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Caspar David Friedrich: Kreidefelsen auf Rügen (1818), Winterthur,
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Die Kreidefelsen auf Rügen gehören zu den berühmtesten Gemälden von Caspar David Friedrich. Der Maler selbst hat sein Bild zu Lebzeiten nicht öffentlich ausgestellt. Der Ort, den Friedrich uns zeigt, lässt sich genau benennen: Es handelt sich um eine Montage der Kleinen und der Großen Stubbenkammer. Friedrich hat also keine Vedute, keine topografisch genaue Wiedergabe der viel besuchten Sehenswürdigkeit liefern wollen. Es ist nachvollziehbar, warum er die Ansichten kombiniert hat: Es ging ihm offensichtlich darum, auf beiden Seiten steil abfallende Felsen darstellen zu können. Die Aussicht wird durch die in der Höhe gesteigerten fragilen Felsnadeln dramatisiert, die Tiefenwirkung gesteigert, außerdem das Bild ziemlich in der Mitte geteilt und die Frau links von den beiden Männern abgesondert. „Die hellen Kreidefelsen sollten sich als eine bizarre Kulisse zwischen den schmalen abschüssigen Vordergrund und das sich in der Ferne gleichsam auftürmende Meer schieben“ (Börsch-Supan 2008, S. 114). Die Symmetrie der Komposition wird oben durch zwei sich mit ihren Kronen einander zuneigende Bäume ergänzt, wobei der den Männern zugeordnete in seiner Laubmasse fülliger ist als der zur Frau gehörige links. So bildet sich eine Art natürliches Portal oder Fenster, wie es auch auf anderen Bildern Friedrichs als feierliches Motiv zu finden ist, wie z. B. der Gartenlaube aus Greifswald in der Münchner Pinakothek.
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Caspar David Friedrich: Gartenlaube bei Greifswald (1818); München, Neue Pinakothek |
Licht und Farbe verleihen dem Bild Heiterkeit – und dennoch hat es etwas Unheimliches, denn das Gefährliche der Situation ist offensichtlich. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts faszinierte die Stubbenkammer-Steilküste auf Rügen die Reisenden. Der Weg am oberen Rand der Kreidefelsen entlang war gefährlich und daher stellenweise mit einem Geländer abgesichert. Wegen der herrlichen Ausblicke auf das Meer war er dennoch sehr beliebt.
Wer sind nun aber die drei Personen, die Friedrich im Vordergrund seines Gemäldes abgebildet hat und die in ihrer städtischen Kleidung auf den ersten Bick wie Touristen wirken? In der kunsthistorischen Forschung besteht Einigkeit zumindest darüber, dass ein Zusammenhang mit der Hochzeitsreise des Malers besteht, die ihn im Sommer 1818 in seine Heimat führte. Am 21. Januar 1818 hatte der bereits dreiundvierzigjährige Friedrich die vierundzwanzigjährige Caroline Bommer geheiratet. Der Künstler unternahm die Reise in seine Heimat, um Caroline den in Greifswald lebenden Brüdern vorzustellen. Jens Christian Jensen hat das Gemälde deswegen auch als „Hochzeitsbild“ betrachtet. Ausschlaggebend für seine Deutung ist, „daß der durch Grasbühne und Bäume gebildete Rahmen im Bild herzförmig ist. Die Spitze des Herzens ist durch den Einschnitt des Grasbodens zwischen Frau und knieendem Mann bezeichnet, die Wölbungen der beiden Herzschwellungen durch die Zweige der beiden Bäume: Mann und Frau, durch einen Abgrund getrennt, vereinigen sich in diesem Gezweig“ (Jensen 1980, S. 186). Gisela Greve erkennt eher einen kreisförmigen Bildaufbau, der den Gedanken an einen grünen Kranz aufkommen lasse und dem Gemälde einen festlichen Charakter verleihe (Greve 2006, S. 97).
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Bedrohliche Tiefe und erhabene Weite |
Auffallend ist dennoch, dass die drei Personen auf Friedrichs Bild relativ weit voneinander entfernt sind. „Sollte man aber von einem Hochzeitsbild nicht eine eindeutige Klärung der Beziehungen erwarten dürfen?“ (Grave 2000, S. 139). Die anmutige Frau links, in Rot gekleidet, deutet mit ihrer Rechten auf rote Blumen, die am Rand des steilen, zerklüfteten Felsabsturzes wachsen. Sie steht, wie die beiden anderen Gestalten, auf einem schmalen Erdstreifen im Bildvordergrund. Die Grasnarbe senkt sich auf die Mitte zu. Wie an dieser Stelle das Land ins Rutschen geriet, so wird auch der Blick in eine scheinbar bodenlose Tiefe hinabgeführt. Sicheren Stand gibt es hier nicht. Belaubte Zweige umgeben das Haupt der jungen Frau wie ein Rahmen, aber der Strauch hinter ihr, an dem sie sich mit der linken Hand festhält, hat fast alle Blätter verloren.
