Montag, 18. März 2013

Nicolas Poussins Selbstbildnisse und die Liebe zur Malerei

Nicolas Poussin: Selbstbildnis (1650); Paris, Louvre
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Nicolas Poussin (1594–1665) gilt als Hauptvertreter des barocken Klassizismus; als Maler, der nahezu seine ganze Laufbahn in Rom verbrachte (seit 1624), ist er vor allem durch seine Historienbilder und mythologischen Sujets bekannt geworden. Um die Jahrhundertwende wurde Poussin von seinen beiden wichtigsten Mäzenen und Freunden in Paris gebeten, ihnen aus seiner Wahlheimat Rom ein Selbstbildnis zu schicken. „Längst hatte sich das Künstlerporträt in Sammlerkreisen ja etabliert als besonders sinnfälliges Dokument sowohl der Leistungsfähigkeit des bevorzugten Künstlers als auch seiner Persönlichkeit“ (Beyer 2002, S. 234).
In dem Louvre-Selbstporträt zeigt sich der damals 56-jährige Künstler in eleganter dunkler Robe und als lebensgroße Halbfigur, den Oberkörper im Profil gegeben, den Kopf jedoch über die Schulter gewandt – eine Haltung, „die seinen während des Malprozesses immer wieder unterbrochenen Blick in den Spiegel in eine dauerhafte Wendung zum Betrachter transformiert“ (Baader 2005, S. 86). Während die rechte Gesichtshälfte Poussins hell ausgeleuchtet ist, bleibt die linke weitgehend verschattet. Wulstige, tief eingekerbte Falten auf der Stirn sollen ihn als nachdenklichen, intellektuellen Künstler ausweisen. Den sichtbaren Anzeichen fortschreitenden Alterns wirkt eine dichte, dunkle Perücke mit kräftigen Locken entgegen. Würdevoll stützt der Maler seine rechte Hand auf eine Zeichenmappe „als Verweis auf den Primat des disegno, der Zeichnung also“ (Beyer 2002, S. 234); den kleinen Finger schmückt ein auffälliger Ring mit einem pyramidal geschnittenen Diamanten, der auf den Betrachter gerichtet ist.
Im Rücken des Malers stehen gestaffelt und gegeneinander versetzt drei Leinwände, die jeweils von einem goldenen Rahmen eingefasst werden. Dahinter ist auf der grauen Atelierwand ein rechteckiges braunes Feld zu sehen, das von manchen für eine Tür gehalten wurde, aber eher weitere, bereits bespannte Keilwände darstellt. Den steinernen Farbton der Wand aufnehmend, präsentiert sich die rechte der beiden vorderen Leinwände trotz ihres eleganten Goldrahmens als graue, bildlose Fläche. Die Leinwand trägt eine Inschrift, die Alter und Herkunftsort des Malers sowie Entstehungsjahr und Entstehungsort des Selbstporträts nennt: „EFFIGIES NICOLAI PUVSSINI ANDEL: / YENSIS PICTORIS. ANNO AETATIS. 56 / ROMAE. ANNO IVBILAEI 1650.“ Über die Inschrift legt sich ein Schatten, der unter dem starken Lichteinfall von links durch den Körper des Künstlers entsteht. Der Schatten Poussins erinnert an den Entstehungsmythos der Malerei (Plinius d.Ä., Naturalis historia XXXV 5,15), der ja Porträt und Schatten gleichermaßen zu den Begründern der Kunst überhaupt erklärt.
Oskar Bätschmann bietet für den Schatten auf der Leinwand noch eine andere Deutung an: Poussin habe sich auf seinem Selbstporträt nicht nur einmal, sondern dreifach dargestellt, nämlich in seinem sichtbaren Abbild, im Schatten auf der leeren Leinwand und in der Inschrift. Der Schatten zeige, „wie der Maler sein wird, wenn er nicht mehr lebt“; die Inschrift wiederum „meint das Schattenbild und verbindet sich mit ihm zum Epitaph, zur Grabschrift“ (Bätschmann 1987, S. 12).
Hinter der grauen Leinwand lehnt leicht erhöht ein zweites Gemälde, das nach links aus der Bildmitte geschoben ist. Zwischen den beiden Goldrahmen entsteht ein schmaler horizontaler Streifen, der sich auf Augenhöhe des Künstlers befindet und so dessen Blick betont. Auf der hinteren Leinwand sehen wir, durch einen undefinierten roten Gegenstand teilweise verdeckt, in einer Landschaft eine antik gewandete Frau. Ihr strecken sich zwei Arme entgegen, die durch den Bildrand abgeschnitten sind. Die weibliche Gestalt trägt in ihrem  Haar ein goldenes Diadem, in das ein geradezu lebendig wirkendes Auge eingelassen ist. Es handelt sich um die Personifikation der Malerei selbst, um pittura, „die hier durch ein Attribut der prospettiva, d. h. der Perspektive als der Kunst des richtigen Sehens, ausgezeichnet ist“ (Baader 2005, S. 86).
