel ist in der Tat so genau, dass Augenärzte eine Kombination von Grünem und Grauem Star erkannten. „Wie in den Aquarellen des Feldhasen, des Rasenstücks und des Blaurackenflügels, die in ihrer Differenzierung und Genauigkeit als Gipfel Dürerscher Naturnachahmung gelten, manifestiert sich auch im Wolgemut-Bildnis das Interesse am charakteristischen Detail und an der präzisen Wiedergabe des Natur-Vorbilds“ (Hess 2004, S. 134).

Dürer war zwischen 1486 und 1490 Lehrjunge Wolgemuts.  Dieser hatte Ende 1472 in seiner Heimatstadt Nürnberg die Witwe des verstorbenen Malers Hans Pleydenwurff (um 1420–1472) geheiratet und dessen Werkstatt übernommen, in der auch sein Stiefsohn Wilhelm Pleydenwurff tätig war. In Wolgemuts Atelier entstanden umfangreiche Altarwerke, Glasfenster und illustrierte Bücher. Künstlerisch orientiert sich Wolgemut nicht nur an den Kupferstichen Martin Schongauers (siehe meinen Post „Malen mit dem Grabstichel“), sondern auch an niederländischen bzw. niederländisch beeinflussten Werken. Er war auch ein gefragter Porträtist; genannt sei hier etwa das Bildnis des Nürnberger Apothekers Hans Perckmeister aus dem Jahr 1496.

Michael Wolgemut/Werkstatt: Bildnis Hans Perckmeister (1496);
Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
Mit Wolgemut ist in Nürnberg der erste bedeutende Künstler-Unternehmer greifbar. In seiner Werkstatt oder für sie ließ er Maler aller Sparten, Bildhauer, Schreiner und Schmieder auf seine Rechnung arbeiten. Damit war er in der Lage, sowohl Tafelbilder als auch Holzskulpturen zu liefern. Druckstöcke zur Illustration von Büchern wurden nach seinen Entwürfen geschnitten, für deren sachgemäßen Druck er die Verantwortung übernahm. Am Vertrieb dieser Arbeiten war er finanziell beteiligt.

 

Literaturhinweise

Goldberg, Gisela/Heimberg, Bruno/Schawe, Martin: Albrecht Dürer. Die Gemälde der Alten Pinakothek. Edition Braus, München 1998, S. 414-429;

Hess, Daniel: Bildnis des Nürnberg Malers Michael Wolgemut. In: Germanisches Nationalmuseum (Hrsg.), Faszination Meisterwerk. Dürer – Rembrandt – Riemenschneider. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2004, S. 134;

Löcher, Kurt: Albrecht Dürer – Bildnis des Nürnberger Malers Michael Wolgemut, 1516. In: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Die Gemälde des 16. Jahrhunderts. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1997, S 210-212;

Roth, Michael (Hrsg.): Dürers Mutter. Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2006, S. 30.