In der Mitte des Bildvordergrundes hat ein Mann in hellen Hosen und blauem Rock Zylinder und Wanderstock neben sich abgelegt und sich kriechend an den äußersten Rand des Abgrunds vorgewagt. Er hält sich an dürrem Gras fest und blickt wie gebannt senkrecht in die bedrohliche Tiefe, die ihn geradezu hinabzuziehen scheint. Die dritte Gestalt lehnt, aufrecht stehend, mit verschränkten Armen an einem zersplitterten Baumstumpf, die Füße unmittelbar am Abgrund auf ein paar Äste gestellt. Der Mann in altdeutscher Tracht richtet seinen Blick über den Abgrund in die Ferne, er „verschmäht es, mit den Händen Halt zu suchen und erscheint so als der Held der kleinen Gruppe“ (Börsch-Supan 2008, S. 117).
In der Frau wird zumeist Caroline gesehen – das Rot ihres Kleides ist die Farbe der Liebe; der am Boden Kriechende wiederum ist wohl Friedrich selbst. Man erkennt ihn an dem rundlichen Schädel mit den blonden Haaren. Die dritte Gestalt lässt sich nicht so einfach bestimmen. Helmut Börsch-Supan geht davon aus, dass es sich um Friedrichs Bruder Christian handelt, der dem Maler von seinen Brüdern am nächsten stand. Es gibt keine andere Figur im Werk Friedrichs, die so selbstbewusst und kühn dasteht, ausgenommen der Mann, der im Hamburger Wanderer über dem Nebelmeer den Gipfel eines Berges erstiegen hat.
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Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer (1818); Hamburg, Kunsthalle |
Jens Christian Jensen benennt die beiden männlichen Figuren entgegengesetzt: Der Maler könne nur in der altdeutsch gekleideten Gestalt ganz recht gesehen werden; er sei über die „Herzform“ der Bäume mit Caroline verbunden; außerdem habe er sich auf dem im selben Jahr 1818 entstandenen Bild Auf dem Segler ebenso dargestellt (siehe meinen Post „Wellenfahrt ins Glück“). Der Mann in der Mitte müsse somit eine Person sein, die dazu beitrug, das Paar zusammenzuführen: entweder der ältere Bruder Carolines oder eben Friedrichs Bruder Christian. In einer klugen psychoanalytischen Deutung des Gemäldes spricht sich Gisela Greve wiederum dafür aus, in den beiden männlichen Gestalten ein doppeltes Selbstbildnis des Künstlers zu sehen. Sie vermutet, „daß es sich hier um eine Spaltung handelt, bei der zwei divergente psychische Einstellungen auf die beiden Selbstdarstellungen des Malers verteilt sind“ (Greve 2006, S. 102). Friedrich verarbeite in in den Kreidefelsen auf Rügen seinen Schritt in die Ehe und seine Beziehung zu seiner jungen Frau: „Das Bild zeigt, daß sich sein Ich wohl nur partiell in ein Wir verwandelt hat“ (Greve 2006, S. 112). Der Mann in der Bildmitte ist durch eine gemeinsame Blickrichtung mit der Frau links verbunden; der stehende Mann rechts jedoch, souverän und gelassen in seiner Haltung, beachtet die Frau nicht; er ist in die Betrachtung des Meeres und des Himmels in seiner Unendlichkeit versunken. „Dieser Mann scheint eine Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Freiheit zu haben. Sein Blick zeigt, daß er dem Vordergrund des Bildes und einer engen Beziehung zu der jungen Frau entrückt ist“ (Greve 2006, S. 103). Sein fehlendes Realitätsinteresse werde daran erkennbar, so Greve, dass er mit seinen Füßen nicht fest auf dem Boden steht, sondern auf zwei Zweigen halb darüber zu schweben scheint.
Die gezackten, scharfen Spitzen der Kreidefelsen werden in solcher Deutung als „schreckenerregende Realisierung eines feindseligen Objekts“ (Greve 2006, S. 115) verstanden; Friedrich könnte die Angst des stehenden Mannes vor der ihn einengenden, »bösen« jungen Frau als Projektion in die Kreidefelsenlandschaft eingeschrieben haben. Zahnmetaphern gelten in der Psychoanalyse wie auch in der Mythologie vieler Kulturen als klassisches Symbol der Angst des Mannes vor der Frau.
