Mittwoch, 17. Juli 2024

Schmerz, Trauer und Erbarmen – Albrecht Dürers Holzschnitt „Die Heilige Dreifaltigkeit“ (1511)

Albrecht Dürer: Die Heilige Dreifaltigkeit (1511); Holzschnitt
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Figürliche Darstellungen des christlichen Dreieinigkeits-Dogmas, also der Einheit der drei göttlichen Personen Gottvater, Sohn und Heiliger Geist, sind vor allem ein Bildtypus des Spätmittelalters. Sie werden als Gnadenstuhl, Notgottes oder auch Trinitarische Pietà bezeichnet und gelten als die wichtigsten abendlichen Visualisierungen der Trinität. Gezeigt wird ein zumeist thronender Gottvater, der den Gekreuzigten bzw. den Schmerzensmann hält oder präsentiert; die Taube als Symbol des Heiligen Geistes ist Teil des Bildprogramms, hat aber keinen festen Ort in der Bildkomposition. Das Motiv selbst ist nicht auf eine bestimmte Textquelle zurückzuführen, sieht man einmal vom Johannes-Evangelium ab, wo Christus „der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist“ (1,18; LUT) genannt wird. Bis zum Ausgang des Barock greifen zahlreiche bedeutende Altarretabel diesen Bildtypus auf, auch im 19. Jahrhundert bleibt er aktuell, und bis heute wird er zur Illustration des Apostolikums bevorzugt.

Inhaltlich wird im Gnadenstuhl auf das Sühneopfer des Gottessohns und die durch sein Erlösungswerk erwirkte Gnade Gottes angespielt; hinzu kommt der Gedanke des den Tod überwindenden, triumphierenden Christus. Der Begriff selbst geht auf Martin Luther zurück, der die Vulgata-Formulierungen thronum gratiae (Thron der Gnade; Hebräerbrief 4,16) und propitiatorium (Sühnemittel, Gnadenspender; Hebräerbrief 9,5) mit „Gnadenstuhl“ übersetzte. Das Wort „Stuhl“ bezieht sich jedoch nicht auf den Thron Gottes, sondern auf das Kruzifix. Der neutestamentliche Hebräerbrief vergleicht das Kreuzesopfer Christi mit dem Blutopfer des Alten Testaments und das Kreuz mit dem Deckel der Bundeslade, dem Propitiatorium, auf das der Hohepriester das Blut des Opfertieres sprengte. Der Begriff Notgottes ist die volkstümliche Übersetzung der mittelalterlichen Bezeichnung agonia Domini. Er wird zwar auch für das Trinitäts-Bild verwendet, meint aber eigentlich die Todesangst Christi am Ölberg. Trinitarische Pietà nennt man die Variante, bei der Gottvater den Sohn analog zur Marien-Pietà auf dem Schoß hält.

Albrecht Dürer: Landauer Altar (1511); Wien, Kunsthistorisches Museum

Eine der bedeutsamsten Gnadenstuhl-Darstellungen, und zwar in Form der Trinitarischen Pietà, stammt von Albrecht Dürer (1571–1528). In seiner technischen Vollendung gehört sein Holzschnitt Die Heilige Dreifaltigkeit unbestritten zu den Höhepunkten im druckgrafischen Werk des Nürnberger Meisters. Der Gedanke, das Thema der Heiligen Dreifaltigkeit als Einblattholzschnitt auf den Markt zu bringen, kam Dürer während der Arbeit an einem Altarbild für Matthias Landauer. Dürer entschied sich bei diesem auch „Allerheiligenbild“ genannten Gemälde (datiert 1511) für ein älteres Gnadenstuhl-Schema, das Gottvater thronend auf einem Regenbogen zeigt: Er hält den am Kreuzbalken hängenden Christus in den ausgebreiteten Armen und präsentiert ihn feierlich. Zwei in goldene Gewänder gehüllte Engel halten die Enden des göttlichen Pluviale; andere Engel mit den Leidenswerkzeugen Christi begleiten die Szene. Über der Vater-Sohn-Gruppe schwebt in einer Gloriole die Taube des Heiligen Geistes.

Im Gegensatz zum Landauer Altar, auf dem Heilige und Gläubige der Trinität ihre Verehrung entgegenbringen, betont Dürers ebenfalls 1511entstandener Holzschnitt (39,5 x 28,5 cm) weit mehr das innige Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Mit seinem intimen Charakter wendet er sich nicht wie das Allerheiligenbild an die christliche Gemeinde. Es spricht vielmehr den im privaten Raum Betenden an. Darauf verweisen der Ausschnittcharakter und die Konzeption der Darstellung, die die Nahsicht des Betrachters voraussetzen.

Dürer zeigt uns die Trauer des Vaters

Auf dem Holzschnitt schwebt Gottvater in pontifikalem Ornat mit dem Leichnam Jesu über den Wolken. Mit verhüllten Händen fasst er unter seine Achseln und trägt ihn empor; ergriffen blickt er auf den lediglich mit einem Lendentuch bekleideten Sohn nieder. Christus lehnt mit dem Gesäß gegen sein Knie lehnt, sein Haupt ist auf die Schulter des Vaters gesunken. Bekrönt wird die zentrale Bildgruppe von der Taube des Heiligen Geistes. Die vorderen Engel aus der Himmelsschar, die die Dreifaltigkeit rahmen, stützen Arm und Hand des Toten, heben die Enden des göttlichen Umhangs, als wollten sie ihn zurückschlagen und den corpus Christi vorweisen. Nur die Wundmale, die wie die Leidenswerkzeuge auf die Passion Jesu verweisen, beeinträchtigen die makellose Schönheit des Erlösers. Mit der Drehung seines Körper und der unruhigen Faltendraperie des Leichentuchs durchbricht Dürer die hierarchische und starre Symmetrie vieler Trinitätsdarstellungen, bei denen die Dreifaltigkeit zentriert in der Bildachse angeordnet wird (wie es auch auf seinem Landauer Altar der Fall ist). „Durch ihre abwechslungsreichen Haltungsmotive, gestischen und mimischen Äußerungen verlebendigt die prächtig gekleidete Himmelsschar die hoheitsvolle Szene“ (Doosry 2002, S. 368). Die Figuren stehen „geheimnisvoll schwebend vor einem düsteren Himmel, den milchigweiße Wolken und das elektrische Aufblitzen der Nimben erleuchten“ (Panofsky 1977, S. 186). Vom irdischen Bereich getrennt werden die himmlischen Gestalten durch einen Wolkensaum und vier Köpfe als Personifikationen der vier Windrichtungen– sie symbolisieren die weltumspannende Bedeutung von Jesu Opfertod.