Poussins Biograf Giovanni Pietro Bellori deutete schon im 17. Jahrhundert die sich ihr entgegenstreckenden Arme als Personifikation der „Liebe zur Malerei“, die Poussin seinem Gönner und Besteller des Bildes attestiert, bzw. als „Freundschaft“, der das Bild gewidmet sei. Denn Poussins Porträt entstand für einen ihm verbundenen Sammler, den über zehn Jahre jüngeren Paul Fréart de Chantelou. Die pittura des Bildes steht für Poussin, den Maler; die personifizierte Liebe zur Malerei vertritt Chantelou. 1650 hielt sich Chantelou fern von Rom jenseits der Alpen auf – diese räumliche Distanz mag der Grund dafür sein, warum die angedeutete Umarmung unvollkommen bleibt. Sie wird aber Wirklichkeit „nicht erst, wenn Poussin und Chantelou einander wiederbegegnen, was nie geschah, sondern schon in jenem Augenblick, wo Chantelou das vorliegende Bild in Empfang nehmen kann, jenes Bild, das sowohl ein sehnsüchtig erwartetes Beispiel für Poussins Malkunst verkörpert als auch einen sehr persönlichen Beweis für dessen Freundschaft“ (Herklotz 2001, S. 105). Als Symbol der constantia, einer für jedes freundschaftliche Verhältnis maßgeblichen Tugend, hat man schließlich auch den üppigen Diamantring am Finger des Malers deuten wollen.
Nicolas Poussin: Selbstbildnis (1649); Berlin, Gemäldegalerie
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In der Berliner Gemäldegalerie befindet sich noch ein weiteres Selbstporträt Poussins, das ebenfalls für einen Sammler – den Pariser Bankier Jean Pointel – geschaffen und ein Jahr vor dem Pariser Selbstbildnis fertiggestellt wurde. Auch dieses Gemälde zeigt den Künstler in der konventionellen Pose des Halbfigurenbildes, den Oberkörper ebenfalls nahezu im Profil, den Kopf dem Betrachter zugewandt. Der umhangartige Mantel, ein elegantes Kostüm des 17. Jahrhunderts, und auch die Perücke „unterstreichen den vornehmen Habitus: Nicht in Atelier-, sondern in Ausgehkleidung stellt der Maler sich dem Betrachter vor“ (Herklotz 2001, S. 98). In der Pointel-Version stützt sich die rechte Hand des Malers auf ein geschlossenes Buch, die linke hingegen hat einen Kreidestift umfasst (ebenfalls ein Verweis auf den Vorrang des disegno). Das Spiegelbild dürfte somit ohne korrigierende Seitenverkehrung auf die Leinwand übertragen worden sein.
Der weite, großfaltige Seidenmantel, in den Poussin gehüllt ist, kontrastiert mit seinem schlaglichtartig beleuchteten Antlitz oberhalb des in schimmerndem Dunkel gehaltenen Körpers. Versetzt das Louvre-Porträt den Betrachter in das Atelier des Künstlers, so bleibt in dem Berliner Selbstbildnis trotz der unveränderten Kleidung unbestimmt, wo sich Poussin befindet – der Maler könnte auch unter freiem Himmel gezeigt sein. Denn als Hintergrund der Künstlergestalt dient ein antiker Grabaltar mit einer von Eroten getragenen Girlande – klassisches Symbol der Glorifzierung –, die auf beiden Seiten das Haupt des Malers umfängt. Der Kopf Poussins wiederum wird von der Marmortafel hinterfangen, „der man in der Antike, eingeleitet von der Formel DIS MANIBUS, Namen und Alter des Verstorbenen einzumeißeln pflegte“ 
(Herklotz 2001, S. 99). Die internationalen Titel des Malers werden lapidar und doch vollständig aufgezählt: „Nicolas Poussin aus Les Andelys, Mitglied der römischen Akademie, erster Maler des Königs Ludwig von Frankreich, im Jahre des Herrn 1649 in Rom, im Alter von 55 Jahren.“ – „Dieses Denkmal ist Poussins Denkmal, und seine Gestalt wird durch dieses Denkmal überhöht“ (Herklotz 2001, S. 99).
Lovis Corinth: Selbstporträt, malend (1909); Halle/Saale, Stiftung Moritzburg
Lovis Corinth (1858–1925) hat 1909, auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Erfolgs, ein Selbstporträt angefertigt, das sich erkennbar auf Poussins Pariser Selbstbildnis bezieht. Corinth zeigt sich uns als Maler bei der Arbeit: Während sich sein Oberkörper nach links wendet (Pinsel und Palette lassen vermuten, dass jenseits des linken Bildrands die Staffelei mit der Leinwand steht), ist der Blick des Künstlers frontal auf den Betrachter gerichtet. Die Halbfigur wird fast vollständig von einer grundierten oder aber umgedrehten und nur mit einer Inschrift versehenen Leinwand hinterfangen das ist ganz die Konstellation, die Poussin in seinem Gemälde von 1650 entwickelt hat. Der entschiedende Unterschied besteht daran, dass sich Corinth jedoch mit Pinsel und Palette abbildet, während bei Poussin jeder Hinweis auf den eigentlichen Malakt  fehlt. „Nicht concetto, idea und disegno stehen, wie bei Poussin, im Zentrum, sondern die handgreifliche Arbeit mit dem Farbmaterial. (...) Der idealistischen Kunstauffassung, die Corinth in Poussins Selbstporträt erblickt haben dürfte, stellte er selbst ein Bekenntnis zur Geburt des Bildes aus der Farbpaste entgegen“ (Grave 2014, S. 241).

