Dienstag, 27. August 2024

Friedvolle Flucht – Rembrandt malt die Heilige Familie bei der nächtlichen Rast

Rembrandt: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1647); Dublin, National Gallery of Ireland
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Die „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ ist ein Bildthema, das auf den knappen Angaben des Matthäus-Evangeliums beruht: „(...) siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes“ (Matthäus 2,13-15; LUT). Mehr wird nicht berichtet – dennoch erfreute sich die biblische Geschichte in der Kunst seit Ende des Mittelalters großer Beliebtheit. Auch von Rembrandt (1606–1669) kennen wir eine kleinformatige Nachtlandschaft aus dem Jahr 1647, die diese Episode bebildert. Der Künstler hatte die Heilige Familie zuvor bereits fünf Mal auf der Flucht oder auch bei der Rast auf Radierungen dargestellt; jedoch findet sich darunter nur eine Nachtszene. Auf keiner dieser Darstellungen spielt die Landschaft aber eine so dominierende Rolle wie auf dem Dubliner Gemälde, das hier vorgestellt werden soll. (Rembrandts allererste Nachtszene, die großformatige Radierung Verkündigung an die Hirten von 1634, wurde in diesem Blog bereits ausführlich besprochen, siehe meinen Post „Der Weihnachts-Wumms“).

Adam Elsheimer: Flucht nach Ägypten (1609); München, Alte Pinakothek
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Rembrandts Bild fußt auf der berühmten Flucht nach Ägypten von Adam Elsheimer (1578–1610), das 1609 entstand und sich heute in der Alten Pinakothek Münchens befindet (31 x 41 cm). Mit diesem außergewöhnlichen Gemälde gelang es dem Frankfurter Künstler auf bis dahin nie dagewesene Weise, die nächtliche Atmosphäre mittels verschiedener Lichtquellen und eines zauberhaften Sternenhimmels einzufangen; außerdem handelt es sich um die erste Darstellung der Milchstraße auf einem Landschaftsbild. Obwohl Elsheimer sein Meisterwerk malte, als er in Rom lebte, wurde es durch die Verbreitung eines Stichs von Hendrick Goudt (1583–1648) zur einflussreichsten Nachtlandschaft Nordeuropas.

Hendrick Goudt: Flucht nach Ägypten (1613); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Peter Paul Rubens: Flucht nach Ägypten (1614); Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister

Einer der ersten Künstler, die sich von Goudts Stich inspirieren ließ, war Peter Paul Rubens (1577–1640), der sich während seiner Romaufenthalte (1602/1603 und 1606 bis 1608) mit Elsheimer angefreundet hatte. Insbesondere holländische Künstler nahmen verschiedene Motive von Goudts Nachstich auf, so zum Beispiel den Kontrast zwischen natürlichen und künstlichen Lichtquellen, den diagonal in den Hintergrund zurückgesetzten Waldrand, den umwölkten Vollmond und sein Spiegelbild im See, den Widerschein des Feuers im Wasser und natürlich den Sternenhimmel samt Milchstraße. Rembrandt war somit einer von vielen, die einem weitverbreiteten Vorbild folgten.

Rembrandt übernimmt Elsheimers Grundidee, eine Nachtlandschaft mit einer kleinfigurig im Vordergrund dargestellten Heiligen Familie zu malen. Auch die diagonal angelegte Komposition sowie die im Bild verteilten unterschiedlichen Lichtquellen greift Rembrandt auf. Wie Elsheimer zeigt er im Vordergrund ein sich im See spiegelndes Feuer, um das sich eine Figurengruppe versammelt hat. Das Sujet als solches variiert er und zeigt nicht das Unterwegssein, sondern die Ruhe auf der Flucht. Den Mond versteckt Rembrandt, während er die Dynamik der Bäume steigert. Elsheimer hatte die hellste Lichtquelle, den Mond, im Hintergrund platziert, die schwächste, Josefs Fackel, im Vordergrund. „Rembrandt ordnete seine Lichter logischer an und erzielte durch die Verbindung der unterschiedlichen Lichtquellen sowie den Gebrauch »verwandter Farben« größere Homogenität“ (Waiboer 2006, S. 120).

Adam Elsheimer: Steinigung des Stephanus (um 1603/04);
Edinburgh, National Gallery of Scotland
Rembrandt: Steinigung des Stephanus (1625); Lyon, Musée des Beaux-Arts

Der Maler Pieter Lastman (1583–1633), bei dem Rembrandt 1625 sechs Monate in die Lehre ging, wurde während seines Romaufenthaltes zwischen 1602 und 1607 stark von Elsheimer beeinflusst und war einer der wichtigsten Verfechter seines Stils in den Niederlanden. Fest steht, dass Lastman seinem Schüler das Werk Elsheimers nahebrachte, denn Rembrandts frühestes datiertes Gemälde, Die Steinigung des Heiligen Stephanus (1625), fußt auf einer leider verlorenen Version Lastmans, die wiederum auf eine Stephanus-Darstellung Elsheimers zurückgreift. Auch Rembrandts Emmausmahl von 1629 (siehe meinen Post „Gehaltene Augen“) beruht teilweise auf Elsheimers Jupiter und Merkur im Haus von Philemon und Baucis (um 1608/09), das ihm aus einem Stich Goudts bekannt gewesen sein dürfte.