Neu an der Bildauffassung Dürers ist zum einen der anatomisch durchgebildete Körper Christi, der erkennbar dem antiken Körperideal entspricht. Die Bewunderung heidnischer Körperästhetik stellte für den Renaissance-Künstler kein Problem dar; in dem Entwurf zu seinem Lehrbuch der Malerei forderte Dürer: „Dan zw gleicher weis, wy sy (die antiken Künstler) dy schönsten gestalt eines menschen haben zw gemessen jrem abgott Abblo (Apollo), also wollen wyr dy selb mos (Maß, Proportion) prawchen zw Crysto dem herren, der der schönste aller welt ist“ (Rupprich 1956, S. 104). Ebenso neu an Dürers Holzschnitt ist das innige Verhältnis von Vater und Sohn, das sich im unmittelbaren Nebeneinander der beiden Köpfe ausdrückt. Betont werden dabei vor allem Schmerz, Trauer und Erbarmen Gottvaters.

Tintoretto: Kreuzabnahme (um 1550/60); Venedig, Dogenpalast
El Greco: Gnadenstuhl in den Wolken (1577/79); Madrid, Prado

Gerade diese Emotionalisierung des komplex-abstrakten Trinitäts-Dogmas inspirierte zahlreiche Nachahmungen. Denn Dürers vielbewunderter Holzschnitt wurde bereits zu dessen Lebzeiten aufgegriffen und vielfach verarbeitet. Bis ins späte 19. Jahrhundert ist das Blatt von nachfolgenden Künstlern in zahlreichen Grafiken, Gemälden, Skulpturengruppen und Reliefs rezipiert worden. So nutzten es etwa Jacopo Tintoretto (1518–1594) als Vorbild für seine Kreuzabnahme im Dogenpalast in Venedig (um 1550/60) und El Greco (1541–1614) für den Gnadenstuhl in den Wolken (1577/79; heute im Prado ausgestellt).

 

Glossar

Pluviale: ein vorne offener, ansonsten die ganze Gestalt umschließender liturgischer Umhang.

 

Literaturhinweise

Doosry, Yasmin: Die Heilige Dreifaltigkeit. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 366-369;

Germanisches Nationalmuseum (Hrsg.): Dürer – 80 Meisterblätter. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung Otto Schäfer. Prestel Verlag, München/London/New York 2000, S. 114;

Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Verlag Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 186;

Preising, Dagmar u.a. (Hrsg.): Der Schmerz des Vaters? Die Trinitarische Pietà zwischen Gotik und Barock. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2021, S. 48-51;

Rupprich, Hans (Hrsg.): Dürer. Schriftlicher Nachlaß. Band 1. Deutscher Verein für Kunstwissenschaft, Berlin 1956.


Sonntag, 14. Juli 2024

Feierliche Botschaft in festlicher Runde – Paolo Veroneses „Gastmahl im Haus des Levi“

Paolo Veronese: Das Gastmahl im Haus des Levi (1573); Venedig, Accademia (für die Großansicht anklicken)

Am 14. Februar 1571 brach in dem venezianischen Kloster SS. Giovanni e Paolo ein Feuer aus, das erheblichen Schaden verursachte: So ging u.a. mit dem Refektorium eine Darstellung des Letzten Abendmahls von Tizian (1488–1576) in Flammen auf. Die zerstörten Gebäudeteile konnten rasch wieder aufgebaut werden, und auch ein Ersatz für das Abendmahlsbild wurde in Auftrag gegeben – jedoch nicht erneut bei Tizian, sondern bei Paolo Veronese (1528–1588), der mit Werken wie Die Hochzeit zu Kana und verschiedenen Fassungen des Gastmahls im Haus des Simon im Veneto zu Ruhm gelangt war. Die riesige, für die Rückwand des Refektoriums bestimmte Leinwand (5550 x 1280 cm) wurde am 20. April 1573 fertiggestellt (so jedenfalls lautet die Datierung auf dem Gemälde) – und rief alsbald die Inquisition auf den Plan.

Nicht der Künstler, sondern der Prior von SS. Giovanni e Paolo wurde zunächst vor die Inquisition zitiert. Er übermittelte Veronese, dass dieser grundlegende Änderungen an dem Gemälde vorzunehmen habe. Erst als deutlich wurde, dass der Künstler offenbar wenig geneigt war, diesen gleichermaßen als Rat und Warnung zu begreifenden Wünschen zu entsprechen, musste er sich selbst vor der Inquisition verantworten. Im Juli 1573 fand sich Veronese zum Verhör ein; Grund der Vernehmung war, dass man zahlreiche der lebensgroßen Gestalten auf der vielfigurigen Leinwand als „unpassend“ empfand. Der Maler hatte in den Augen der Inquisition das Bildthema in geradezu blasphemischer Weise „entstellt“, und zwar durch weitere Tischgenossen neben den Aposteln: durch den Zeremonienmeister und Bediente, durch Mohren, einen Mann, der sich mit einem Zahnstocher die Zähne reinigt, eine Gestalt mit blutender Nase, einen Narren mit Papagei, einen Hund, deutsche Landsknechte und anderes mehr, das Ganze in einer prunkvollen dreiteiligen Loggia mit Ausblick auf eine Stadtarchitektur der Renaissance. Dabei mussten deutsche Landsknechte, ganz abgesehen von ihrer Deplatziertheit beim Letzten Abendmahl, auch die Befürchtung lutherischer Unterwanderung heraufbeschwören …

Lutherische Unterwanderung durch deutsche Landsknechte?

