Donnerstag, 9. Februar 2023

Rembrandts „Bathseba“: der Voyeur – bist du

Rembrandt: Bathseba (1654); Paris, Louvre
Die alttestamentliche Geschichte der Bathseba (2. Samuel 11) diente in früheren Jahrhunderten vielen Malern und Grafikern als Vorwand, um einen weiblichen Akt abbilden zu können. Meist wurde Bathseba gezeigt, wie sie badet und dabei von König David beobachtet wird. Auch Rembrandt stellt die Nacktheit der schönen Bathseba prachtvoll zur Schau (1654; Paris, Louvre) – aber er bringt zwei aufeinander folgende Momente aus dem Bibeltext zusammen. Bathseba ist in bewegender Nachdenklichkeit dargestellt, mit leicht gesenktem Kopf hält sie den Brief König Davids in der Hand, der sie zu sich zitiert – und Bathseba weiß nur zu genau, dass es um mehr geht als nur um eine königliche Audienz.

Rembrandt zeigt Bathseba als tragische Figur: Sie ist gezwungen, zwischen dem Ungehorsam gegenüber ihrem König und der Untreue gegenüber ihrem Ehemann Uria zu wählen.
Ihre Schönheit wird ihr zum Verhängnis – und sie weiß es bereits
Im emotionalen wie kompositorischen Zentrum des Gemäldes (142 x 142 cm) befindet sich der Brief, in dem nicht nur Bathsebas, sondern auch Davids Schicksal geschrieben zu stehen scheint. Diesem Brief als Dreh- und Angelpunkt der Katastrophe – der allerdings in der biblischen Erzählung gar nicht vorkommt – hat Rembrandt größte Aufmerksamkeit geschenkt. „Der Brief ist in der Tat fast im Mittelpunkt des Bildes angebracht, am Schnittpunkt der beiden Beine und der darüber gelegten Hand, auf gleicher Höhe wie Bathsebas Schoß, dem seine beschriebene Seite zugewandt ist“ (Hammer-Tugendhat 2009, S. 23). Eine Ecke ist umgeknickt, um die Handschrift des Königs erkennen zu lassen (auch wenn sie sich nicht entziffern lässt). Aber Rembrandt zeigt Bathseba nicht lesend – sie hat den Brief bereits gelesen oder sofort erfasst, worum es dem König geht. Der rote Siegellack an einer anderen Ecke des Briefes (im Original sehr deutlich zu sehen) mag vorausweisen darauf, dass die Geschichte dieses Ehebruchs auch mit Blut geschrieben wird: König David schickt den Soldaten Uria ganz bewusst in die vorderste Kampflinie – wo er auch umkommt.
An diesem Brief klebt Blut
Rembrandt malt mit der Bathseba seinen wohl schönsten weiblichen Akt (und auch seinen letzten), der mit seinem herlen Fleischton die gesamte rechte Bildhälfte beherrscht. Die nackte Frau sitzt auf einer roten Bank, die mit einem üppigen weißen Stoff bedeckt ist; ein Ärmel und ein Kragen sind zu erkennen, die wohl zu ihrem Hemd gehören. Geschmückt ist sie mit einem Oberarmreif, einem Halsband mit Anhänger, einem tropfenförmigen Ohrring, einer roten Haarkette, einem Haarkamm und einer herabhängenden Haarschleife. Bathsebas lebensgroßer, an den vorderen Bildrand gerückter Körper ist eigenartig gedreht – Bauch- und Brustpartie werden fast frontal präsentiert, der Kopf hingegen erscheint im Profil. Auf diese Weise kann Rembrandt den nackten Frauenleib regelrecht auf der Leinwand ausbreiten – und den Betrachter seines Bildes mit dem König eins machen. Denn er ist ebenso Voyeur wie David, ebenso gefesselt von Bathsebas Gestalt – die ihr zum Verhängnis wird. „Ebenso wie sich der Bildbetrachter seiner Rolle als Betrachter des Frauenkörpers bewusst wird, scheint sich Bathseba ihres Schicksals bewusst zu sein – sowohl ihres Schicksals laut biblischer Historie als auch des weiblichen Schicksals, als Objekt der Begierde betrachtet zu werden“ (Jagfeld 2006, S. 99). 
Aber der Voyeurismus des Betrachters stößt schnell an Grenzen – denn Bathseba verweigert jeden Blickkontakt, und ihre erotische Ausstrahlung tritt zurück hinter der Melancholie und dem schmerzlichen Verlust, die sich in ihrem Antlitz spiegeln. „Not only does her expression suggest an extended period of deep thought, the huge undifferentiatedly dark pupil that catches no light, the heavy shadow under the eye, as well as the eyebrow and the accentuated shadow above the upper eyelid which both slightly slope down, signal the tragic nature of her thoughts“ (Sluijter 2006, S. 363).