 

Literaturhinweise

Waiboer, Adriaan: Nachtlandschaft mit der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. In: Christiaan Vogelaar und Gregor J. M. Weber (Hrsg.), Rembrandts Landschaften. Hirmer Verlag, München 2006, S. 114-123;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Montag, 26. August 2024

„Nicht Adam wurde verführt ...“ – Albrecht Dürers „Sündenfall“-Tafeln im Prado


Albrecht Dürer: Adam und Eva (1507); Madrid, Museo del Prado
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Darstellungen des Sündenfalls waren in der Kunst um 1500 nördlich wie südlich der Alpen ein überaus beliebtes Bildmotiv. Am bekanntesten sind wohl die beiden schmalen, hochformatigen Tafeln aus dem Prado in Madrid, auf denen Albrecht Dürer (1471–1528) Adam und Eva lebensgroß wiedergibt (1507 entstanden). Das Stammelternpaar steht auf kargem, steinigem Boden vor einem dunklen, ungegenständlichen Hintergrund. Das Gemälde rechts zeigt Eva frontal neben dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Um den Stamm, der sich leicht nach rechts neigt und vom Bildrand angeschnitten wird, windet sich die Schlange, die Versucherin (1. Mose 3,1): Sie ist dabei, eine Frucht des Baumes, die sie am Stengel im Maul hält, in die erhobene Hand Evas zu legen. Eva empfängt und umfasst die verbotene Frucht, ohne die Schlange anzublicken. „Zwar ist der Fuß zurückgesetzt, wie in einer voraufgehenden Wendung gegen Baum und Schlange“ (Noll 2009, S. 230), ihr Leib dreht sich jedoch nach links, besonders der Kopf und vor allem der Blick Evas wenden sich Adam zu.
Mit ihrer rechten Hand ergreift Eva den Zweig eines in Höhe ihrer Oberschenkel vom Baumstamm abstehenden Astes. Ein zarter Trieb, der ebenfalls von diesem Ast abgeht, bedeckt mit vier Blättern Evas Scham; dort hängt auch der „cartellino“ des Malers, ein hölzernes Täfelchen mit scheinbar daran befestigtem Papier, das Signatur und Datum trägt: „Albert[us] durer aleman[us] // faciebat post virginis // partum: 1507 // [Monogramm]“. Der Zweig, auf den Eva ihren rechten Zeigefinger gelegt hat, wird auf der anderen Bildtafel fortgesetzt – offensichtlich ist der blätterbesetzte Zweig, den Adam mit der linken Hand festhält und an dem ein praller Apfel hängt, ein Trieb, der von jenem Ast ausgeht, den Evas Rechte umfasst. Eva greift mit ihrer rechten Hand also nicht nach Halt – wahrscheinlicher ist, dass sie den Ast mit leichtem Druck ein wenig zur Seite biegt und ihn auf diese Weise ihrem Gefährten im doppelten Sinn näherbringt.
Gegenüber Evas eleganter Körperdrehung erscheint Adams Stand eher unsicher. In ausgeprägtem Kontrapost ist der rechte Fuß des Spielbeins zur Seite gesetzt und berührt nur mit dem Ballen den Boden; allerdings wirkt der Fuß eher steif und verkrampft als gelöst. Der Unterscheidung von Stand- und Spielbein entsprechend sind die Körperachsen – Becken und Schultern – gegenläufig geneigt, wodurch sich eine spiegelsymmetrische Haltung zu Eva ergibt: „Gegeneinander erheben und wölben sich die Hüften, und zueinander neigen sich die Oberkörper“ (Noll 2009, S. 232). Auch bei Adam ist vor allem der Kopf zu seiner Gefährtin gewendet, und zwar stärker noch als bei Eva. Durch die Neigung nach rechts erscheint sein Gesicht leicht in Untersicht und im Halbprofil, dabei ist der Mund offensichtlich zum Sprechen geöffnet. Adam setzt wohl an, um Eva, die er anblickt, etwas zu sagen.
Adam ist vor allem durch seine Gestik charakterisiert: Wie starr, verkrampft ist die rechte Hand abgespreizt. Die Linke dagegen hält bereits „mit spitzen Fingern“ den Zweig mit der von Eva empfohlenen verbotenen Frucht. „Der Suggestion seiner Frau, die ihm den Apfel zuführt, ihn darauf verweist, begegnet augenscheinlich Adams Rede, ein – wie die Körperhaltung zu erkennen gibt – schwankender Widerstand, der mit dem ängstlich-zögerlichen Griff nach dem Zweig und der wie mit Anstrengung noch ferngehaltenen rechten Hand schon halb überwunden scheint“ (Noll 2009, S. 232). Der von der Schlange ausgehende, über Eva zu Adam sich fortsetzende Handlungsverlauf wird unterstrichen durch die wehenden Haare des Paares, die wie von einem auffrischenden Wind bewegt werden.
Von ihr geht alle Bewegung aus
Thomas Noll sieht Eva, trotz der spiegelbildlichen Anordnung der Stammeltern, als „Scharnierfigur“ (Noll 20009, S. 232), als Mittlerin zwischen der Schlange bzw. der Sünde und Adam. Der Akzent in Dürers Darstellung sei daher entschieden auf die Verführung Adams durch die Frau gelegt. So wie Dürer den Sündenfall präsentiert, wird er nicht gemeinsam begangen. Denn der Renaissance-Künstler veranschaulicht auf seinen beiden Tafeln nicht eine bestimmte Szene aus dem biblischen Bericht, sondern den gesamten Verlauf des Sündenfalls: Die linke und die rechte Hand Evas zeigen zwei Handlungsmomente, die sich nicht zeitgleich, sondern nacheinander ereignen. Deswegen ist die derzeitige Hängung der Bilder im Prado auch eher unglücklich, weil die beiden Tafeln ca. 250 cm voneinander getrennt sind – zwischen ihnen hat man Dürers Selbstbildnis von 1498 angebracht.
Mögen Dürers lebensgroße Aktfiguren von 1507 eine nördlich der Alpen nie zuvor gesehene, anatomisch durchgestaltete Schönheit des Körpers zeigen – inhaltlich sind sie noch ganz mittelalterlichen Vorstellungen verhaftet: Der Sündenfall ist weit mehr der sinnlich bestrickenden Eva anzulasten, die den Apfel zuerst nimmt und hineinbeißt – und dann Adam dazu verlockt, ebenfalls von der verbotenen Frucht zu kosten. Dieses Denken konnte sich auf die Autorität des Apostels Paulus berufen: „Nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot“ (1. Timotheus 2,14; LUT). Dürer hat seiner Darstellung des nackten Urelternpaares durchaus einen erotischen Charakter verliehen: „Verhalten, aber klar erkennbar, tritt dieser zum Vorschein an Adams geöffneten Lippen und geröteten Wangen sowie seinem sehnsüchtigen Blick zu Eva“ (Krieger 2012, S. 33). Dürer gelingt es, Adams Gesichtsausdruck zwischen leidend und leidenschaftlich changieren zu lassen.