Der Künstler wurde mit der Auflage entlassen, das Gemälde in einer Frist von drei Monaten zu überarbeiten. Doch Veronese änderte an den kritisierten Personen auf dem Bild nichts. Er ließ alles so, wie es war – und gab dem Bild lediglich einen neuen Titel: Aus dem Letzten Abendmahl wurde Das Gastmahl im Haus des Levi. Sicherheitshalber wurde die Bibelstelle gleich mit angegeben: „LUCAE CAP(ITULUM) V“. Die beanstandeten Figuren konnten dem Maler nun nicht mehr als Verstoß gegen das decorum angekreidet werden; sie waren vielmehr mit vollem Recht abgebildet, hatte sich Christus doch, wie im Lukas-Evangelium nachzulesen ist, mit Sündern zu Tisch begeben (Lukas 5,27-32). Das riesige Format und der grandiose künstlerische Luxus Veroneses standen scheinbar in umgekehrtem Verhältnis zum religiösen Gewicht des Bildthemas, mehr noch: Die biblische Erzählung schien regelrecht zum bloßen Vorwand degradiert worden zu sein. Doch die Inquisitoren waren mit dieser Lösung offensichtlich zufrieden, denn es wurden keine weiteren Schritte gegen Veronese unternommen.

Hier spielt die Musik: die drei Männer im Zentrum des Bildes

Dennoch bleibt die Frage, wie ein solches inhaltliches „Umtaufen“ möglich war, denn zum Letzten Abendmahl gehören traditionell Handlungselemente wie die Einsetzung der Eucharistie und oder die Verratsankündigung. Davon ist auf Veroneses Bild nichts zu erkennen: Die Apostel sind zu gelassen, die Atmosphäre wirkt entspannt, Christus befindet sich im Gespräch mit Johannes, das er in seinem Evangelium als Abschiedsreden Jesu überliefert. Johannes weicht in der Schilderung des Abendmahls von den Synoptikern ab. Er berichtet, dass Judas, nachdem er von Jesus als Verräter gekennzeichnet worden ist, aufsteht und den Raum verlässt. Danach hält Christus seine Abschiedsreden an die Jünger (Johannes 13,1-17,26). In Veroneses Darstellung hat Judas seinen Platz noch nicht verlassen, doch er dreht sich zu einem Pagen um, dessen Geste in diesem Zusammenhang erst verständlich wird: Der Junge zeigt in die Richtung, in der Judas den Ausgang finden wird. Dass Judas noch anwesend ist, verweist wiederum auf das Geschehen, das seinem Abtritt vorausgeht: Das eigentliche Thema des Bildes sind die Abschiedsreden.

Albrecht Dürer: Abendmahl (1523); Holzschnitt

Die Abschiedsreden Jesu sind als Bildmotiv so selten aufgegriffen worden, dass von einer nennenswerten Darstellungstradition nicht gesprochen werden kann. Was durchaus nachvollziehbar ist: Eine Rede, ohne sichtbare äußere Handlung, ist im Prinzip kein dankbares Thema für einen Maler. Erst in Albrecht Dürers Holzschnitt von 1523, dass ein Letztes Abendmahl zeigt, rückt das Thema erkennbar in den Mittelpunkt: Es besteht kein Zweifel, dass Dürer die Abschiedsreden Jesu illustrieren wollte, denn es sind nur noch elf Apostel anwesend; Judas hat die Gemeinschaft bereits verlassen (siehe meinen Post „Schmuckloses Abendmahl“).

Im Gastmahl im Haus des Levi fällt Christus nicht durch Aktion oder Gestik auf, wir sehen keinen deklamierenden Redner, wortgewaltigen Prediger oder Lehrer. Veronese hebt ihn allein durch die Komposition hervor. Sein wichtigstes Instrument ist die Symmetrie, der die Gesamtanlage des Bildes unterworfen wird. Das gleiche Kompositionsprinzip hatte Veronese bereits in seiner Hochzeit zu Kana (1592/93; heute im Louvre) verwendet. Die Symmetrie beherrscht im Levi-Gastmahl aber auch gesondert den Mittelteil. Hier nimmt Christus den Ehrenplatz in der Mitte der Arkade ein. Die sehr stabile Ordnung spiegelt die erhabene und gelöste Ruhe, die von Christus ausgeht. „Die Atmosphäre, die durch die gestalterischen Mittel erzeugt wird, veranschaulicht geradezu die Worte, die Christus unmittelbar nach dem Weggang des Judas spricht: ,Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm‘ (Joh. 13,31)“ (Gottdang 2000, S. 210). Diesen Moment zeigt uns Veronese; er hebt Christus hervor, aber ohne ihn zu entrücken oder gar zu isolieren.

Paolo Veronese: Die Hochzeit zu Kana (15..); Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken)

Christus neigt sich Johannes, seinem Lieblingsjünger und hier Stellvertreter aller Zuhörenden. In vielen Abendmahlsdarstellungen ist Johannes an die Brust Christi gesunken, oder er schläft, den Kopf auf die Arme gelegt, am Tisch. Veronese zeigt uns Johannes hellwach. Die kaum wahrnehmbare Bewegung seiner rechten Hand lässt darauf schließen, dass er nicht passiv zuhört: Er will begreifen und verinnerlichen, was er gehört hat. Ein Zwiegespräch, wie Veronese es darstellt, wird im Johannes-Evangelium allerdings nicht erwähnt. Wahrscheinlich fällt die Rolle des besonders aufmerksamen Zuhörers Johannes zu, weil er die langen Abschiedsreden für die Nachwelt aufschreiben wird.