Sonntag, 6. November 2022

Jesusminne – die mittelalterlichen Christus-Johannes-Gruppen

Christus-Johannes-Gruppe (um 1330/40), Frankfurt a.M., Liebieghaus
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Bei der mittelalterlichen Christus-Johannes-Gruppe, auch Jesusminne genannt, handelt es sich um ein Andachtsbild, ähnlich dem Schmerzensmann oder der Pietà, ein „Hilfsmittel“ sozusagen für Gebet und Meditation im privaten Rahmen. Allerdings ist es bei weitem nicht so verbreitet wie jene: Es sind nur 28 dieser plastischen Zweifigurengruppen erhalten; sie stammen alle aus Schwaben, der deutschen Schweiz und dem Oberrheingebiet, aus jener Region also, die man auch „alemannisch“ nennt. Das Format der Christus-Johannes-Gruppen schwankt zwischen beinahe lebensgroß und Kleinplastik. Keine von ihnen befindet sich heute noch an dem Platz, für den sie geschaffen wurde. Motivisch stimmen alle Exemplare, vor allem die frühen, eng überein.Was genau zeigen sie?
Christus und sein Lieblingsjünger Johannes sitzen nebeneinander auf einer Bank, Johannes links von Christus. Der Jünger lehnt sein Haupt an Christi Schulter bzw. Brust. Dabei liegt die linke Hand Christi auf der linken Schulter des Johannes, Ausdruck liebevoller Zuneigung und Fürsorge. Johannes wiederum legt seine Rechte in die rechte Hand Christi. Der Jünger schläft, Christus sitzt hoch aufgerichtet, als wache er über den Schlafenden; dabei neigt er ihm entweder sein leicht gesenktes Haupt zu, oder Kopf und Blick sind streng geradeaus gerichtet.
Christus-Johannes-Gruppe (um 1320/30); München, Bayerisches Nationalmuseum
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Ausgangspunkt dieser Skulpturen ist der Abendmahlsbericht des Johannes-Evangeliums; nur hier wird das Ruhen des Lieblingsjüngers an der Brust Jesu erwähnt: „Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s?“ (Johannes 13,23-25; LUT). Am Ende des Johannes-Evangeliums taucht das Motiv erneut auf: „Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, den Jesus lieb hatte, der auch beim Abendessen an seiner Brust gelegen und gesagt hatte: Herr, wer ist’s, der dich verrät?“ (Johannes 21,20; LUT). Für das Verständnis des biblischen Textes muss das antike Liegen an der Tafel vorausgesetzt werden, das jedoch in der Vorstellung des westlichen Mittelalters zum Sitzen wurde.
Christus-Johannes-Gruppe (vor 1330); Hermetschwil, Kloster St. Martin
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Der in die Ferne bzw. nach innen gerichtete Blick Christi lässt aus dem biblischen Textzusammenhang verstehen: Dem Abendmahlsbericht, aus dem die Skulpturen herausgelöst wurden, geht ja die Ankündigung des Verrats durch Judas voraus. So wacht Jesus über den Gefährten in dem Wissen, was kommen wird. Allerdings steht die Frage des Johannes, wer von ihnen denn der Verräter sei, im Widerspruch zum Motiv des Schlafens in der Jesusminne: Wer schläft, kann keine Fragen stellen. Im Bibeltext ist auch keine Rede von einer Umarmung oder dem Ineinanderlegen der Hände. Deswegen ist der Abendmahlsbericht für die isolierte Darstellung von Christus und Johannes keine ausreichende Erklärung.
Christus-Johannes-Gruppe (um 1320), Berlin, Bode-Museum
Das Bild des an der Brust Jesu ruhenden Johannes wurde bereits von Kirchenvater Origines mit der Vorstellung von der Brust des Herrn als Quelle des Lebens und göttlicher Offenbarung verbunden. Aber Hauptthema der Gruppe ist ohne Frage die seelische Verbundenheit von Christus und Johannes, die „unio mystica“. Das hingesunkene Haupt des Johannes ist eine Gebärde tiefen Vertrauens, ja völliger Hingabe. Die Geste der verschränkten Hände, auch „dextrarum iunctio“ genannt, gilt als Symbol der Vereinigung, das bei Hochzeitsdarstellungen verwendet wurde. In der „Vita Jesu Christi“ des Ludolf von Sachsen (zwischen 1348
und 1368 entstanden) wird Johannes explizit mit der Braut aus dem Hohelied gleichgesetzt und als „virgo electus“ bezeichnet. 
Dass die erhaltenen plastischen Christus-Johannes-Gruppen mit der Frömmigkeit alemannischer Frauenklöster in Verbindung stehen, hat man früh erkannt – das Thema mystische Hochzeit und Jungfräulichkeit des Johannes machte sie dort zu einem charakteristischen Bildtypus. Der Lieblingsjünger Christi an der Brust des Herrn und in einer sanften, weiblichen Gestalt eignete sich in besonderer Weise als Identifikationsobjekt für die Nonnen. Dabei dürften die großformatigen Skulpturen als Altarausstattungen gedient haben, während für die persönliche Andacht in den Zellen oder Kapellen weitaus kleinere Gruppen entstanden.
Christus-Johannes-Gruppe (1280/90); Cleveland, The Cleveland Museum of Art
Christus-Johannes-Gruppe (um 1300/1320);
Antwerpen, Museum Mayer van den Bergh
Die älteste erhaltene Christus-Johannes-Gruppe von etwa 1280/90 gehörte dem schwäbischen Bendiktinerkloster Zwiefalten und befindet sich heute im Cleveland Museum of Art. Eine weitere Jesusminne wurde um 1300/13 für das Dominikanerinnenkloster St. Katharinental hergestellt (heute in Antwerpen, Museum Mayer van den Bergh). Wohl diesen beiden Vorbildern folgten die anderen Exemplare, die bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden sind.

Literaturhinweise

Hausherr, Reiner: Über die Christus-Johannes-Gruppen. Zum Problem »Andachtsbilder« und deutsche Mystik. In: Rüdiger Becksmann u.a. (Hrsg.), Beiträge zur Kunst des Mittelalters. Festschrift für Hans Wentzel zum 60. Geburtstag. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1975, S. 79-103;

Jirousek, Carolyn S.: Christ and St. John the Evangelist as a Model of Medieval Mysticism. In: Cleveland Studies in the History of Art 6 (2001), S. 6-27;

Lang, Justin: Herzensanliegen. Die Mystik mittelalterlicher Christus-Johannes-Gruppen. Schwabenverlag, Ostfildern 1994;

Westheider, Ortun/Philipp, Michael: Zwischen Himmel und Hölle Kunst des Mittealters von der Gotik bis Baldung grien. Hirmer Verlag, München 2009, S. 118-119;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 17. Januar 2023)