In der linken unteren Bildecke zeigt Rembrandt eine bekleidete Dienerin, die Bathseba die Füße wäscht. Zwar wird auch die Magd wie der Brief Brief in der biblischen Erzählung nicht erwähnt dennoch verweist dieses scheinbar anekdotische Element bereits auf  den weiteren Verlauf der Geschichte hin. Die Bibel berichtet nämlich, dass David mit Bathseba schlief, nachdem sie sich „gerade von ihrer Unreinheit gereinigt hatte“ (2. Samuel 11,4), also nach ihrer postmenstruellen, rituellen Waschung. Simon Schama meint, dass Bathseba dabei zusehe, wie ein Akt der Reinigung zu einem Akt der Beschmutzung wird und wie sich die Versicherung der ehelichen Reinheit in die Vorbereitung ihres Ehebruchs verwandelt“ (Schama 2000, S. 554). Auch der Kontrast zwischen der goldenen Robe aus reich gemustertem Brokat und dem weißen Hemd ist in diesem Zusammenhang bedeutsam: Der kostbare Stoff verweist auf Bathsebas Zukunft als Königin an Davids Seite; das weiße Hemd, Zeichen ihrer Unschuld, wird sie zurücklassen, wenn sie nach der Waschung aufbricht, um ihren König aufzusuchen. Die Dienerin hat noch eine weitere Funktion: Rembrandt betont mit ihr den Gegensatz von Jugend und greisem Alter und spielt so auch auf die Vergänglichkeit weiblicher Schönheit an.
Je mehr man sich in Rembrandts Bild vertieft, desto spürbarer werden Bathsebas Verlorenheit und Trauer. Wie einsam die zukünftige Königin sich fühlt, lässt die Kommunikationslosigkeit zwischen den beiden Figuren erkennen: Schweigsam und mit gesenktem Kopf vollzieht die Dienerin die Waschung, ebenso wortlos lässt Bathseba, ins Leere blickend, die Prozedur über sich ergehen.
Svetlana Alpers deutet Rembrandts Gemälde biografisch – sie sieht in Hendrickje Stoffels das Modell für die abgebildete Bathseba. Hendrickje war seit 1649 Rembrandts Geliebte und lebte bis zu dessen Tod 1669 mit ihm unverheiratet zusammen. Als sie 1654 ein Kind von Rembrandt erwartete, wurde sie im Juni und Juli desselben Jahres insgesamt dreimal vor den Kirchenrat der Reformierten Kirche bestellt. Man klagte Hendrickje der „Hoererij“ (Hurerei) mit dem Maler an – sie sollte sich ihrer unehelichen Schwangerschaft schuldig bekennen. Erst nach der dritten Aufforderung folgte Hendrickje der Vorladung. Die Strafe für ihr Vergehen lautete: Ausschluss vom Abendmahl (siehe auch meinen Post Rembrandts ,huysvrouw“). „In celebrating Hendrickje as his nude model, Rembrandt can be described as at once defining and defying the accusation against her brought by the church authorities“ (Alpers 2005, S. 54).
Rembrandt: Nackte Frau auf einem Erdhügel sitzend (1631); Kupferstich
Im Vergleich mit den übrigen, eher naturalistisch angelegten Aktdarstellungen Rembrandts, vor allem in seiner Grafik, wirkt die Figur der Bathseba wesentlich klassischer“: Sie hat einen längeren Hals, breitere, grundete Schultern und eine akzentuierte Taille, während die sonst so genau beobachteten Hautfalten verschwunden sind. Sabine Poeschel geht davon aus, dass der Körper nicht nach einem lebenden Modell gearbeitet ist, „denn der Abstand zwischen Brust und Nabel ist zu lang, ebenso der linke Arm, dessen Drehung zudem anatomisch unmöglich wäre“ (Poeschel 2014, S. 106).
Lovis Corinth: Fußwaschung (1910); Mannheim, Kunsthalle
Lovis Corinth: Bathseba (1908); Dresden, Galerie Neue Meister
Der deutsche Maler und Grafiker Lovis Corinth (1858–1925), ein großer Bewunderer Rembrandts, hat 1910 in einem Fußwaschung genannten Gemälde die Bathseba seines verehrten Vorbilds paraphrasiert: Auch Corinth kontrastiert die körperlichen Reize einer nackten jungen Frau mit einer älteren Dienerin, die, bekleidet und mit einem Schleier bedeckt, ihrer Herrin mit einem weißen Tuch die Füße trocknet. Die gleiche Figurenkonstellation hatte Corinth bereits zwei Jahre zuvor in einem Gemälde erprobt, wobei ihm seine 22 Jahre jüngere Ehefrau Charlotte Berend als Modell diente: Der üppige weibliche Körper, nackt und in perspektivischer Verkürzung auf ein weißes Laken bzw. mit dem Oberkörper auf eine schwarze Decke gebettet, füllt beinahe lebensgroß das Bildformat aus (156 x 175 xm). Das Gemälde vibriert geradezu vor Erotik, zumal die mit der schwarzen  Decke verhüllte Scham mehr betont als verborgen wird. Ihr direkter Blick gilt dem Betrachter, der in diesem Fall niemand anderes als der Maler selbst ist, der hier die Sinnlichkeit seiner Ehefrau und das eigene Begehren feiert. Charlottes linke Hand belegt übrigens, wem das Gemälde ihres Mannes ebenfalls seine Reverenz erweist:
Édouard Manets berühmter Akt-Darstellung Olympia, einem der großen Skandelbilder des 19. Jahrhunderts (siehe meinen Post Die größte Schlampe des 19. Jahrhunderts“).
Edward Hopper: Hotelzimmer (1921); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Der amerikanische Maler Edward Hopper (1882–1967) spielt in seinem Gemälde Hotelzimmer von 1931 ebenso unverkennbar auf Rembrandts Bathseba an: Abgebildet ist eine bis auf ihr Unterhemd entkleidete Frau, die in einem anonymen Hotelzimmer auf dem Rand des Bettes sitzt; am Boden
neben ihr sind zwei Gepäckstücke zu sehen. Ihr Gesicht im gesenkten Haupt liegt im Schatten, während sie, in Gedanken versunken, ein Faltblatt in den Händen hält – mit Rembrandts Figur teilt sie deren tiefen Ernst und Einsamkeit.