Abschied nehmend, verspricht Jesus seine baldige Wiederkehr. Für die Zwischenzeit kündigt er das Kommen eines Helfers an, den der Vater schicken wird. Der Heilige Geist wird die Jünger leiten. Vom Hass der Welt erfahren die Apostel, von der Nachfolge Petri und seiner dreimaligen Verleugnung Christi. Immer wieder richtet Christus seine Zuhörer mit tröstenden Worten auf. Neben Johannes ist vor allem den Aposteln an den Schmalseiten der Tafel das Bemühen um ein Verstehen der Botschaft anzumerken. Der links außen sitzende Jünger horcht mit konzentriertem Blick, der am entgegengesetzten Ende der Tafel ist in sich gekehrt. Alle Teilnehmer lassen erkennen, dass die versöhnlichen Worte Christi ihre Wirkung nicht verfehlen. Die Apostel sind ernst, aber nicht traurig oder gar erschüttert, denn der Tod Jesu wird ihnen als Notwendigkeit erklärt: Nur durch die Passion Christi ist die Menschheit vom ewigen Tod zu erlösen.

Es gibt noch einen weiteren Grund für die Gelassenheit der Apostel: Rückt beim Verrat des Judas die Untat einen Einzelnen in den Mittelpunkt, wird nun die Gemeinschaft der Jünger beschworen. Der Kern der Abschiedsreden liegt in dem neuen Gebot, das Christus seinen Jüngern aufträgt: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Johannes 13,34-35). „Ihr Sinngehalt macht die Abschiedsreden Jesu zu einem überaus geeigneten Thema für ein Gemälde, das den Raum schmücken sollte, in dem die Mönche zum gemeinsamen Mahl zusammenkamen. Dort konnten sie Veroneses Bild betrachten, das ihnen die Gemeinschaft der Apostel als Vorbild anbot“ (Gottdang 2000, S. 212).

Insgesamt sitzen fünfzehn Personen an der Tafel. Einer von ihnen ist der reich gekleidete Gastgeber. Der distinguiert aussehende Herr mit dem gedankenverlorenen Blick in der Mitte der rechten Arkade dürfte wohl ebenfalls kein Apostel sein. Die Apostel werden traditionell als Männer im fortgeschrittenen oder besten Alter dargestellt, die nachlässig gepflegte Bärte tragen und ansatzweise oder ausgeprägte Stirnglatzen haben. Der dickleibige Gast, der am linken Tafelende sitzt, wird als Typus gerne von Veronese eingesetzt – er begegnet uns im Bild selbst nochmals als Koch –, aber nie als Apostel. Der gepflegte und sorgfältig frisierte Gast, der ein Stück weiter rechts zwischen den Architekturelementen sichtbar wird, entspricht in Aussehen und Verhalten (er bearbeitet seine Zähne mit einem Zahnstocher) gleichfalls nicht dem Bild eines Apostels. Wenn der korpulente Herr und sein Nachbar nur Gäste sind, fehlen jedoch zwei Apostel – die sich aber finden lassen: Links haben wir in dem stehenden Mann, der den Jünger mit dem Pilgerhut auf Christus verweist, eine typische Apostelgestalt vor uns. Der zweite gesuchte Apostel reicht, unter der rechten Arkade stehend, einem Mädchen ein Stück Brot über die Balustrade hinunter.

Einer hat verstanden und gibt das Brot weiter

Ist die Identifikation der Apostel aber richtig, sitzen nicht nur zwei, sondern sogar vier Personen zu viel am Tisch. Die Erweiterung der Tischgemeinschaft könnte darauf verweisen, dass die Apostel das Liebesgebot ihres Herrn bereits umgesetzt haben, indem weitere Gäste zur Tafel Platz eingeladen wurden – denn auch sie sollen Christ Worte hören, und zwar von ihm selbst. Veronese mischt allerdings keine Bettler, Bedienstete oder Handwerker unter die Gäste. Ihnen an der Tafel Platz einzuräumen, wäre im 16. Jahrhundert ein Verstoß gegen das „decorum“ gewesen. Daher wählte der Maler Gäste aus, die in die festliche Umgebung passen und gab ihnen einen reichen Pharisäer als Gastgeber. Trotzdem werden diejenigen, die an der Tafel fehlen, nicht vergessen: Rechts im Bild übt der bereits erwähnte ältere Apostel, der Brot verteilt, die in den Abschiedsreden von Jesus gepredigte Mildtätigkeit und Nächstenliebe. Das Weiterreichen des Brotes stellt die einzige deutliche Verknüpfung zwischen den Gästen des Abendmahles und den Statisten auf der Treppe dar; nichts sonst legt dem Betrachter nahe, eine inhaltliche Verbindung zwischen diesen Figuren und dem Geschehen bei Tisch herzustellen. Veronese hat sorgfältig darauf geachtet, dass keine skurrile Gestalt in den mittleren Bereich vordringt, den Christus dominiert.

Links von Christus sitzt Petrus, der ein Stück Lamm aus der Schüssel hebt, die vor der Dreiergruppe steht. Viele Zeitgenossen Veroneses gingen davon aus, dass das Letzte Abendmahl ein Passahmahl war. Als solches bezeichnen es übereinstimmend die Evangelisten Matthäus (26,17), Markus (14,12) und Lukas (22,8). Zum Passahmahl gehört traditionell das Passahlamm, das an den Auszug des Volkes Israels aus Ägypten erinnern soll. Diese Erzählung aus dem Alten Testament (2. Mose 12) wurde in einen typologischen Zusammenhang mit dem Abendmahl gesetzt: Das Passahmahl ist das Zeichen, das im wahren Lamm Gottes, nämlich Christus, seine Erfüllung gefunden hat. Petrus hält ein Messer in der Hand, um das Lamm zu zerschneiden – er hat daher den „Vorsitz“ an der Tafel, was als Vorwegnahme der besonderen Rolle gedeutet werden kann, die dem Apostel von Jesus zugewiesen wird: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein“ (Matthäus 16,18-19).

