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Matthias Grünewald: Kreuztragung Christi (um 1523/25); Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
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Die
beiden Gemälde der Kreuztragung und der Kreuzigung Christi von
Matthias Grünewald (14890–1528) bildeten ursprünglich die Vorder- und Rückseite
einer großen Tafel, die vermutlich als Altarbild diente und sich, seit dem 18.
Jahrhundert nachweisbar, in der Pfarrkirche St. Martin in Tauberbischofsheim
befand. 1882 wurde sie von dem Sammler Edward Habich erworben, der sie ein Jahr
später bei einer Restaurierung spalten ließ. 1900 erwarb die Großherzogliche
Kunsthalle Karlsruhe die beiden Tafeln, wo sie seither zu den bedeutendsten
Ausstellungsstücken der Mittelaltersammlung gehören. Die Tauberbischofsheimer
Gemälde werden dem Spätwerk Grünewalds zugerechnet und somit in die Zeit
zwischen 1523 und 1525 datiert. Beide Werke sollen hier vorgestellt werden, zunächst
die Kreuztragung Christi, in einem späteren Post dann die Kreuzigung.
Christus ist unter der Last des riesigen Kreuzes,
dass er selbst nach Golgatha zu tragen gezwungen wird, auf die Knie gestürzt. Mit
kraftlosen Händen versucht er den Querbalken festzuhalten, der ihm von der linken
Schulter gleitet. Das fahle, erbarmungswürdige Antlitz Jesu unter der
Dornenkrone bildet genau auf der Schnittstelle der beiden Bilddiagonalen das
Zentrum des Gemäldes und wird zusätzlich durch den unmittelbar hinter ihm
aufragenden Pfeiler der Architektur im Hintergrund betont. Was wir hier vor uns
haben, ist die künstlerische Umsetzung eines in mittelalterlichen Passionstraktaten
vielfach aufgegriffenen Jesaja-Zitates: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir
sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der
Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so
verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für
nichts geachtet“ (Jesaja 53,2-3; LUT). Geschaffen hat sie Matthias Grünewald,
dessen Isenheimer Altar zu den bekanntesten christlichen Kunstwerken
überhaupt gehört. Auch dort ist der geschundene Gottessohn das zentrale
Darstellungsthema
(siehe meinen Post „Illum oportet crescere“).
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Matthias Grünewald: Kreuzigung Christi (um 1523/25); Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
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Vier Peiniger
drangsalieren Jesus: Links zerrt ihn ein mit gelber Kappe und grauem Knüppel
ausgestatteter Häscher am Gewand; rechts kniet ein mit Hellebarde und Schwert bewaffneter
Büttel, der Christus anblickt und ihm Grimassen schneidet. Dahinter holen zwei
weitere Knechte kraftvoll zum Schlag gegen den Gestürzten aus. Der mit einem
Turban bekleidete Scherge scheint schreiend, wie sein offener Mund zeigt, auf
Christus zuzustürzen, um ihm einen Hieb zu versetzen. Der Peiniger rechts
benützt die sich gabelnde Rute eines Dornstrauchs, um auf sein Opfer
einzuschlagen; sein Gesicht wird vom Kreuzbalken verdeckt, „wodurch er
gleichsam die anonyme, blinde Aggression verkörpert“ (Mack-Andrick 2007, S.
244). Mit seiner Linken hält er den Strick, mit dem er den Delinquenten
weiterzerren wird. Die vier Angreifer sind in Kostüme der Zeit um 1520
gekleidet, die ein kräftiges, grelles Kolorit aufweisen. Giftige Grün- und
Gelbtöne sowie ein aggressives Rot herrschen vor und können als farbige
Attribute der Männer verstanden werden. Die Männer wollen den Zusammengebrochenen
wieder hoch- und vorantreiben, durch das rechte Stadttor hinaus zur
Schädelstätte, die in der Ferne an zwei aufragenden Kreuzen erkennbar ist. Dass
dies das Ziel des Zuges ist, verdeutlicht unmissverständlich die nach rechts
oben weisende Schräge des Querbalkens, der das Auge des Betrachters folgt.