Der auffallend karge, steinige Boden erscheint geradezu als das Gegenteil des von vier Paradiesflüssen bewässerten Gartens Eden und dürfte schon auf die Folgen des Sündenfalls vorausweisen. In 1. Mose 3,7 kündigt Gott Adam die über ihn verhängte Strafe an: „Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen –, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang“ (LUT). Auch auf 1. Mose 3,19 könnte angespielt sein: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden“ (LUT).
Dürer hat das Heil auf einem kleinen Zettel versteckt
Doch über den Sündenfall und dessen unmittelbare Folgen hinaus deutet der „cartellino“, der an dem Ast unterhalb von Evas Hand hängt. Es handelt sich um ein schlichtes, mit einem Stück roter Schnur befestigtes Holztäfelchen, auf dem ein Papierzettel klebt. Darauf datiert Dürer sein Werk nicht mit der Formulierung „anno domini“ oder nur einfach der Jahreszahl „1507“, sondern mit den Worten „post virginis partum“ („nach dem Gebären der Jungfrau“), d. h. nach der Geburt Christi durch die Jungfrau Maria. Neben Eva befindet sich ein zwar unauffälliger, aber dennoch gewichtiger Hinweis auf die „neue Eva“, Maria nämlich, die der Verheißung des Engels glaubte und Gott gehorsam war: Die Geburt des Heilands, des „neuen Adam“, ist der Beginn des Erlösungswerks, durch das Christus die Menschen wieder mit Gott versöhnen wird.
Albrecht Dürer: Adam und Eva (1504); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Anders als auf den beiden Gemälden in Madrid präsentiert Dürers berühmter Kupferstich von 1504 (siehe meinen Post „Aus Göttern werden Menschen“) das Urelternpaar tatsächlich spiegelsymmetrisch, und zwar beiderseits vom Baum der Erkenntnis und der Schlange. Eva hält bereits eine Frucht in der Linken und beobachtet, wie die Schlange ihr eine zweite in die andere Hand gibt. Adam auf der linken Seite hat seinen Blick auf Eva gerichtet – die, von der Schlange gebannt, ihn nicht beachtet – und umfasst mit der Rechten noch den Zweig einer Eberesche, den Erwin Panofsky als Baum des Lebens deutet (Panofsky 1977, S. 113). Mit der vorgestreckten Linken jedoch scheint er seinen Teil von den verbotenen Gaben der Schlange einzufordern, wie Adam überhaupt standfester und entschlossener wirkt als auf der Tafel von 1507. Offensichtlich wird der Sündenfall auf dem Kupferstich anders gesehen: Betont ist nicht die Verführung Adams durch Eva; vielmehr haben beide gleichermaßen, d. h. gleich verantwortlich das Gebot Gottes übertreten (wenn auch zeitlich nacheinander) – die Grafik zeigt eine jeweils aus eigenem Willen begangene Tat.
Hans Baldung Grien: Lapsus humani generis (1511); Holzschnitt
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Dass Eva schwerer gesündigt habe als Adam, ist in der spätmittelalterlichen Theologie und auch in der Frühen Neuzeit weit verbreitete Auffassung. Die Kunst um 1500 deutet die Beweggründe Adams, ebenfalls von der Frucht zu kosten, die Eva ihm anbietet, sehr eindeutig – nämlich als Folge seines sexuellen Begehrens. Als Beispiel sei der Helldunkel-Holzschnitt Lapsus humani generis von Hans Baldung Grien angeführt (1511): Adam und Eva stehen dem Betrachter frontal gegenüber; die Schlange, die sich um einen benachbarten Baum windet, scheint nur Zuschauer zu sein. Halb hinter seiner Frau stehend, hat Adam die Rechte erhoben und langt nach einer Frucht vom Baum der Erkenntnis, während er zugleich mit der linken Hand die Brust Evas umfasst. Eva wiederum reicht Adam mit der Linken das verbotene Obst; die andere Hand hingegen bedeckt mit einem Blatt ihre Scham und deutet gleichzeitig auf die Stelle, an der sich hinter ihrem Oberschenkel das Geschlecht Adams befindet: Es ist Evas erotische Anziehungskraft, so die unmissverständliche Botschaft des Holzschnitts, durch die er sich von seiner Frau zur Sünde hinreißen lässt. Verena Krieger verweist entsprechend darauf, dass die visuell besonders betonte Weiblichkeit und Schönheit Evas „wesentlich im Dienste einer misogynen Aussage“ stehe (Krieger 2012, S. 32). Den Sündenfall in dieser Weise sexuell aufzuladen (was hauptsächlich in der bildenden Kunst geschehen ist), bedeutet nichts anderes, als die biblische Erzählung umzudeuten.
Lucas Cranach d.Ä.: Adam und Eva (1508-1510); Besançon, Musée des Beaux-Arts et
d’Archéologie (für die Großansicht einfach anklicken)
Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) dürfte Dürers Doppeltafeln kurz nach ihrer Fertigstellung gesehen haben, denn zwischen 1508 und 1510 entstehen zwei ganz ähnliche hochformatige Gemälde mit dem Stammelternpaar, deren Abhängigkeit von den Bildern des Nürnberger Meister überdeutlich ist. Es sind weniger die verarbeiteten Übernahmen, die für eine Verbindung sprechen, wie der Kontrapost des Adam, die Frucht in der erhobenen Hand der Frau, die angedeutete Bewegung ihres rechten Beins, als die erotische Ausstrahlung der Figuren, in der Cranach Dürer noch zu übertreffen sucht (Strieder 2009, S. 218). Im Gegensatz zu Dürer hat Cranach den Baum jedoch in seiner vollen Länge in die Mitte der Szene gestellt, vertikal gespalten und je zur Hälfte auf die beiden Tafeln verteilt. 