Nichts außer Lamm, Brot und Wein wird serviert – ein Passahmahl

Gleichzeitig gehört das Zerteilen des Lammes auch auf die profane Ebene der wirklichkeitsnahen, detailfreudigen und lebendigen Darstellung des Festgeschehens. Mit den zahlreichen Bediensteten „dürfte Veronese die Erwartungen seiner Zeitgenossen an ein Festbankett und einen perfekt organisierten, reichen Haushalt erfüllt haben“ (Gottdang 2000, S. 214). Die Gäste sind gut versorgt; der Landsknecht ist zwar der Einzige, der wirklich etwas zu sich nimmt, aber einige Gesten signalisieren, dass bei diesem Mahl gegessen und getrunken wird: Den Gästen wird Wein angeboten, Petrus teilt das Lamm auf, der Apostel an der linken Schmalseite des Tisches hält ein Weinglas, ein anderer Gast benutzt den bereits erwähnten Zahnstocher. Allerdings servieren Veroneses Pagen nur Lamm, Brot und Wein. Die Gemeinschaft hat alles, was sie für das Abendmahl braucht, mehr nicht. Der Aufwand, der betrieben wird, steht in keinem Verhältnis zur Bescheidenheit des Menüs. Die Betriebsamkeit, die festliche Pracht und die farblichen Reize, die Veronese auf seinem Gemälde entfaltet, haben immer wieder Irritationen ausgelöst. Erklärungen wurden primär im soziokulturellen Umfeld gesucht – viele Dominikaner von SS. Giovanni e Paolo stammten aus reichen Familien und waren an einen hohen Lebensstandard gewöhnt.

In den Evangelien ist nichts gesagt über die gesellschaftliche Stellung des Mannes, der Christus und den Jüngern das Abendmahl bereitete. Wir erfahren lediglich, dass Jesus zwei von ihnen zur Vorbereitung in die Stadt schickt. Nach Lukas sind es Petrus und Johannes, also die beiden, die an Veroneses Tafel die Plätze an der Seite Christi einnehmen. Das geschäftige und abwechslungsreiche, aber nicht hektische Treiben und die brillante Farbigkeit verleihen dem Geschehen eine überaus festliche, ja heitere Stimmung – sie passt zur majestätischen Gelassenheit Christi und seiner tröstlichen, ja frohen und feierlichen Botschaft und dem neuen Liebesgebot, die er seinen Jüngern verkündet.

Der Künstler findet sich und sein Bild offensichtlich ganz großartig
Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden);
Rom, Vatikanische Mussen

Übrigens, der ganz in Grün gewandete Zeremonienmeister, zwischen der ersten und zweiten Arkade platziert, gilt als Selbstbildnis Veroneses: Im vollen Bewusstsein seines herausragenden Könnens schreitet der Künstler in der Pose des Apoll vom Belvedere von dannen … (siehe meinen Post „Vollkommenheit schlechthin“).

 

Literaturhinweise

Fehl, Philipp: Veronese and the Inquisition. A study of the subject matter of the so-called ›Feast in the House of Levi‹. In: Gazette des Beaux-Arts 58 (1961), S. 325-354;

Gottdang, Andrea: Paolo Veroneses „Gastmahl im Haus des Levi“. Die Revision eines Falls. In. Das Münster 3 (2000), S. 202-217;

Grasman, Edward: On Closer Inspection –the Interrogation of Paolo Veronese. In: artibus et historiae 59 (2009), S. 125-134;

Priever, Andreas: Paolo Valiari, genannt Veronese 1528–1599. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 2000, S. 102-111;

Traeger, Jörg: Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels. Verlag C.H. Beck, München 1997, S. 403-407.

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

 

Material

 

Abendmahl. Venezianisch, 16. Jahrhundert

 

I

Als ich mein Letztes Abendmahl beendet hatte,

fünfeinhalb mal knapp dreizehn Meter,

eine Heidenarbeit, aber ganz gut bezahlt,

kamen die üblichen Fragen.

Was haben diese Ausländer zu bedeuten

mit ihren Hellebarden? Wie Ketzer

sind sie gekleidet, oder wie Deutsche.

Finden Sie es wohl schicklich,

dem heiligen Lukas

einen Zahnstocher in die Hand zu geben?

Wer hat Sie dazu angestiftet,

Mohren, Säufer und Clowns

an den Tisch Unseres Herrn zu laden?

Was soll dieser Zwerg mit dem Papagei,

was soll der schnüffelnde Hund,

und warum blutet der Mameluck aus der Nase?

Meine Herren, sprach ich, dies alles

habe ich frei erfunden zu meinem Vergnügen.

Aber die Sieben Richter der Heiligen Inquisition

raschelten mit ihren Roben

und murmelten: Überzeugt uns nicht.

 

II

Oh, ich habe bessere Bilder gemalt;

aber jener Himmel zeigt Farben,

die ihr auf keinem Himmel findet,

der nicht von mir gemalt ist;

und es gefallen mir diese Köche

mit ihren riesigen Metzgersmessern,

diese Leute mit Diademen, mit Reiherbüschen,

pelzverbrämten, gezaddelten Hauben

und perlenbestickten Turbanen;

auch jene Vermummten gehören dazu,

die auf die entferntesten Dächer

meiner Alabaster-Paläste geklettert sind

und sich über die höchsten Brüstungen beugen.