Literaturhinweise
Adams, Ann Jensen (Hrsg.): Rembrandt’s Bathsheba Reading King David’s Letter. Cambridge University Press, New York 1998; 
Alpers, Svetlana: Not Bathsheba. In: Svetlana Alpers, The Vexations of Art. Velázquez and Others. Yale University Press. New Haven  and London 2005, S. 47-62;
Eisler, Colin: Rembrandt and Bathseba. In: Anne-Marie Logan (Hrsg.), Essays in Northern European Art Presented to Egbert Haverkamp-Begemann on His Sixtieth Birthday. Davaco Publishers, Doornspijk 1983, S. 84-88;
Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 15-28; 
Jagfeld, Monika: Der unbestimmbare Moment. Rembrandts Bathseba (1654). In: Kirsten Fitzke/Zita Ágota Pataki (Hrsg.), Kritische Wege zur Moderne. Festschrift für Dietrich Schubert. ibidem-Verlag, Stuttgart 2012, S. 86-109;
Poeschel, Sabine: Starke Männer, schöne Frauen. Die Geschichte des Aktes. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014, S. 105-106;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000;
Sluijter, Eric Jan: Rembrandt and the Female Nude. Amsterdam University Press, Amsterdam 2006, S. 333-368;
Welzel, Petra: Rembrandts Bathseba Metapher des Begehrens oder Sinnbild zur Selbsterkenntnis? Eine Bildmonographie. Peter Lang, Frankfurt am Main 1994.

(zuletzt bearbeitet am 22. Juli 2024)

Mittwoch, 8. Februar 2023

Zeit im Bild – Caspar David Friedrichs „Elbschiff im Frühnebel“

Caspar David Friedrich: Elbschiff im Frühnebel (um 1821); Köln, Wallraf-Richartz-Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)
In den Jahren um 1820 hat Caspar David Friedrich (1774–1840) auffallend viele Darstellungen von Wolken und Nebel und gemalt. Eine davon, heute im Kölner Wallraf-Richartz-Museum ausgestellt, ist das Elbschiff im Frühnebel. Das kleine Format (22 x 33,5 cm) verlangt nähere und aufmerksame Betrachtung. Was zeigt uns das Bild? Während Blumen, Gräser und kleine Weiden im Vordergrund des Bildes klar zu sehen sind, trübt der von einem Fluss aufsteigende Nebel im Mittelgrund die Sicht in die Ferne. Nur schwach erahnt der Betrachter, dass sich am anderen Ufer des Flusses Baumreihen staffeln, die von sanften Hügelketten hinterfangen werden. Sie sind in verschiedenen blaugrauen Farbstufen wiedergegeben. Mitten im dichten weißen Nebel lässt sich lediglich ein Lastkahn ausmachen, der von drei Schiffern manövriert wird: Im Bug des Schiffes arbeiten zwei Männer, während ein Steuermann die Ruderpinne hält.