Hans Baldung Grien: Eva (um 1525); Budapest, Szépművészeti Múzeum
Auch Hans Baldung Grien (1484–1545), einer der Mitarbeiter Dürers, hat sich mit dessen Bilderpaar auseinandergesetzt: In Budapest befinden sich zwei hochformatige Tafeln von ihm, auf denen die Ureltern in Lebensgröße und vor dunklem Hintergrund dargestellt sind. Eva steht in enger Schrittstellung annähernd frontal vor dem Betrachter, dreht und beugt den Oberkörper jedoch leicht nach rechts zu ihrem Partner hin. Den linken Arm hat sie nach hinten geführt, wo sie wie in Dürers Kupferstich eine Frucht verbirgt; ihre Scham verdeckt sie hinter einer zweiten Frucht mit Zweig und Blättern, die sie in der anderen Hand hält.
Hans Baldung Grien: Adam (um 1525); Budapest, Szépművészeti Múzeum
Adam wiederum wird mit Unterkörper und Kopf fast im Profil, mit dem Oberkörper hingegen in Dreiviertelansicht präsentiert. Sein rechtes Bein ist durchgedrückt und angespannt, während das linke nur mit den Zehen den Boden berührt. Adam hat den Oberkörper nach hinten gebeugt und sein Haupt zur Schlange erhoben; sein spitzer Bart, seine flache Nase und die quasi nicht vorhandene Stirn sowie die gelockten Haare, deren zwei abstehende Strähnen an Bockshörner denken lassen, verleihen ihm eine sartyrhafte Erscheinung“ (Schoen 2001, S. 187). Die in die Seite gestemmte rechte Hand gilt als männlicher Imponiergestus gegenüber der Schlange, der er offensichtlich demonstrieren will, dass er sich nicht verführen lassen wird ...
Hans Baldung Grien: Der Sündenfall (1531);
Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Einige Jahre später (1531) hat Baldung Grien Adam und Eva nochmals ganzfigurig, nahsichtig und etwas unterlebensgroß gemeinsam auf einer hochformatigen Tafel dargestellt. Sie befindet sich heute im Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid. Auch diesmal werden die Figuren vor einem schwarzen Fond gezeigt, der allerdings in der rechten oberen Ecke in einer grauen Wolkendecke zu einem weißen Himmelslicht hin aufreißt. Der Baum der Erkenntnis ist an den linken Bildrand gedrängt; der Schlangenkörper fällt hier kaum stärker als zwei Finger und kaum länger als ein Arm der menschlichen Gestalten aus. Das Tier windet sich auf Kopfhöhe der Figuren um einen Ast und scheint der neben ihr platzierten Eva etwas zuzuflüstern. Diese umfasst mit der Rechten den Baum und hält in ihrer Linken bereits den Apfel. 
Die Paradiesfrucht weckt jedoch bei Adam kein ersichtliches Interesse. Vielmehr konzentriert er sich ganz auf seine Gefährtin: Er steht unmittelbar hinter ihr, dicht an sie gedrängt, sodass ihre nackten Leiber sich auf Brust- und Hüfthöhe berühren. Seine rechte Wange schmiegt er an Evas Schläfe, mit der rechten Hand umfasst er ihre Taille, wobei der Daumen ihre Brust liebkost; mit der Linken berührt er Evas Hüfte, um das die Urmutter ein Gazetuch geschlungen hat. Es ist allerdings so transparent, dass es buchstäblich nichts verschleiert.
Im Paradies wie in der Bildtradition ist der durchsichtige Stoff jedoch ein ausgesprochener Fremdkörper, denn nach dem Sündenfall tragen die Ureltern entweder Schurze aus Feigenblättern (1. Mose 3,7) oder Röcke aus Fell (1. Mose 3,21), aber keinesfalls solch raffiniertes Gewebe, dass ohne Frage die erotische Attraktivität Evas betonen und steigern soll. „Ganz unverkennbar schildert der Maler das Urelternpaar hier nämlich beim Vorspiel zum Geschlechtsakt: Wir treffen auf einen Adam, der gleichermaßen Zärtlichkeit wie Lüsternheit versprüht, und eine Eva, welche sich die Avancen ihres Partners mit der Selbstverständlichkeit und Gelassenheit einer Frau gefallen läßt, die um ihre erotische Anziehungskraft weiß“ (Brinkmann 2007, S. 158).
Sexualität wird hier als die eigentliche Ursünde gezeigt, der Sündenfall gleichgesetzt mit dem ersten Geschlechtsakt. Als Erbsünde dominiert Sexualität das Leben der Menschen bis auf den heutigen Tag, so die Bildbotschaft: Beide Figuren suchen den Blickkontakt mit dem Betrachter, was besonders bei dem aus den Augenwinkeln zu uns schauenden Adam auffällt. Mit seinem Blick macht Adam uns zugleich zum Komplizen, dem er die Schönheit und erotischen Reize der ersten Frau vorführt. Der Sündenfall, dessen Zeuge wir sind, ist für Baldung Grien alles andere als ein abgeschlossenes Stück Geschichte. Der Künstler erneuert damit seine frauen- und sexualitätsfeindliche Sicht des Sündenfalls, die schon seinen Holzschnitt Lapsus humani generis von 1511 kennzeichnete.
Antonio Rizzo: Adam (um 1485); Venedig, Dogenpalast
Dürers Adam und Eva-Tafeln sind im Anschluss an seine zweite Italienreise (1505 bis 1507) entstanden – deswegen werden sie von der Forschung meist mit den beiden Skulpturen von Antonio Rizzo (1430–1499) am Arco Foscari des Dogenpalastes in Venedig in Verbindung gebracht. Die beiden überlebensgroßen Figuren sind voneinander getrennt vor jeweils eine Nische gestellt. Adam steht im Kontrapost auf der linken Seite, ein athletisch gebauter, bartloser Mann, der in der linken Hand die Frucht hält und die Rechte an die Brust erhoben hat. Mit geöffnetem Mund und aufgerissenen, nach oben verdrehten Augen ist sein Blick
Antonio Rizzo: Eva (um 1485); Venedig, Dogenpalast
gen Himmel gerichtet. Vor allem die sehr ähnliche Kopfhaltung von Rizzos Marmorskulptur und deren Gesichtsausdruck scheint Dürer für seinen Adam entliehen zu haben. Allerdings hat Rizzo nicht das paradiesische Urelternpaar oder den Sündenfall dargestellt, sondern das Verhör danach (1. Mose 3,9-13).