Wonach sie Ausschau halten,

das weiß ich nicht. Aber weder euch

noch den Heiligen schenken sie einen Blick.

 

III

Wie oft soll ich es euch noch sagen!

Es gibt keine Kunst ohne das Vergnügen.

Das gilt auch für die endlosen Kreuzigungen,

Sintfluten und Bethlehemitischen Kindermorde,

die ihr, ich weiß nicht warum,

bei mir bestellt.

Als die Seufzer der Kritiker,

die Spitzfindigkeiten der Inquisitoren

und die Schnüffeleien der Schriftgelehrten

mir endlich zu dumm wurden,

taufte ich das Letzte Abendmahl um

und nannte es

Ein Dîner bei Herrn Levi.

 

IV

Wir werden ja sehen, wer den längeren Atem hat.

Zum Beispiel meine Heilige Anna selbdritt.

Kein sehr amüsantes Sujet.

Doch unter den Thron,

auf den herrlich gemusterten Marmorboden

in Sandrosa, Schwarz und Malachit,

malte ich, um das Ganze zu retten,

eine Suppenschildkröte mit rollenden Augen,

zierlichen Füßen und einem Panzer

aus halb durchsichtigem Schildpatt:

eine wunderbare Idee.

Wie ein riesiger, kunstvoll gewölbter Kamm,

topasfarben, glühte sie in der Sonne.

 

V

Als ich sie kriechen sah,

fielen mir meine Feinde ein.

Ich hörte das Gebrabbel der Galeristen,

das Zischeln der Zeichenlehrer

und das Rülpsen der Besserwisser.

Ich nahm meinen Pinsel zur Hand

und begrub das Geschöpf,

bevor die Schmarotzer anfangen konnten,

mir zu erklären, was es bedeute,

unter sorgfältig gemalten Fliesen

aus schwarzen, grünem und rosa Marmor.

Die Heilige Anna ist nicht mein berühmtestes,

aber vielleicht mein bestes Bild.

Keiner außer mir weiß, warum.

 

Hans Magnus Enzensberger

(aus: Hans Magnus Enzensberger: Der Untergang der Titanic. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1978)


Samstag, 13. Juli 2024

Michelangelo Merisi da Caravaggio – der Quentin Tarantino der Barockmalerei

Caravaggio: David mit dem Haupt Goliaths (1609/10); Rom, Galleria Borghese
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Ein nachdenklicher junger Mann betrachtet sinnierend das bluttriefende Haupt, das er soeben vom Rumpf getrennt hat. Es handelt sich um den biblischen David, der Kopf ist der des riesenhaften Philister-Kriegers Goliath, den der junge Schafhirte mit einem gezielten Steinwurf töten konnte (1. Samuel 17). Einem Henker nach vollbrachter Hinrichtung gleich hält David den Kopf an den Haaren empor. Es ist jedoch kein Publikum anwesend – außer dem Betrachter des Bildes. Den Kopf ein wenig geneigt, den Blick gesenkt, lässt sich an Davis Gesichtszügen kein Triumphgefühl ablesen. „Dieser David scheint den Auftrag im Dienste seines Volkes ausgeführt zu haben, ohne den Sieg als eine persönliche Genugtuung zu empfinden“ (Held 2007, S. 173).
Der biblische Held steht als Dreiviertelfigur in leichter Schrägansicht vor einem vollständig dunklen Hintergrund. Oben links ist schemenhaft ein Vorhang angedeutet. David trägt eine ockerfarbene Hose und ein dünnes weißes Hemd, das den nackten Oberkörper nur zur Hälfte bedeckt. In der rechten Hand hält der Hirtenknabe das Schwert, mit dem er Goliath enthauptet hat – die Klinge blitzt hell im Licht auf. Die Waffe und der ausgestreckte linke Arm sind parallel ausgerichtet; Davids Körper scheint sich nach links zu bewegen, während sein Kopf in Gegenrichtung auf das abgetrennte Haupt herabblickt.
Das Gemälde entstand 1609 oder 1610 während des letzten Lebensjahres Caravaggios in Neapel. Die Faszination des Bildes rührt zu einem großen Teil aus der nachdrücklichen Präsenz des abgeschlagenen Hauptes. „Dem Betrachter entgegengestreckt, stellt diese makabre Kopftrophäe die Figur Davids geradezu in den Schatten“ (Lang 2001, S. 132). Der abgetrennte Kopf ist kein bloßes Attribut des jugendlichen Helden, sondern das ausdrucksstärkste Bildelement. Goliaths markantes Haupt nimmt die Protagonistenrolle vor David ein. Freilich ist der Kopf des Riesen Goliath größer als der seines Bezwingers. Doch nicht der Größenunterschied ist der Grund dafür, dass unsere Aufmerksamkeit vor allem dem Haupt des Philisters gilt. Die schockierende Präsenz des abgeschlagenen Kopfes rührt von den soeben brechenden, aber in diesem Moment noch lebenden Augen her, wobei das eine voll geöffnet, das andere halb geschlossen ist. Diese Asymmetrie gibt dem Gesicht einen entstellten Ausdruck. Die Stirnwunde dagegen ist ohne jeden Horroreffekt relativ zurückhaltend gestaltet. Zwar trieft das Blut in Strömen aus der dem Blick entzogenen Schnittfläche am Hals, aber über das Gesicht läuft es nicht. Die zusammengezogene Stirn und der schmerzlich geöffnete Mund sind Elemente, die auch an Caravaggios anderen abgeschlagenen Köpfen zu finden sind.

