Andrea Mantegna: Darbringung Jesu im Tempel (um 1455); Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken) |
Maria und Simeon, beide im Profil, stehen sich
gegenüber. Simeon greift nach dem in Windeln gewickelten Jesuskind mit dem
roten, strahlenbesetzten Häubchen, das Maria auf ein kostbares Kissen gestellt
hat und stützend mit den Armen umfängt. Es ist seiner Mutter zugewandt und
scheint wenig geneigt, ihre schützende Nähe zu verlassen. Zwischen Maria und
dem streng dreinblickenden weißbärtigen Simeon steht Joseph, doch deutet seine
zwar zentrale, aber etwas in den Hintergrund versetzte Stellung an, dass ihm in
der Handlung nur eine Nebenrolle zukommt. Wie Maria, das Kind und Simeon ziert
ihn jedoch ein Heiligenschein. Er fehlt den beiden Figuren am Rand, und schon
das setzt sie von der biblischen Gruppe ab. Die junge Frau links hinter Maria
trägt ein strohgelbes Tuch über einer weißen gefältelten Haube; der junge Mann
rechts hinter Simeon ist barhäuptig und hat kurzes lockiges Haar. Die Köpfe der
beiden, im Dreiviertelprofil dargestellt, sind nach links gerichtet. Doch während
auf diese Weise der Blick der jungen Frau aus dem Bild herausfällt, hat der
junge Mann die biblische Szene vor Augen.
Man nimmt heute allgemein an, dass die beiden
Figuren am Rand des Bildes mit Mantegna selbst und seiner Ehefrau Nicolosa
Bellini zu identifizieren sind. Der junge, doch schon zu Ruhm gekommene Mantegna
heiratete die Tochter des bekannten venezianischen Malers Jacopo Bellini wohl
Anfang des Jahres 1453. Der 1430/31 geborene Mantegna war erst ca. 24 Jahre alt,
als er die Darbringung Jesu im Tempel malte, deshalb kann man noch getrost von
einem Frühwerk sprechen. Ingeborg Walter geht davon aus, dass der Künstler mit
diesem Bild auch dankbar die Geburt seines erstes Sohnes feiert: „Die Wahl des
Themas, das die Übereignung des Sohnes an den Vater zum Inhalt hat, war also
nicht zufällig, sondern entsprach einer realen Erfahrung“ (Walter 1989, S. 67).
Das Kind gehört also quasi zweierlei Sphären an: der des Evangeliums und der
Gegenwart, auf die das zeitgenössische Wickelkleid mit den dekorativen, das
Windelband unterteilenden Streifen und das kostbare Taufhäubchen unmissverständlich
hinweisen.
Nach dem biblischen Bericht im 2. Kapitel des
Lukas-Evangeliums begaben sich Joseph und Maria, „als die Tage ihrer Reinigung
nach dem Gesetz des Mose um waren“ (Lukas 2,22; LUT) mit Jesus nach Jerusalem, um ihren
Sohn im Tempel darzubringen und um zwei Tauben zu opfern, wie es gefordert war.
Bei diesem Tempelbesuch begegneten sie dem greisen Simeon, der in dem Kind den
Heiland erkannte, und der Prophetin Hanna. Als „Merkzeichen“ und Dank für die
Befreiung des Volkes Israel vom ägyptischen Joch hatte Gott nämlich durch Mose angeordnet,
ihm jede männliche Erstgeburt zu „heiligen“, Mensch und Vieh, doch sollte der
Erstgeborenen des Menschen am Leben bleiben und ausgelöst werden (2. Mose
13,1-16). Jeder erstgeborene Knabe war also prinzipiell Eigentum Gottes. Die
Tauben hingegen sollten von den Wöchnerinnen geopfert werden, um sich von der kultischen
Unreinheit zu befreien, die mit der Geburt einhergeht (3. Mose 12,1-8). „Maria
und Joseph waren also nicht nach Jerusalem gezogen, um Gott für die Geburt des
Kindes zu danken, sondern um es ihm, der im spezifischen Fall auch sein wahrer
Vater war, symbolisch zu übergeben und seine Mutter vom Makel der Geburt zu
reinigen“ (Walter 1989, S. 62).
Sandra Gianfreda bringt die friesartig angeordneten Figuren auf Mantegnas Gemälde mit antiken Flachreliefs in Verbindung. Diese Bildhauertechnik wurde in den 1410er Jahren von Donatello (1386–1466) in der Auseinandersetzung mit klassischen Grabstelen neu belebt. Ausgangspunkt für Mantegnas Komposition dürfte, so Gianfreda, Donatellos um 1425/30 entstandene Pazzi-Madonna gewesen sein.
Donatello: Pazzi-Madonna (um 1425/30); Berlin, Bode-Museum |
Giovanni Bellini: Darbringung Jesu im Tempel (späte 1460er Jahre); Venedig, Fondazione Querini Stampalia (für die Großansicht einfach anklicken) |
Ettore Camesasca sieht in Bellinis Fassung ein Familien-Andachtsbild, das zu einem speziellen Anlass wie der Geburt eines Kindes oder einer Hochzeit gemalt sein könnte. Der Alte in der Mitte sei Jacopo Bellini, die beiden jungen Männer rechts seine Söhne Gentile und Giovanni, und links neben deren Schwester Nicolosia, die dieselbe Position einnimmt wie in Mantegnas Gemälde, befände sich deren Mutter.
Andrea Mantegna: Anbetung der Könige (um 1497/1500), Los Angeles, The J.P. Getty Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Literaturhinweise
Bätzner, Nike: Andrea Mantegna 1430/31–1506. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998, S. 26-27;
Camesasca, Ettore: Andrea Mantegna. Club del Libro, Mailand 1964;
Gianfreda, Sandra: Caravaggio, Guercino, Mattia Preti. Das halbfigurige Historienbild und die Sammler des Seicento. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2005, S. 25-28;
Prochno, Renate: Die friedliche Konkurrenz um Innovationen: Giovanni Bellini und Andrea Mantegna. In: Renate Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Akademie Verlag, Berlin 2006, S. 77-96;
Camesasca, Ettore: Andrea Mantegna. Club del Libro, Mailand 1964;
Gianfreda, Sandra: Caravaggio, Guercino, Mattia Preti. Das halbfigurige Historienbild und die Sammler des Seicento. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2005, S. 25-28;
Prochno, Renate: Die friedliche Konkurrenz um Innovationen: Giovanni Bellini und Andrea Mantegna. In: Renate Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Akademie Verlag, Berlin 2006, S. 77-96;
Walter, Ingeborg:
Andrea Mantegnas ›Darbringung Jesu im Tempel‹. Ein Bild der Befreiung und des
Aufbruchs. In: Städel-Jahrbuch 12 (1989), S. 59-70;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 28. April 2020)
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
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