Literaturhinweise
Brinkmann, Bodo: Hexenlust und Sündenfall. Die seltsamen Phantasien des Hans Baldung Grien. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2007, S. 147-181;
Krieger, Verena: Adam als Liebespartner. Zur Konstruktion eines neuen Männlichkeitsideals in Sündenfalldarstellungen des frühen 16. Jahrhunderts. In: Doris Guth/ Elisabeth Priedl (Hrsg.), Bilder der Liebe. Liebe, Begehren und Geschlechterverhältnisse in der Kunst der Frühen Neuzeit. transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 29-66;
Noll, Thomas: Albrecht Dürers »Adam und Eva« im Prado. Erzählstil, Zeitstruktur und Deutung. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 63 (2009), S. 225-252;
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Verlag Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 113-115 und 160-162;
Schoen, Christian: Albrecht Dürer: Adam und Eva. Die Gemälde, ihre Geschichte und Rezeption bei Lucas Cranach d.Ä. und Hans Baldung Grien. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001;
Strieder, Peter: Albrecht Dürer: Adam und Eva. Thesen zum Auftraggeber. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 63 (2009), S. 215-224;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 30. September 2024)

Montag, 12. August 2024

Alle wollen diese Frau – Tizians „Danae“-Darstellungen

Tizian: Danae (1545); Neapel, Museo di Capodimonte (für die Großansicht einfach anklicken)

Der antike Mythos erzählt, dass Akrisios, König von Argos, seine schöne Tochter Danae aus Furcht vor dem Orakelspruch, sein Enkel werde ihn einst töten, in einen Turm sperren ließ. Doch Zeus, dem obersten der olympischen Götter, gelang es in Form eines goldenen Regens, mit Danae den Perseus zu zeugen. Der betrogene Akrisios setzte Mutter und Sohn in einer Kiste auf dem Meer aus, doch sollte sich der Orakelspruch dennoch erfüllen: Als Erwachsener nimmt Perseus an Wettkämpfen im pelasgischen Larisa teil – und trifft bei einem Wurf mit dem Diskus unglücklich und unbeabsichtigt seinen Großvater, der eben dorthin geflohen war, um seinem Enkel zu entgehen.

Tizian (1488–1576) malte in zahlreiche Versionen den Moment, in dem der verwandelte Zeus die nackte Danae beschläft. Die ersten beiden Fassungen dieses Gemäldes entstanden als Aufträge für den römischen Kardinal Alessandro Farnese (1545, heute in Neapel) und für den spanischen König Philipp II. (1554, heute in Madrid). Darstellungen weiblicher Akte waren Mitte des 16. Jahrhunderts in Italien sehr beliebt. Sie mussten allerdings durch eine historische, religiöse oder mythologische Erzählung (wie im Fall der Danae) „ummäntelt“ werden. Bis heute wird debattiert, ob Alessandro Farnese Tizian nicht nur darum bat, einen Akt zu malen, sondern der liegenden Danae auch die Züge seiner Geliebten zu verleihen. Der Kardinal gefiel sich sehr wahrscheinlich in der dominanten Rolle des Zeus – es dürfte ihm geschmeichelt haben, dass Tizian ihn mit dem höchsten der griechischen Götter gleichsetzt. Diese Art von Rollenspiel war in jener Zeit in den Kreisen der Kunstkenner weit verbreitet, und man kann vermuten, dass auch diese Version der Danae in einem solchen Kontext zu verstehen ist.

Tizian: Venus von Urbino (1538); Florenz, Uffizien

Tizian griff für seine Danae-Darstellungen zunächst auf den Typus des ruhenden Aktes zurück, den er um 1538 für seine Venus von Urbino entwickelt hatte. Die Frau bietet sich nun nicht mehr ausgestreckt den Blicken des Betrachters dar, sondern bildet mit dem steiler aufgerichteten Oberkörper und den angezogenen Beinen ein Halbrund, in das sich die Goldwolke des Zeus hinabsenkt. Auf diese schimmernde Wolke richtet Danae ihren Blick, der Betrachter wird nicht beachtet. Er wird zusätzlich durch das aufgestellte Bein sowie dem Vorhang vor dem Kopfende des Lagers vom Geschehen getrennt. In der Farnese-Fassung steht am Fußende des Bettes ein geflügelter Amor, der die Szene nach rechts verlässt, als ob er nun den Gott und die Frau allein lassen wollte. Seine Arbeit ist getan: Er hat wohl einen seiner Pfeile auf Zeus abgeschossen, mit dem Nahen des verliebten Gottes ist seine Aufgabe erfüllt. Nach hinten ist der Raum durch den Vorhang sowie in der Mitte durch eine kolossale Säule abgeschlossen, hinter dem Amor öffnet sich eine Landschaft mit einem hellen Himmel, von dem die göttliche Wolke gekommen zu sein scheint.