Caravaggio: David mit dem Haupt Goliaths (1605); Wien, Kunsthistorisches Museum

Caravaggio hatte das gleiche Motiv bereits 1605 dargestellt, allerdings in einem Querformat. David erscheint auch hier als ärmlich gekleideter, doch schöner Jüngling. Das seinen Oberkörper nur halb bedeckende Hemd erinnert an antike Kleidungsstücke; die Tasche, die er am Rücken trägt, weist ihn als Hirten aus, das Schwert Goliaths schultert er wie einen Hirtenstab. Die untersichtige Darstellung gibt zu verstehen, dass er zum Helden geworden ist. Mit Blick und Geste richten sich an eine für uns nicht sichtbare Person: Ist es König Saul selbst, dem er den Kopf des getöteten Feindes präsentiert? Wie das spätere Gemälde lebt das Bild vom Kontrast zwischen der Schönheit des Jünglings und der grausigen Siegestrophäe, aus der noch Blut fließt und die beinahe aus dem Bild zu ragen scheint.

Caravaggio: David mit dem Haupt des Goliath (1598/99); Madrid, Prado

Und es gibt von Caravaggio noch eine weitere Fassung des Themas, die sich heute im Prado befindet und um 1598/99 entstanden sein dürfte. Die ursprüngliche Leinwand wurde allerdings an beiden Seiten beschnitten. Im Unterschied zu den späteren Fassungen in Wien und Rom hat Caravaggio hier, trotz des grausigen Bildmotivs, einen Moment relativer Ruhe dargestellt. David hat sein linkes Knie auf den mächtigen Rumpf Goliaths gesetzt und beugt sich über das bereits abgeschlagene Haupt, um die Haare des Philisters zusammenzubinden – an dieser Schnur wird er den Kopf dann davontragen. Der Betrachter blickt auf die Schulterpartie des bildeinwärts gelagerten, sich im Dunkel verlierenden Riesen, dessen im Tod erstarrte Hand am linken Bildrand hervorragt. Sein bärtiger Kopf ist uns in Gegenrichtung, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen, zugewandt. Deutlich ist die tödliche Stirnwunde erkennbar. 

Nach einer Restaurierung im Jahr 2023 ist nun wieder ein Bein Goliaths sichtbar, das sich hinter David zum oberen Leinwandabschluss erhebt, ebenso konnte der zur geballten Faust gehörige Arm wiederhergestellt werden. In vorderster Bildebene liegen, um auf den Hergang des Geschehens zu verweisen, einige Steine und das gewaltige Schwert Goliaths. Die bedächtige Ruhe, mit der David vorgeht, wirkt fast so, als sei ihm die ganze Tragweite und Bedeutung seiner heroischen Tat noch nicht bewusst.

Zurück zu dem Gemälde aus der Galleria Borghese: Der Schrecken, den die Miene des enthaupteten Goliaths einflößt, „beruht nicht zuletzt auf der Porträthaftigkeit des prägnanten Gesichts“ (Lang 2001, S. 133). Schon im 17. Jahrhundert hat man in diesem Kopf ein Selbstbildnis Caravaggios gesehen. Vergleiche mit Porträts und anderen Selbstdarstellungen des Künstlers bestätigen diese Überlieferung.