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Caspar David Friedrich: Auf dem Segler (1818); St. Petersburg, Eremitage |
Während sich die Frau
an den Blumen erfreut, übt der Abgrund einen regelrechten Sog auf den Mann
neben ihr aus. „Sie wendet sich dem Leben zu, wogegen er, von ihr abgerückt,
sich den Tod vor Augen führt. Bei allem Hochgefühl, mit dem Friedrich den neuen
Lebensabschnitt begann, wird er sich der Unterschiede zwischen sich und
Caroline, nicht nur im Alter, sondern auch in ihren Grundhaltungen bewußt
gewesen sein“ (Börsch-Supan 2008, S. 118). Zu dieser Deutung passt auch das
kompositorisch zwischen den Felsen wie Sand in einer Sanduhr eingeschlossene
Meer: Symbol der unerbittlich verrinnenden Lebenszeit. Alle Lebensfreude, so könnte
die Aussage des Bildes lauten, ist der Vergänglichkeit unterworfen, ist vom
Abgrund des Todes bedroht – auch das Eheglück.
Vermutlich schon früh
entstandene Verse von Friedrich drücken aus, was Friedrichs Denken und künstlerisches
Schaffen lebenslang geprägt hat:
„Warum, die Frag‘ ist
oft zu mir ergangen,
Wählst du zum
Gegenstand der Malerei
So oft den Tod, Vergänglichkeit
und Grab?
Um ewig einst zu
leben,
Muß man sich oft dem
Tod ergeben.“ (Hinz 1968, S. 67)
Malen war für
Friedrich religiöse Meditation, Besinnung auf das Wesentliche, Vergewisserung
des eigenen Glaubens: ,,Ich meinesteils fordere von einem Kunstwerk Erhebung
des Geistes und – wenn auch nicht allein und ausschließlich – religiösen
Aufschwung“, schrieb der Künstler um 1830 (Hinz 1968, S. 112). Der Gewissheit
des Todes steht bei ihm der Trost der christlichen Auferstehungshoffnung und
Ewigkeitsverheißung gegenüber.
Friedrich hat die drei
Reisenden als Rückenfiguren wiedergegeben – deswegen fühlt sich der Betrachter
beinahe als vierte Person in die Darstellung einbezogen. Unser Blick folgt dem
des Stehenden durch Bäume und Felsen hindurch nach draußen aufs offene Meer.
Die beiden Segelschiffe, die in der ruhigen Weite des Meeres dahinziehen, sind,
wie auf vielen anderen Gemälden Friedrichs, christlich zu verstehende
Sinnbilder: Sterben bedeutet, aus dem irdischen Dasein in eine jenseitige,
ersehnte Heimat aufzubrechen. Der Blick in den Abgrund und in die Weite richtet
sich also auf die Zukunft – auf das, was uns erwartet und was Christen
erhoffen.
Literaturhinweise
Börsch-Supan, Helmut: Zur Deutung der Kunst Caspar David Friedrichs. In:
Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 27 (1986), S. 199-224;
Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Gefühl als Gesetz. Deutscher Kunstverlag, München 2008; Grave, Johannes: Eine
»wahrhaft Kosegartensche Wirkung«? Caspar David Friedrichs Kreisefelsen auf Rügen. In: Pantheon 58 (2000), S. 138-149;
Greve, Gisela: »… seit sich das Ich in Wir verwandelt …« Kreidefelsen auf Rügen – Ein »Hochzeitsbild« von Caspar David Friedrich
In: Gisela Greve (Hrsg.), Caspar David Friedrich. Deutungen im Dialog. edition diskord. Tübingen 2006, S. 95-119;
Hinz, Sigrid (Hrsg.): Caspar David Friedrich: Was die fühlende Seele sucht. Briefe und Bekenntnisse. Henschel Verlag, Berlin 1968;
Hofmann, Werner: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. Verlag C.H. Beck, München 2000, S. 119-130; Jensen, Jens Christian: Caspar David Friedrich. Leben und Werk. DuMont Buchverlag, Köln 51980, S. 182-189;
Möseneder, Karl: C.D. Friedrichs ›Kreidefelsen
auf Rügen‹ und ein barockes Emblem in der romantischen Malerei. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 46 (1983), S. 313-320;
Vignau-Wilberg, Peter: Caspar David Friedrichs ›Kreidefelsen
auf Rügen‹. Notizen zur Landschaftmalerei der Romantik. In: Münchner Jahrbuch
der bildenden Kunst 31 (1980), S. 247-258.
(zuletzt bearbeitet am 6. Oktober 2024)