Friedrich hat die Vegetation vorne im Bild ungewöhnlich nah an uns herangerückt, als ob der Betrachter auf dem Boden läge. Die Weiden neigen sich zu den Bildrändern hin und erlauben so einen freien Ausblick auf den Lastkahn. Der Fluss, nur auf eine kurze Strecke zu überblicken, verläuft nach rechts in den Mittelgrund des Bildraums und wird vom keilförmigen Rasenstück des diesseitigen Ufers überschnitten. Das sommerliche Grün im Vordergrund und das zarte Blau des Himmels hinter den diagonal aufsteigenden Nebelschwaden lassen vermuten, dass wenig später die wärmende Sonne den Nebel auflösen wird. Wir als Betrachter sind eingeladen, sich so sehr in den dargestellten Augenblick zu versenken, dass wir geradezu das Ziehen der Nebelschwaden zu verfolgen meinen. Friedrich hat seinem Bild damit ein Moment der Zeitlichkeit eingeschrieben.

Mit der Fahrt des Schiffes wird neben diesem vergänglichen atmosphärischen Augenblick eine zweite Zeitebene erkennbar. Das Schiff legt einen Weg zurück, der wortwörtlich, aber auch im übertragenen Sinn verstanden werden kann; Erinnerungen an den Topos von der Lebensfahrt werden angeregt. Zugleich, hat Johannes Grave bemerkt, erscheint kein Motiv im Bild so statisch wie das Boot. Während die Büsche und der Nebel einen leichten Windhauch erahnen lassen, sind auf dem Lastkahn alle Segel eingeholt. „Und anders als der Rest des Bildes, der überwiegend durch dynamische Diagonalen strukturiert ist, wird der Kahn durch die Horizontale des Schiffsrumpfes und die Vertikale des Mastes fest auf der Bildfläche verankert“ (Grave 2022, S. 51).

Helmut Börsch-Supan betont, Friedrichs Bild sei, bei aller morgendlichen Frische und seinen hellen, heiteren Farben, dennoch mit dem Gedanken an den Tod verwoben: Blumen und Gras bezeichneten die rasche Vergänglichkeit des Lebens; der durch den Bebel geheimnisvoll verschleierte Bergzug in der Ferne wirke „als jenseitiges Ufer im metaphysischen Sinn“ (Börsch-Supan 1987, S. 128). Das Schiff mit seinem eingeholten Segel versteht er als Lebensschiff, das stromab der Mündung des Flusses und damit dem Ende des Lebens zutreibe. Anders als Grave sieht Börsch-Supan das Schiff durchaus in Bewegung: „Der Mast steht noch links von der Mitte, so daß der Eindruck einer Bewegung und einer Fortsetzung dieser Bewegung noch für ein geraume Zeit entsteht“ (Börsch-Supan 1987, S. 128). Die Fahrt des Kahns nach rechts werde außerdem durch die steigende Linie des diesseitigen Uferhangs und die fallende Linie der Baumreihen am jenseitigen Ufer verdeutlicht.

Caspar David Friedrich: Ziehende Wolken (um 1820); Hamburg, Kunsthalle
Caspar David Friedrich: Der Morgen (um 1821/22); Hannover, Landesmuseum
Auch in Friedrichs kleinem Gemälde Ziehende Wolken (18,3 x 24,5 cm; Hamburger Kunsthalle) wird ein Teil der Landschaft durch die Wolkenformationen verborgen, und auch hier ist der Betrachter aufgefordert, sich ganz in die abgebildete Landschaft hineinzuversetzen, um nachzuempfinden, wie der Wind die Wollken vor sich her treibt. Ein Kahn und von Morgennebel verschleierte Bäume begegnen uns ebenfalls in dem herrlichen Tageszeitenbild Der Morgen aus dem Landesmuseum in Hannover.

Literaturhinweise

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel-Verlag, München 41987, S. 128;

Grave, Johannes: Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens. C.H. Beck, München 2022, S. 49-54.