Daniela Bohde hat darauf hingewiesen, dass Tizian bei der ersten Danae mit einer gröberen Leinwandtextur arbeitet als bei seiner Venus von Urbino. Die Konturen des Aktes verlieren durch die stärkere Körnung ihre Geschlossenheit – die Haut scheint sich zu öffnen: „Hier findet der Umschlag ins Motivische statt: Die den Goldregen in sich aufnehmende Frau wird als Körper mit aufbrechenden, vibrierenden Konturen gezeigt. Diesen Moment der Empfängnis intensiviert Tizian, indem er die Form der Wolke und der Frau so aufeinander abstimmt, daß sie den Goldregen mit dem ganzen Leib aufnimmt und den Gott sozusagen mit ihrer Haut empfängt“ (Bohde 2002, S. 174).

Tizian: Danae (1554); Madrid, Prado (für die Großansicht einfach anklicken)
In der Madrider Version liegt Danae völlig unbekleidet – bis auf ein Armband, einen Ring und einen Perlenohrring – auf einem wild zerfurchten Betttuch (in der Farnese-Fassung ist die Schoßpartie noch mit einem weißen Schleier verhüllt) und nimmt praktisch das gesamte untere Drittel der Komposition ein. Der geflügelte Amorknabe ist durch eine alte Dienerin ersetzt. Die beiden Frauengestalten sind als konträre Figuren konzipiert: Schon die Rückenansicht macht die schlechtgekleidete Alte zu einem Gegenstück der jungen Königstochter auf dem weißen Laken. In Kontrast zu deren hellem Inkarnat arbeitet Tizian die Muskulatur der Dienerin heraus und setzt auf ihre braune Haut am Rücken fast schwarze Schatten. „Die gesamte Körperhaltung der Alten drückt Aktivität und Zähigkeit aus. Sie wird nicht wie Danae beschenkt, sondern muß sich selbst um ihren Anteil bemühen“ (Bohde 2002, S. 169). Die auffällig an ihrem Kleid befestigten Schlüssel kennzeichnen sie als Kupplerin, die Danae und Zeus zusammenbringt. Mit der Dienerin teilt sich das Gemälde in zwei Hälften: Eine dunkle und kühle Seite steht gegen eine von Weiß und Rot dominierte.

Tizian: Danae (um 1560/65); Wien, Kunsthistorisches Musem (für die Großansicht einfach anklicken)

Eine dritte Fassung der Danae befindet sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien. Wer sie in Auftrag gegeben hat oder als Erster besaß, ist unbekannt. Der erste belegte Eigentümer war Kardinal Montalto in Rom, der das Bild im Jahr 1600 als Geschenk an Kaiser Rudolf II. nach Prag sandte. Die Wiener Danae ist die einzige existierende Version, die eine Signatur Tizians trägt. Obwohl wir nichts über den ursprünglichen Auftraggeber wissen, liegt die Annahme nahe, dass es sich um ein Mitglied der vornehmen römischen Gesellschaft handelte, dem Alessandro Farneses viel früher entstandene Fassung des Themas bekannt war.  

Auf dem Wiener Gemälde ist in den Wolken das Gesicht des Zeus auszumachen; aber auch hier wird die passive und empfängnisbereite Königstochter mit goldenen Münzen verführt. Wiederum besteht das vorrangige Interesse der alten Dienerin darin, die Münzen in einer goldenen Schale aufzufangen. Das Motiv der herabfallenden Goldmünzen verweist erneut auf die käufliche Liebe; Zeugnisse der damaligen Zeit verbürgen, dass der Danae-Mythos häufig auf Kurtisanen bezogen wurde – was ja ohne Frage auch bereits zur Entstehung der Farnese-Fassung passt. Zeus kommt übrigens nicht nur in Form des Goldregens, sondern auch in einer dunklen Wolke auf Danae herab – was von Correggios Version des Mythos beeinflusst sein könnte, selbst der aus der Szene abgehende Amor mag als Anregung gedient haben.

Correggio: Danae (um 1530/31); Rom, Galleria Borghese
Unverkennbar nimmt Tizian bei seiner Frauengestalt Bezug auf weibliche Aktfiguren Michelangelos, sowohl in gemalter als auch in skulpturaler Form: Mit seiner um 1530 entstandenen Leda hatte Michelangelo (1475–1564) das Liegemotiv mit aufgestellten Beinen in die Aktmalerei eingeführt; bereits in den zwanziger Jahren entwickelte er diese Körperhaltung für seine Marmorskulptur der Nacht. Tatsächlich kam es 1545, also während seiner Arbeit an der ersten Version der Danae, in Rom zu einem Treffen zwischen Tizian und Michelangelo.

Michelangelo: Die Nacht (1524-1534); Florenz, San Lorenzo
Rosso Fiorentino (nach Michelangelo): Leda (nach 1530); London, National Gallery

Betrachtet man die heute Rosso Fiorentino (1495–1540) zugeschriebene Kopie der Leda aus der Londoner National Gallery (Michelangelos Original ist verschollen) und Michelangelos Skulptur der Nacht neben Tizians Danae, dann ist die Frauenfigur Tizians „anatomisch korrekter“. Michelangelos Gestalten haben einen extrem langen Oberkörper, was ihrer inneren Verdrehung geschuldet ist. Dagegen liegt die Danae in einer gelösten Haltung auf ihrem Lager. Michelangelos Aufmerksamkeit gilt vor allem der Körperspannung seiner Figuren und insbesondere ihrer Muskulatur. Tizian wiederum vermeidet jeden Anschein von Muskelaktivität bei seinem Akt. Er betont Danaes Taille wenig und gestaltet den ganzen Rumpf sehr kräftig. Das entscheidende Merkmal für Tizians weibliche Körper „ist nicht die Körperform mit dem Schwung von Hüfte und Taille, sondern eine weiche Fleischlichkeit“ (Bohde 2002, S. 166). Der gesamte weibliche Körper wirkt bei ihm wie durch eine Fettschicht gleichmäßig gepolstert, knochige Strukturen, etwa an den Schultern, Schlüsselbeinen oder Fingergelenken, werden nicht gezeigt.