Literaturhinweise
Baader, Hannah: Nicolas Poussin, Selbstbildnis, 1650. In: Ulrich Pfisterer/Valeska von Rosen (Hrsg.), Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Philipp Reclam, Stuttgart 2005, S. 86;
Bätschmann, Oskar: Nicolas Poussin. Landschaft mit Pyramus und Thisbe. Das Liebesunglück und die Grenzen der Malerei. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 8-12;
Bätschmann, Oskar: De lumine et colore. Der Maler Nicolas Poussin in seinen Bildern. In: Matthias Winner (Hrsg.), Der Künstler über sich in seinem Werk. Internationales Symposium der Biblioteca Hertziana Rom 1989. VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim 1992, S. 463-484;
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002, S. 232-235;
Grave, Johannes: Lovis Corinth als pictor doctus. Kritische Bezugnahmen auf Poussin in einem Selbstbildnis Corinths. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 41 (2014), S. 235-248;
Herklotz, Ingo: Zwei Selbstbildnisse von Nicolas Poussin und die Funktionen der Porträtmalerei. In: Reinhard Brandt, Meisterwerke der Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol. Reclam Verlag, Leipzig 2001, S. 88-114;
Prater, Andreas: Das Bildnis vor dem Bild. Bemerkungen zu Poussins Louvre-Selbstporträt. In: Hans Körner u.a. (Hrsg.), Die Trauben des Zeuxis. Formen künstlerischer Wirklichkeitsaneignung. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1990, S. 88-103;
Rehm, Ulrich: Die Bildlichkeit des Bildnisses: Nicolas Poussin und das Selbstporträt. In: Christian Moser/Jürgen Nelles (Hrsg.), AutoBioFiktion. Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2006, S. 53-79;
Winner, Matthias: Poussins Selbstbildnis im Louvre als kunsttheoretische Allegorie. In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 20 (1983), S. 419-451;
Winner, Matthias: »L’amore di essa pittura« in Poussins Selbstbildnis von 1650. In: Ars et scriptura. Festschrift für Rudolf Preimesberger zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Hannah Baader u.a. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2001, S. 181-198.

(zuletzt bearbeitet am 28. April 2020)

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