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Matthias Grünewald: Verspottung Christi (um 1504); München, Alte Pinakothek
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Darstellungen
der Kreuztragung Christi waren seit dem 12. Jahrhundert oft figuren- und
szenenreiche Bilder mit betonter Bewegungsrichtung. Der qualvolle und von
vielen Personen begleitete Gang Christi nach Golgatha spielte sich meist auf
freiem Feld vor den Stadtmauern Jerusalems ab. Grünewald beschränkt sich in
seinem Gemälde dagegen auf den Fall Christi unter dem Kreuz. Und er zeigt Jesus
völlig allein, in größter Verlassenheit: Keine Mutter, keiner der Jünger steht
ihm bei, keine Magdalena weint um ihn, keine Veronika wischt ihm den Schweiß
ab, kein Simon von Kyrene hilft ihm, das Kreuz zu tragen. Die Reduktion dient
Grünewald dazu, sein Gemälde zu einer Art Andachtsbild zu verdichten. Der Weg
nach Golgatha wird bei ihm „durch die zentrierende Komposition angehalten, so
dass das Geschehen wie eingefroren dem Betrachter zur verinnerlichten
Betrachtung präsentiert wird“ (Mack-Andrick 2007, S, 242). Dabei übernimmt
Grünewald auch Figuren und Szenen aus anderen Passionsmomenten: So stammt der
rechts kniende Landsknecht, der den Zug nach Golgatha aufhält, von
vergleichbaren Spöttern aus „Geißelungen“ oder „Verspottungen“. Eine solche
Übernahme charakteristischer Typen aus dem Passionsgeschehen lässt sich schon
bei Grünewalds früher Verspottung Christi beobachten (siehe meinen Post
„Ein Frühwerk von Matthias Grünewald“), wo er den sonst für Kreuztragungen
üblichen „Seilzieher“ anstelle eines knienden Spötters einbezog.
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Meister der Karlsruher Passion: Kreuztragung Christi (um 1450), Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
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Wie
bei vielen anderen mittelalterlichen Darstellungen der Kreuztragung wird
Christus von Grünewald im Maßstab deutlich größer abgebildet und damit
hervorgehoben, ja regelrecht monumentalisiert. Die gleiche Bildstrategie wird
z. B. auf der Kreuztragung Christi der Karlsruher Passion
eingesetzt (siehe meinen Post „Der unvollständige Leidensweg“), ebenso von Hans
Multscher (1400–1467) auf der entsprechenden Tafel seines Wurzacher Altars. Auf
allen drei Gemälden wird das leidvolle, von der Anstrengung gezeichnete Haupt
Christi mit den deformierten Gesichtern seiner mitleidlosen Peiniger
kontrastiert. Diese drastische Gegenüberstellung gehört zu den zentralen
Darstellungsverfahren der mittelalterlichen Passionsschilderungen. Gleichzeitig
erzeugen die beiden früheren, noch im 15. Jahrhundert entstandenen Tafeln
„durch die von der Vielzahl der Schergen mit ihren bedrohlichen Waffen
verursachte Enge das Gefühl von Beklommenheit und Ausweglosigkeit (Mack-Andrick
2007, S. 242). Die gleiche Wirkung wird von Grünewald durch die
architektonische Beengtheit seiner Komposition hervorgerufen.
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Hans Multscher: Kreuztragung Christi (1437); Berlin, Gemäldegalerie
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Das
Motiv der Schergen, die auf Jesus einschlagen, begegnet in der Bildtradition häufig;
oft wird der Erlöser auch mit einem Stock oder mit dem Knauf eines Schwertes
gestoßen. Aber es tritt niemals derart markant und beinahe ausschließlich in
Erscheinung wie bei Grünewald. „Man darf fast sagen: Es wird hier nur
geschlagen!“ (Arndt/Moeller 2002, S. 50). Der Eindruck heftigster Aggression wird
verstärkt die symmetrisch-konzentrische Struktur der Gruppe: Von links wie von
rechts bedrängen je zwei Schergen den völlig erschöpften Heiland, der ihren
Tätlichkeiten schutzlos ausgeliefert ist. Nichts lenkt den Betrachter ab von
der furchtbaren Marterung Christi, die sich vor seinen Augen als nicht enden
wollendes Geschlagenwerden vollzieht. Grünwalds Anordnung der Figuren bewirkt, „dass
man diese Szene nicht als vorübergehende Phase eines übergreifenden Geschehens,
sondern wie einen Dauerzustand erlebt“ (Arndt/Moeller 2002, S. 52).