Durch die zahlreichen weiteren Fassungen der Danae, die aus Tizians Werkstatt stammen, zieht sich ein roter Faden: Die Vergleiche der Körperkonturen zeigen, dass die Umrisse von einem Bild zum nächsten übertragen wurden. Das legt nahe, dass Tizian und seine Werkstatt einen oder auch mehrere Kartons der Aktfigur herstellten, um sie für weitere Aufträge parat zu haben. Offenbar entstand der erste Karton anhand der Neapler Danae, deren Umrisse mit der Untermalung der Madrider Fassung übereinstimmen. Nach Fertigstellung des spanischen Gemäldes (mit einigen kleinen Änderungen) wurde die Form wiederum abgenommen und dieser Karton dann für die Wiener Version und weitere Ausführungen verwendet.

Natürlich variieren die Nebenfiguren und die Landschaften der einzelnen Gemälde – dies belegt, wie Tizian die Komposition jedes Mal auf den neuen Kunden zugeschnitten hat. Die Danae-Bilder verdeutlichen damit musterhaft Tizians Arbeitsweise: Um die immer stärker werdende Nachfrage nach seinen berühmten Gemälden zu befriedigen, variierte der Meister in Zusammenarbeit mit seiner Werkstatt frühere Kompositionen und setzte dabei auch unterschiedliche Malstile ein.

 

Literaturhinweise

Bohde, Daniela: Haut, Fleisch und Farbe: Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2002, S. 151-177;

Ferino-Pagden, Sylvia (Hrsg.): Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei. Kunsthistorisches Museum Wien 2007, S. 232-237;

Swoboda, Gudrun (Hrsg.): Idole & Rivalen. Künstlerischer Wettstreit in Antike und Früher Neuzeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2022, S. 130-131;

Wald, Robert: Tizians Wiener Danae. Bemerkungen zu Ausführung und Replikation in Tizians Werkstatt. In: Sylvia Ferino-Pagden (Hrsg.), Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei. Kunsthistorisches Museum Wien 2007, S. 123-131;

Zapperi, Roberto: Alessandro Farnese, Giovanni Della Casa and Titian’s Danae in Naples. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 54 (1991), S. 159-171.


Mittwoch, 7. August 2024

Der schnucklige Johannes – Caravaggios Täufer-Darstellungen

Caravaggio: Johannes der Täufer (1606); Rom, Palazzo Corsini (für die Großansicht einfach anklicken)

Caravaggio (1571–1610) hat die neutestamentliche Figur Johannes des Täufers mehrfach dargestellt, ja, es ist das Thema, das von ihm mit Abstand am häufigsten gemalt wurde. Ich möchte einige Bilder dieser Serie hier etwas eingehender vorstellen. Dazu gehören eine sitzende Halbfigur mit nacktem Oberkörper (1606 entstanden), die sich heute in der römischen Palazzo Corsini befindet, sowie zwei Ganzfiguren, die eine aus Nelson-Atkins Museum in Kansas City, die andere aus der Galleria Borghese in Rom.

Die im Querformat gezeigte athletische Gestalt des jugendlichen Johannes sitzt vor einem nur angedeuteten Landschaftshintergrund. Auf seinem linken Bein liegt ein schwerer roter Mantel, den er hinter den Rücken geführt und über den rechten Unterarm gelegt hat. Sein Schambereich wird von einem weißen Tuch verdeckt. Am linken Bildrand liegen ein Rohrkreuz und eine Wasserschale am Boden – beides deutliche Hinweise darauf, dass wir es mit dem biblischen Täufer zu tun haben. Offensichtlich hat Caravaggio einmal mehr ein Modell „aus dem Volk“ verwendet, worauf das sonnengebräunte Inkarnat an Händen, Gesicht und Halsausschnitt hinweisen. Die Komposition ist von gegenläufigen Diagonalen bestimmt: Johannes hat den ganzen Körper zur linken Seite gedreht und stützt sich mit den parallel geführten Armen ab. Der Kopf dagegen ist nach rechts gewendet, sein von den Stirnlocken tief verschatteter, fast grollender Blick ist auf etwas außerhalb des Bildes gerichtet, das ihn in Einsamkeit und meditativer Versenkung gestört zu haben scheint. 

Sterbender Gallier (röm. Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals); Rom, Museo Capitolini

Valeska von Rosen verweist darauf, dass Caravaggio bei der Haltung des Oberkörpers und der Arme auf eine antike Statue zurückgreift, und zwar auf den Sterbenden Gallier aus der römischen Sammlung Ludovisi (siehe meinen Post „Lieber tot als Sklave“), bei dem es sich um die Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals handelt. Sie zeigt einen am Boden sitzenden, tödlich getroffenen Krieger, die klaffende Wunde am rechten Brustkorb deutlich sichtbar. So nachvollziehbar diese Übernahme auch erscheint, kommt ihr doch die Chronologie ins Gehege, denn die Figur wurde vermutlich erst 1622 beim Bau der Villa Ludovisi gefunden. Vielleicht kannte Caravaggio aber auch eine andere Kopie, möglicherweise die, die sich heute im Museo Archeologico Nazionale in Neapel befindet.

Caravaggio: Johannes der Täufer (um 1602/03); Kansas City, Nelson-Atkins Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)

Dieses Haltungsmotiv hat Caravaggios bereits bei seinem ganzfigurigem Johannes der Täufer in Kansas City verwendet (um 1602/03). „Doch ist dessen monumentale, statuarisch wirkende Pose nun dynamisch bewegt“ (Schütze 2009, S. 272) und wirkt wie in eine Handlung eingebunden, die sich dem Betrachter jedoch nicht erschließt. Der im Hochformat präsentierte Johannes aus Kansas City ist ebenfalls kalbnackt; die Hüften und der linke Oberschenkel werden durch ein überdimensioniertes rotes Tuch und ein Fell verdeckt. Lamm und Wasserschale sind ihm nicht beigefügt, aber für seine Identität als Johannes spricht das große Kreuz, das sich der junge Mann aus zwei Schilfrohren zusammengebunden hat. Wir haben hier einen in sich gekehrten, nach unten blickenden Täufer vor uns, mit verschatteten Augen, düster-melancholisch gestimmt – ein Eindruck, der durch die dramatischen Hell-Dunkel-Kontraste im Bild noch verstärkt wird.