Ottavio Leoni: Porträt Caravaggios (um 1621)
Diese Form der Selbstdarstellung kann sich auf ein großes Vorbild berufen: Michelangelo hat in seinem Jüngsten Gericht an der Stirnwand der Sixtinischen Kapelle die abgezogene Haut des Märtyrers Bartholomäus mit seinem eigenen Gesicht versehen. Auch der Kopf des Johannes auf Tizians Bild der Salome (ca. 1515) wurde als Selbstporträt des Künstlers betrachtet. Sich in der Opferrolle selbst darzustellen scheint also zur Zeit Caravaggios nicht mehr neu gewesen zu sein. Aber Tizians Kopf des Johannes bietet keine aufdringliche Frontalansicht, und außerdem handelt es sich sowohl bei Bartholomäus wie auch bei dem Täufer um religiöse Identifikationsfiguren. Caravaggio dagegen verleiht seine Züge einem Feindbild. Andererseits vermutet man auch in dem abgeschlagenen Haupt des Holofernes an der Decke der Sixtina ein Kryptoporträt Michelangelos. David M. Stone geht davon aus, dass sich Caravaggio mit seinem Sixtina-Zitat vor allem als Michelangelo moderno inszenieren will: „What better way to construct his artistic identity, taunt critics who accused him of being a mere ape of nature, or intimidate rival artists than strike this arrogant pose as a new Michelangelo?“ (Stone 2006, S. 43).
Die abgezogene Haut des Märtyrers Bartholomäus
 trägt die Gesichtszüge Michelangelos
Auch im abgeschlagenen Haupt des Holofernes in der Judith-Episode wird ein Kryptoporträt Michelangelos vermutet
Tizian: Salome mit dem Haupt des Täufers (um 1515); Rom, Galleria Doria Pamphilij
Caravaggios Identifizierung mit der Negativgestalt des Goliath hat zu den unterschiedlichsten Interpretationen herausgefordert. Seine Neigung zur Gewalttätigkeit ist durch Dokumente belegt; 1606 war er wegen eines Totschlags aus Rom geflohen. Herwarth Röttgen geht in seiner Deutung unter Bezug auf Sigmund Freud von einem unbewussten Strafbedürfnis Caravaggios aus, in dem sich ein Schuldgefühl manifestiere (Röttgen 1974, S. 210). Walther K. Lang sieht das entleibte Haupt wiederum in erster Linie als Concetto, als kalkulierten Überraschungseffekt, der uns in Staunen versetzen soll: „Noch in der demonstrativen Selbstenthauptung liegt die Absicht, den Betrachter zu fesseln, ihn durch den eigenen Medusenblick zu versteinern, sprich: zu beherrschen“ (Lang 2001, S. 136). Sybille Ebert-Schifferer ist der Ansicht, Caravaggio habe das Bild dem mächtigen Papstneffen Scipione Borghese zugedacht (in dessen Besitz das Bild 1613 erstmals erwähnt wird), um seine Begnadigung zu befördern, komme es doch auf den ersten Blick einer schockierenden Selbsterniedrigung gleich. Mit einem geistreichen Einfall „vollzieht Caravaggio seine Hinrichtung stellvertretend im Kunstwerk und bringt sich mit der Bitte um nachdenkliche Milde selbst dar“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 211).
Guido Reni: David mit dem Haupt Goliaths (1605/06); Paris, Louvre
Benvenuto Cellini: Perseus (1545-1554); Florenz; Piazza della Signoria
In großer zeitlicher Nähe zu Caravaggios David-Versionen in Wien und Rom hat der Bologneser Maler Guido Reni (1575–1642) ebenfalls einen David mit dem Haupt Goliaths geschaffen. Von 1600 bis 1614 hielt sich Reni vorrangig in Rom auf; sein David, der sich heute im Louvre befindet, wird auf 1605/06 datiert, und bis heute ist unklar, wer von den beiden Künstlern das Gemälde des anderen als Anregung für seine Komposition genutzt hat.
Caravaggios römischer David erinnert darüber hinaus an eine der berühmtesten Renaissance-Statuen überhaupt: nämlich an Benvenuto Cellinis Perseus in Florenz (siehe meinen Post Cellinis Medusentöter“). Mit einer ähnlichen Geste wie Caravaggios David präsentiert uns der bronzene Perseus den abgeschlagenen Kopf der Medusa.
Valentin de Boulogne: David mit dem Haupt Goliaths (um 1615/16); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Auch Valentin de Boulogne (1591–1632), einer der wichtigsten französischen Caravaggisten, der um 1613 nach Rom übersiedelte, hat das Motiv des abgetrennten Goliath-Hauptes aufgegriffen. Der Maler zeigt David, flankiert von zwei Soldaten in zeitgenössischer Bekleidung, frontal dem Betrachter gegenüber und nah an den Bildvordergrund gerückt. Der Jüngling wirkt nachdenklich, der Blick ist nach innen gerichtet, weder Mimik noch Gestik lassen Triumphgefühle erkennen. Beinahe zärtlich stützt er mit seiner Rechten das kolossale Haupt Goliaths; statt der üblichen Kopfwunde verweist das aus Hals und Nase tropfende Blut auf die vollbrachte Tat. 
Tanzio da Varallo: David mit dem Haupt Goliaths (1616);
Varallo, Palazzo dei Musei
Tanzio da Varallo: David mit dem Haupt Goliaths (um 1620);
Varallo, Palazzo dei Musei
Von Tanzio da Varallo (1575–1633) kennen wir zwei Gemälde mit abgetrennten Goliath-Köpfen, die ohne Zweifel von Caravaggio angeregt sind: Das erste, 1616 entstanden, ist als Hochformat und dem nach rechts geneigten Haupt Davids dem Vorbild aus der Galleria Borghese recht nahe; bemerkenswert sind besonders der übergroße Schädel des Riesen und der verstört wirkende Gesichtsausdruck des Hirtenjungen. Das zweite, spätere Gemälde zeigt David als muskulösen Helden, der im Begriff ist, das soeben vom Körper abgetrennte Haupt hochzuheben. Der
überlängte, diagonal durch das Bild geführte linke Arm dominiert mit seiner angespannten Muskulatur die Komposition und bildet mit dem Schwert in seiner rechten Hand eine Kreuzform – wobei die phallische Anmutung des Schwertes noch durch das Paar Steine verstärkt wird, die in einem Netz an Davids Hüfte hängen.
Jusepe de Ribera: David mit dem Haupt Goliaths (um 1620); Privatbesitz
Simon Vouet: David mit dem Haupt Goliaths (um 1621); Genua Palazzo Bianco
Dass Darstellungen Davids als Einzelfigur mit dem Haupt Goliaths bei den Caravaggisten außergewöhnlich beliebt waren, belegen beispielhaft zwei Gemälde von Simon Vouet (1590–1649) und Jusepe de Ribera (1591–1652), die beide um 1615/16 in Rom arbeiteten. Ihre David und Goliath-Bilder sind eng mit Caravaggios Komposition verwandt: Es handelt sich ebenfalls um Kniestücke in Hochformat, und auch bei ihnen hält David das große Schwert in der rechten und das riesige Haupt in der linken Hand. Während jedoch Caravaggios David den Kopf Goliaths hoch und von sich weg hält und ihn dabei anschaut, berührt das Haupt bei Vouet und Ribera den Körper des jungen David und ruht dabei auf einer nicht näher bestimmten Unterlage. David blickt bei ihnen aus dem Bild, ohne dass der Betrachter einen Hinweis erhält, wem oder was dieser Blick gilt.

Literaturhinweise
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Ebert, Bernd/Helmus, Liesbeth M. (Hrsg.), Utrecht, Caravaggio und Europa. Hirmer Verlag, München 2018, S. 220-231;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage);
Lang, Walther K.: Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei von Caravaggio bis Giordano. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001;
Özel, Çiğdem:Valentin de Boulogne; David mit dem Haupt Goliaths. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 111;
Pepper, D. Stephen: Guido Reni’s Davids: The Triumph of Illumination. In: artibus & historiae 25 (1992), S. 129-144;
Pichler, Wolfram: Michelangelo Merisi da Caravaggio, David mit dem Haupt Goliaths. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 107;
Röttgen, Herwarth: Il Caravaggio. Ricerche e Interpretazioni. Rom 1974;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 76 und 283-284;
Stone, David M.: Self and Myth in Caravaggio’s David and Goliath. In: Genevieve Warwick (Hrsg.), Caravaggio. Realism, Rebellion, Reception. University of Delaware Press, Newark 2006, S. 36-46.

(zuletzt bearbeitet am 22. Juli 2024)