Christi
Blick ist gen Himmel gerichtet, was als stummer Dialog mit Gottvater und
demütiges Einwilligen in seinen Heilsplan gedeutet werden kann. Der „himmelnde
Blick“, der sich als pathoserfüllte mimische Konvention vor allem im 17.
Jahrhundert großer Beliebtheit bei Christus- und Heiligendarstellungen
erfreute, wird hier bereits bei Grünewald eingesetzt. Aber dieser Blick
verweist gleichzeitig auch auf die Inschrift des Architravs über Christus. Es
ist die Bibelstelle Zitat aus Jesaja 53,5: „ER IST VMB VNSER SVND WILLEN
GESCLAGEN“. (In der Luther-Übersetzung von 2017 lautet der vollständige Vers: „Aber
er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen
zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch
seine Wunden sind wir geheilt.“) Damit wird das augenblickliche Leiden Christi
und sein bevorstehender Kreuzestod mit der alttestamentlichen Prophetie
verknüpft und zum Sühneopfer Christi für die Menschheit und zur Erfüllung des
göttlichen Ratschlusses erklärt. „Wer diese Kreuztragung betrachtet, sieht
den Schrecken äußerster Todesnot, zugleich liest er, dass eben dies
seine Rettung sei, auf die er vertrauen kann. So lässt das Bibelzitat ihn
erkennen, was auf dem Bild eigentlich gemeint ist, Wort und Bild zusammen
werden zur Quelle der Selbsterkenntnis einerseits, der Heilshoffnung
andererseits“ (Arndt/Moeller 2002, S. 48). Das Leiden Christi „vumb unser sund
willen“ ist vom Betrachter mitverschuldet, doch macht das alte Prophetenwort im
selben Zug den Heilsplan Gottes erkennbar. Letzten Endes ist es das Ziel des
Schreckensbildes, Trost zu vermitteln.
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Dirk Jacobsz Vellert: Die Vision des hl. Bernhard (1524); Kupferstich
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Die
Szene spielt sich zwischen zwei durch eine Art Portikus verbundenen Toren ab. Unter
dem Haupt Christi erscheint wie eine Bekrönung vor dem leuchtend blauen Himmel
ein majestätischer Rundbau, der entweder als der Tempel Salomos oder als
Grabeskirche gedeutet wurde. Die Architektur hat Grünewald mit
italianisierenden Element der Renaissance-Baukunst verziert (z. B. die
kannelierte Kugel über dem Architrav oder das in lockerer Malerei gestaltete
Dekor der Bogenarchivolte rechts). Hierfür gibt es wohl eine spezielle Vorlage,
die Grünewalds Beeinflussung durch südniederländische Renaissance-Ornamentik
zeigt: Ein Kupferstich von Dirk Jacobsz Vellert mit einer Darstellung der Vision
des hl. Bernhard (1524) präsentiert die Figuren vor einer reich verzierten
architektonischen Schauwand. Die linke Seite dieser Anlage ähnelt frappierend
dem Hintergrund von Grünewalds Kreuztragung, bis hin zu dem hinter der
Wand aufragenden Zentralbau (hier der Turm einer Kirche). Selbst die
kannelierte Kugel über dem linken Pilaster findet sich prominent im Gemälde
wieder, und auch die Ornamente in der Bogenarchivolte stimmen, wenn auch
vereinfacht, annähernd überein.
Literaturhinweise
Achenbach-Stolz, Karin:
Die „Kreuztragung“ von Matthias Grünewald aus restauratorischer Sicht. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald
und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 104-115;
Arndt, Karl/Moeller, Bernd: Die Bücher und
letzten Bilder Mathis Gothart-Nitharts, des so genannten Grünewald. In:
Rainhard Riepertinger u.a. (Hrsg.), Das Rätsel Grünewald. Konrad Theiss Verlag,
Stuttgart 2002, S.45-60:
Mack-Andrick, Jessica: Die „Kreuztragung“ des Tauberbischofsheimer
Altars als Beispiel andachtsfördernder Bildstrategien. In: Staatliche
Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag,
München/Berlin 2007, S. 241-246;
Vetter, Ewald M.: Matthias Grünewald Tauberbischofsheimer
Kreuztragung. Rekonstruktion und Deutung. In: Pantheon XLIII (1985); S. 40-53;
Ziermann, Horst: Matthias Grünewald. Prestel Verlag,
München/London/New York 2001, S. 185-186;
LUT = Die Bibel nach Martin
Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart.