Sonntag, 14. Juli 2024

Feierliche Botschaft in festlicher Runde – Paolo Veroneses „Gastmahl im Haus des Levi“

Paolo Veronese: Das Gastmahl im Haus des Levi (1573); Venedig, Accademia (für die Großansicht anklicken)

Am 14. Februar 1571 brach in dem venezianischen Kloster SS. Giovanni e Paolo ein Feuer aus, das erheblichen Schaden verursachte: So ging u.a. mit dem Refektorium eine Darstellung des Letzten Abendmahls von Tizian (1488–1576) in Flammen auf. Die zerstörten Gebäudeteile konnten rasch wieder aufgebaut werden, und auch ein Ersatz für das Abendmahlsbild wurde in Auftrag gegeben – jedoch nicht erneut bei Tizian, sondern bei Paolo Veronese (1528–1588), der mit Werken wie Die Hochzeit zu Kana und verschiedenen Fassungen des Gastmahls im Haus des Simon im Veneto zu Ruhm gelangt war. Die riesige, für die Rückwand des Refektoriums bestimmte Leinwand (5550 x 1280 cm) wurde am 20. April 1573 fertiggestellt (so jedenfalls lautet die Datierung auf dem Gemälde) – und rief alsbald die Inquisition auf den Plan.

Nicht der Künstler, sondern der Prior von SS. Giovanni e Paolo wurde zunächst vor die Inquisition zitiert. Er übermittelte Veronese, dass dieser grundlegende Änderungen an dem Gemälde vorzunehmen habe. Erst als deutlich wurde, dass der Künstler offenbar wenig geneigt war, diesen gleichermaßen als Rat und Warnung zu begreifenden Wünschen zu entsprechen, musste er sich selbst vor der Inquisition verantworten. Im Juli 1573 fand sich Veronese zum Verhör ein; Grund der Vernehmung war, dass man zahlreiche der lebensgroßen Gestalten auf der vielfigurigen Leinwand als „unpassend“ empfand. Der Maler hatte in den Augen der Inquisition das Bildthema in geradezu blasphemischer Weise „entstellt“, und zwar durch weitere Tischgenossen neben den Aposteln: durch den Zeremonienmeister und Bediente, durch Mohren, einen Mann, der sich mit einem Zahnstocher die Zähne reinigt, eine Gestalt mit blutender Nase, einen Narren mit Papagei, einen Hund, deutsche Landsknechte und anderes mehr, das Ganze in einer prunkvollen dreiteiligen Loggia mit Ausblick auf eine Stadtarchitektur der Renaissance. Dabei mussten deutsche Landsknechte, ganz abgesehen von ihrer Deplatziertheit beim Letzten Abendmahl, auch die Befürchtung lutherischer Unterwanderung heraufbeschwören …

Lutherische Unterwanderung durch deutsche Landsknechte?

Der Künstler wurde mit der Auflage entlassen, das Gemälde in einer Frist von drei Monaten zu überarbeiten. Doch Veronese änderte an den kritisierten Personen auf dem Bild nichts. Er ließ alles so, wie es war – und gab dem Bild lediglich einen neuen Titel: Aus dem Letzten Abendmahl wurde Das Gastmahl im Haus des Levi. Sicherheitshalber wurde die Bibelstelle gleich mit angegeben: „LUCAE CAP(ITULUM) V“. Die beanstandeten Figuren konnten dem Maler nun nicht mehr als Verstoß gegen das decorum angekreidet werden; sie waren vielmehr mit vollem Recht abgebildet, hatte sich Christus doch, wie im Lukas-Evangelium nachzulesen ist, mit Sündern zu Tisch begeben (Lukas 5,27-32). Das riesige Format und der grandiose künstlerische Luxus Veroneses standen scheinbar in umgekehrtem Verhältnis zum religiösen Gewicht des Bildthemas, mehr noch: Die biblische Erzählung schien regelrecht zum bloßen Vorwand degradiert worden zu sein. Doch die Inquisitoren waren mit dieser Lösung offensichtlich zufrieden, denn es wurden keine weiteren Schritte gegen Veronese unternommen.

Hier spielt die Musik: die drei Männer im Zentrum des Bildes

Dennoch bleibt die Frage, wie ein solches inhaltliches „Umtaufen“ möglich war, denn zum Letzten Abendmahl gehören traditionell Handlungselemente wie die Einsetzung der Eucharistie und oder die Verratsankündigung. Davon ist auf Veroneses Bild nichts zu erkennen: Die Apostel sind zu gelassen, die Atmosphäre wirkt entspannt, Christus befindet sich im Gespräch mit Johannes, das er in seinem Evangelium als Abschiedsreden Jesu überliefert. Johannes weicht in der Schilderung des Abendmahls von den Synoptikern ab. Er berichtet, dass Judas, nachdem er von Jesus als Verräter gekennzeichnet worden ist, aufsteht und den Raum verlässt. Danach hält Christus seine Abschiedsreden an die Jünger (Johannes 13,1-17,26). In Veroneses Darstellung hat Judas seinen Platz noch nicht verlassen, doch er dreht sich zu einem Pagen um, dessen Geste in diesem Zusammenhang erst verständlich wird: Der Junge zeigt in die Richtung, in der Judas den Ausgang finden wird. Dass Judas noch anwesend ist, verweist wiederum auf das Geschehen, das seinem Abtritt vorausgeht: Das eigentliche Thema des Bildes sind die Abschiedsreden.

Albrecht Dürer: Abendmahl (1523); Holzschnitt

Die Abschiedsreden Jesu sind als Bildmotiv so selten aufgegriffen worden, dass von einer nennenswerten Darstellungstradition nicht gesprochen werden kann. Was durchaus nachvollziehbar ist: Eine Rede, ohne sichtbare äußere Handlung, ist im Prinzip kein dankbares Thema für einen Maler. Erst in Albrecht Dürers Holzschnitt von 1523, dass ein Letztes Abendmahl zeigt, rückt das Thema erkennbar in den Mittelpunkt: Es besteht kein Zweifel, dass Dürer die Abschiedsreden Jesu illustrieren wollte, denn es sind nur noch elf Apostel anwesend; Judas hat die Gemeinschaft bereits verlassen (siehe meinen Post „Schmuckloses Abendmahl“).

Im Gastmahl im Haus des Levi fällt Christus nicht durch Aktion oder Gestik auf, wir sehen keinen deklamierenden Redner, wortgewaltigen Prediger oder Lehrer. Veronese hebt ihn allein durch die Komposition hervor. Sein wichtigstes Instrument ist die Symmetrie, der die Gesamtanlage des Bildes unterworfen wird. Das gleiche Kompositionsprinzip hatte Veronese bereits in seiner Hochzeit zu Kana (1592/93; heute im Louvre) verwendet. Die Symmetrie beherrscht im Levi-Gastmahl aber auch gesondert den Mittelteil. Hier nimmt Christus den Ehrenplatz in der Mitte der Arkade ein. Die sehr stabile Ordnung spiegelt die erhabene und gelöste Ruhe, die von Christus ausgeht. „Die Atmosphäre, die durch die gestalterischen Mittel erzeugt wird, veranschaulicht geradezu die Worte, die Christus unmittelbar nach dem Weggang des Judas spricht: ,Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm‘ (Joh. 13,31)“ (Gottdang 2000, S. 210). Diesen Moment zeigt uns Veronese; er hebt Christus hervor, aber ohne ihn zu entrücken oder gar zu isolieren.

Paolo Veronese: Die Hochzeit zu Kana (15..); Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken)

Christus neigt sich Johannes, seinem Lieblingsjünger und hier Stellvertreter aller Zuhörenden. In vielen Abendmahlsdarstellungen ist Johannes an die Brust Christi gesunken, oder er schläft, den Kopf auf die Arme gelegt, am Tisch. Veronese zeigt uns Johannes hellwach. Die kaum wahrnehmbare Bewegung seiner rechten Hand lässt darauf schließen, dass er nicht passiv zuhört: Er will begreifen und verinnerlichen, was er gehört hat. Ein Zwiegespräch, wie Veronese es darstellt, wird im Johannes-Evangelium allerdings nicht erwähnt. Wahrscheinlich fällt die Rolle des besonders aufmerksamen Zuhörers Johannes zu, weil er die langen Abschiedsreden für die Nachwelt aufschreiben wird.

Abschied nehmend, verspricht Jesus seine baldige Wiederkehr. Für die Zwischenzeit kündigt er das Kommen eines Helfers an, den der Vater schicken wird. Der Heilige Geist wird die Jünger leiten. Vom Hass der Welt erfahren die Apostel, von der Nachfolge Petri und seiner dreimaligen Verleugnung Christi. Immer wieder richtet Christus seine Zuhörer mit tröstenden Worten auf. Neben Johannes ist vor allem den Aposteln an den Schmalseiten der Tafel das Bemühen um ein Verstehen der Botschaft anzumerken. Der links außen sitzende Jünger horcht mit konzentriertem Blick, der am entgegengesetzten Ende der Tafel ist in sich gekehrt. Alle Teilnehmer lassen erkennen, dass die versöhnlichen Worte Christi ihre Wirkung nicht verfehlen. Die Apostel sind ernst, aber nicht traurig oder gar erschüttert, denn der Tod Jesu wird ihnen als Notwendigkeit erklärt: Nur durch die Passion Christi ist die Menschheit vom ewigen Tod zu erlösen.

Es gibt noch einen weiteren Grund für die Gelassenheit der Apostel: Rückt beim Verrat des Judas die Untat einen Einzelnen in den Mittelpunkt, wird nun die Gemeinschaft der Jünger beschworen. Der Kern der Abschiedsreden liegt in dem neuen Gebot, das Christus seinen Jüngern aufträgt: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Johannes 13,34-35). „Ihr Sinngehalt macht die Abschiedsreden Jesu zu einem überaus geeigneten Thema für ein Gemälde, das den Raum schmücken sollte, in dem die Mönche zum gemeinsamen Mahl zusammenkamen. Dort konnten sie Veroneses Bild betrachten, das ihnen die Gemeinschaft der Apostel als Vorbild anbot“ (Gottdang 2000, S. 212).

Insgesamt sitzen fünfzehn Personen an der Tafel. Einer von ihnen ist der reich gekleidete Gastgeber. Der distinguiert aussehende Herr mit dem gedankenverlorenen Blick in der Mitte der rechten Arkade dürfte wohl ebenfalls kein Apostel sein. Die Apostel werden traditionell als Männer im fortgeschrittenen oder besten Alter dargestellt, die nachlässig gepflegte Bärte tragen und ansatzweise oder ausgeprägte Stirnglatzen haben. Der dickleibige Gast, der am linken Tafelende sitzt, wird als Typus gerne von Veronese eingesetzt – er begegnet uns im Bild selbst nochmals als Koch –, aber nie als Apostel. Der gepflegte und sorgfältig frisierte Gast, der ein Stück weiter rechts zwischen den Architekturelementen sichtbar wird, entspricht in Aussehen und Verhalten (er bearbeitet seine Zähne mit einem Zahnstocher) gleichfalls nicht dem Bild eines Apostels. Wenn der korpulente Herr und sein Nachbar nur Gäste sind, fehlen jedoch zwei Apostel – die sich aber finden lassen: Links haben wir in dem stehenden Mann, der den Jünger mit dem Pilgerhut auf Christus verweist, eine typische Apostelgestalt vor uns. Der zweite gesuchte Apostel reicht, unter der rechten Arkade stehend, einem Mädchen ein Stück Brot über die Balustrade hinunter.

Einer hat verstanden und gibt das Brot weiter

Ist die Identifikation der Apostel aber richtig, sitzen nicht nur zwei, sondern sogar vier Personen zu viel am Tisch. Die Erweiterung der Tischgemeinschaft könnte darauf verweisen, dass die Apostel das Liebesgebot ihres Herrn bereits umgesetzt haben, indem weitere Gäste zur Tafel Platz eingeladen wurden – denn auch sie sollen Christ Worte hören, und zwar von ihm selbst. Veronese mischt allerdings keine Bettler, Bedienstete oder Handwerker unter die Gäste. Ihnen an der Tafel Platz einzuräumen, wäre im 16. Jahrhundert ein Verstoß gegen das „decorum“ gewesen. Daher wählte der Maler Gäste aus, die in die festliche Umgebung passen und gab ihnen einen reichen Pharisäer als Gastgeber. Trotzdem werden diejenigen, die an der Tafel fehlen, nicht vergessen: Rechts im Bild übt der bereits erwähnte ältere Apostel, der Brot verteilt, die in den Abschiedsreden von Jesus gepredigte Mildtätigkeit und Nächstenliebe. Das Weiterreichen des Brotes stellt die einzige deutliche Verknüpfung zwischen den Gästen des Abendmahles und den Statisten auf der Treppe dar; nichts sonst legt dem Betrachter nahe, eine inhaltliche Verbindung zwischen diesen Figuren und dem Geschehen bei Tisch herzustellen. Veronese hat sorgfältig darauf geachtet, dass keine skurrile Gestalt in den mittleren Bereich vordringt, den Christus dominiert.

Links von Christus sitzt Petrus, der ein Stück Lamm aus der Schüssel hebt, die vor der Dreiergruppe steht. Viele Zeitgenossen Veroneses gingen davon aus, dass das Letzte Abendmahl ein Passahmahl war. Als solches bezeichnen es übereinstimmend die Evangelisten Matthäus (26,17), Markus (14,12) und Lukas (22,8). Zum Passahmahl gehört traditionell das Passahlamm, das an den Auszug des Volkes Israels aus Ägypten erinnern soll. Diese Erzählung aus dem Alten Testament (2. Mose 12) wurde in einen typologischen Zusammenhang mit dem Abendmahl gesetzt: Das Passahmahl ist das Zeichen, das im wahren Lamm Gottes, nämlich Christus, seine Erfüllung gefunden hat. Petrus hält ein Messer in der Hand, um das Lamm zu zerschneiden – er hat daher den „Vorsitz“ an der Tafel, was als Vorwegnahme der besonderen Rolle gedeutet werden kann, die dem Apostel von Jesus zugewiesen wird: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein“ (Matthäus 16,18-19).

Nichts außer Lamm, Brot und Wein wird serviert – ein Passahmahl

Gleichzeitig gehört das Zerteilen des Lammes auch auf die profane Ebene der wirklichkeitsnahen, detailfreudigen und lebendigen Darstellung des Festgeschehens. Mit den zahlreichen Bediensteten „dürfte Veronese die Erwartungen seiner Zeitgenossen an ein Festbankett und einen perfekt organisierten, reichen Haushalt erfüllt haben“ (Gottdang 2000, S. 214). Die Gäste sind gut versorgt; der Landsknecht ist zwar der Einzige, der wirklich etwas zu sich nimmt, aber einige Gesten signalisieren, dass bei diesem Mahl gegessen und getrunken wird: Den Gästen wird Wein angeboten, Petrus teilt das Lamm auf, der Apostel an der linken Schmalseite des Tisches hält ein Weinglas, ein anderer Gast benutzt den bereits erwähnten Zahnstocher. Allerdings servieren Veroneses Pagen nur Lamm, Brot und Wein. Die Gemeinschaft hat alles, was sie für das Abendmahl braucht, mehr nicht. Der Aufwand, der betrieben wird, steht in keinem Verhältnis zur Bescheidenheit des Menüs. Die Betriebsamkeit, die festliche Pracht und die farblichen Reize, die Veronese auf seinem Gemälde entfaltet, haben immer wieder Irritationen ausgelöst. Erklärungen wurden primär im soziokulturellen Umfeld gesucht – viele Dominikaner von SS. Giovanni e Paolo stammten aus reichen Familien und waren an einen hohen Lebensstandard gewöhnt.

In den Evangelien ist nichts gesagt über die gesellschaftliche Stellung des Mannes, der Christus und den Jüngern das Abendmahl bereitete. Wir erfahren lediglich, dass Jesus zwei von ihnen zur Vorbereitung in die Stadt schickt. Nach Lukas sind es Petrus und Johannes, also die beiden, die an Veroneses Tafel die Plätze an der Seite Christi einnehmen. Das geschäftige und abwechslungsreiche, aber nicht hektische Treiben und die brillante Farbigkeit verleihen dem Geschehen eine überaus festliche, ja heitere Stimmung – sie passt zur majestätischen Gelassenheit Christi und seiner tröstlichen, ja frohen und feierlichen Botschaft und dem neuen Liebesgebot, die er seinen Jüngern verkündet.

Der Künstler findet sich und sein Bild offensichtlich ganz großartig
Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden);
Rom, Vatikanische Mussen

Übrigens, der ganz in Grün gewandete Zeremonienmeister, zwischen der ersten und zweiten Arkade platziert, gilt als Selbstbildnis Veroneses: Im vollen Bewusstsein seines herausragenden Könnens schreitet der Künstler in der Pose des Apoll vom Belvedere von dannen … (siehe meinen Post „Vollkommenheit schlechthin“).

 

Literaturhinweise

Fehl, Philipp: Veronese and the Inquisition. A study of the subject matter of the so-called ›Feast in the House of Levi‹. In: Gazette des Beaux-Arts 58 (1961), S. 325-354;

Gottdang, Andrea: Paolo Veroneses „Gastmahl im Haus des Levi“. Die Revision eines Falls. In. Das Münster 3 (2000), S. 202-217;

Grasman, Edward: On Closer Inspection –the Interrogation of Paolo Veronese. In: artibus et historiae 59 (2009), S. 125-134;

Priever, Andreas: Paolo Valiari, genannt Veronese 1528–1599. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 2000, S. 102-111;

Traeger, Jörg: Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels. Verlag C.H. Beck, München 1997, S. 403-407.

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

 

Material

 

Abendmahl. Venezianisch, 16. Jahrhundert

 

I

Als ich mein Letztes Abendmahl beendet hatte,

fünfeinhalb mal knapp dreizehn Meter,

eine Heidenarbeit, aber ganz gut bezahlt,

kamen die üblichen Fragen.

Was haben diese Ausländer zu bedeuten

mit ihren Hellebarden? Wie Ketzer

sind sie gekleidet, oder wie Deutsche.

Finden Sie es wohl schicklich,

dem heiligen Lukas

einen Zahnstocher in die Hand zu geben?

Wer hat Sie dazu angestiftet,

Mohren, Säufer und Clowns

an den Tisch Unseres Herrn zu laden?

Was soll dieser Zwerg mit dem Papagei,

was soll der schnüffelnde Hund,

und warum blutet der Mameluck aus der Nase?

Meine Herren, sprach ich, dies alles

habe ich frei erfunden zu meinem Vergnügen.

Aber die Sieben Richter der Heiligen Inquisition

raschelten mit ihren Roben

und murmelten: Überzeugt uns nicht.

 

II

Oh, ich habe bessere Bilder gemalt;

aber jener Himmel zeigt Farben,

die ihr auf keinem Himmel findet,

der nicht von mir gemalt ist;

und es gefallen mir diese Köche

mit ihren riesigen Metzgersmessern,

diese Leute mit Diademen, mit Reiherbüschen,

pelzverbrämten, gezaddelten Hauben

und perlenbestickten Turbanen;

auch jene Vermummten gehören dazu,

die auf die entferntesten Dächer

meiner Alabaster-Paläste geklettert sind

und sich über die höchsten Brüstungen beugen.

Wonach sie Ausschau halten,

das weiß ich nicht. Aber weder euch

noch den Heiligen schenken sie einen Blick.

 

III

Wie oft soll ich es euch noch sagen!

Es gibt keine Kunst ohne das Vergnügen.

Das gilt auch für die endlosen Kreuzigungen,

Sintfluten und Bethlehemitischen Kindermorde,

die ihr, ich weiß nicht warum,

bei mir bestellt.

Als die Seufzer der Kritiker,

die Spitzfindigkeiten der Inquisitoren

und die Schnüffeleien der Schriftgelehrten

mir endlich zu dumm wurden,

taufte ich das Letzte Abendmahl um

und nannte es

Ein Dîner bei Herrn Levi.

 

IV

Wir werden ja sehen, wer den längeren Atem hat.

Zum Beispiel meine Heilige Anna selbdritt.

Kein sehr amüsantes Sujet.

Doch unter den Thron,

auf den herrlich gemusterten Marmorboden

in Sandrosa, Schwarz und Malachit,

malte ich, um das Ganze zu retten,

eine Suppenschildkröte mit rollenden Augen,

zierlichen Füßen und einem Panzer

aus halb durchsichtigem Schildpatt:

eine wunderbare Idee.

Wie ein riesiger, kunstvoll gewölbter Kamm,

topasfarben, glühte sie in der Sonne.

 

V

Als ich sie kriechen sah,

fielen mir meine Feinde ein.

Ich hörte das Gebrabbel der Galeristen,

das Zischeln der Zeichenlehrer

und das Rülpsen der Besserwisser.

Ich nahm meinen Pinsel zur Hand

und begrub das Geschöpf,

bevor die Schmarotzer anfangen konnten,

mir zu erklären, was es bedeute,

unter sorgfältig gemalten Fliesen

aus schwarzen, grünem und rosa Marmor.

Die Heilige Anna ist nicht mein berühmtestes,

aber vielleicht mein bestes Bild.

Keiner außer mir weiß, warum.

 

Hans Magnus Enzensberger

(aus: Hans Magnus Enzensberger: Der Untergang der Titanic. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1978)


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