Caravaggio: Johannes der Täufer (um 1605/06); Rom, Galleria Borghese
(für die Großansicht einfach anklicken)

Eine dritte Fassung des Täufers hat Caravaggio um 1605/06 gemalt: Wie auf dem Bild in Kansas City wird der junge Täufer als Ganzfigur präsentiert; auch er lehnt sich gegen eine in breiten Falten herabfallende Draperie, auf der sein Arm ruht. Links neben ihm steht ein Widder, abweichend von der Bildtradition, die Johannes ein kleines Lamm zuweist, entsprechend seines Ausspruchs bei der ersten Begegnung mit Christus am Jordan: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Johannes 1,29; LUT). Der Knabe, der melancholisch aus dem Bild blickt, hält einen Hirtenstab in der linken Hand, aber es fehlt das Kreuz. Johannes ist deutlich jünger als auf den ersten beiden Täufer-Darstellungen und weitgehend nackt, seine Blöße ist allerdings auch hier mit einem weißen Tuch bedeckt.

Lo Spadorino: Johannes der Täufer (um 1610); Privatbesitz
Battistello Caracciolo: Johannes der Täufer (um 1610/20); Berkely, Art Museum
Caravaggio: Johannes der Täufer (16.02), Rom, Museo Capitolini

Die Nachahmer Caravaggios, „Caravaggisten“ genannt, haben auch die Täufer-Darstellungen ihres Vorbildes vielfach aufgegriffen und variiert. Von Lo Spadarino (1585–1652) kennen wir eine seitenverkehrte Variation des Corsini-Gemäldes, bei der er die Bildidee des vom Bildrand überschnittenen Kreuzstabes aufnimmt. Bartolomeo Manfredi (1582–1622) übernimmt für sein Bild im Louvre den jungenhaften Johannes-Typus von Caravaggio. Battistello Caracciolo (1578–1635) zeigt uns einen halb sitzenden, halb liegenden Jüngling, der sich mit dem rechten Arm auf einen Felsen stützt. Er blickt den Betrachter direkt und lasziv an – und greift damit ein weiteres Caravaggio-Gemälde aus dem Museo Capitolini auf, das ich nochmals gesondert behandelt werde. Natürlich darf auch hier der rote Mantel nicht fehlen, der den Schambereich verhüllt, er ist sozusagen ein Caravaggio-Markenzeichen. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen, die Produktion von Johannes-Darstellungen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist nahezu unübersehbar.

Warum war das Thema des Täufers in der Wüste so erfolgreich? Im Lukas-Evangelium heißt es über den Täufer nur kurz und knapp: „Und das Kindlein wuchs und wurde stark im Geist. Und er war in der Wüste bis zu dem Tag, an dem er vor das Volk Israel treten sollte“ (Lukas 1,80). Allerdings deutet in den Werken Caravaggios und in denen seiner Nachfolger an Johannes‘ Äußerem nichts auf Askese, Entbehrung und Zurückgezogenheit hin, schon gar nicht auf den späteren großen Bußprediger, um den sich die Menschen am Jordan scharen. Wir sehen durchgängig einen meist muskulösen, durchaus gepflegt wirkenden Knaben in heranwachsendem Alter, der ein – wenn mit abgebildet – ein ebenso wohlgenährtes Tier bei sich hat. „Offensichtlich bot gerade die geringe Textreferenz des Sujets die Möglichkeit, einen Knaben in reizvollem heranwachsendem Alter ins Bild zu setzen, der im Zustand ,unschuldiger‘ Nacktheit leicht oder gar nicht bekleidet ist“ (von Rosen 2009, S. 193).

Leonardo da Vinci: Johannes der Täufer (Datierung unsicher); Paris, Louvre
Leonardo da Vinci: Johannes der Täufer (Datierung unsicher); Paris, Louvre
Raffael (und Werkstatt): Johannes der Täufer (umn 1516/17), Florenz, Uffizien
Andrea del Sarto: Johannes der Täufer (1521); Florenz, Palazzo Pitti
Agnolo Bronzino: Johannes der Täufer (1553); Rom, Galleria Borghese

Der Typus des nackten jugendlichen Johannes, der meditierend die Einsamkeit sucht und sich in den Wald oder die Wüste zurückzieht, geht auf Leonardo da Vinci (1452–1519) zurück: Im Louvre befinden sich zum einen ein ganzfiguriger Johannes in freier Landschaft sowie ein Täufer in Halbfigur mit Pantherfell und stark verschattetem Kreuz vor dunklem Hintergrund. Für das 16. Jahrhundert wird die Reihe nahezu komplett nackter, sinnlicher „Johannes-Knaben“ von bedeutenden Künstlern fortgesetzt: Zu nennen sind Raffaels Giovanino in den Uffizien und im Louvre, Andrea del Sartos Täufer-Jünglinge, und auch Agnolo Bronzino hat Johannes bereits so dargestellt, wie wir es bei Caravaggio gesehen haben: Fellmantel, Rohrkreuz, Taufschale und Zeigegestus geben den jungen Mann eindeutig als Propheten bzw. Wegbereiter Christi zu erkennen. Welche originalen Kontexte und Funktionen diese Bilder hatten, ist allerdings weitgehend unklar. Zumindest das ganzfigurige Gemälde Leonardos hat mit 177 cm durchaus Altarbild-Format.

 

Literaturhinweise

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011;

von Rosen, Valeska: Inszenierte Unkonventionalität. Caravaggios Ironisierung der Antikenimitatio. In: Andreas Kablitz/Gerhard Regn (Hrsg.), Renaissance – Episteme und Agon. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2006, S. 423-449;

von Rosen, Valeska: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 172-200;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.