Vincent van Gogh: Selbstporträt mit verbundenem Ohr und Pfeife (1889); Zürich, Kunsthaus Zürich |
Der Künstler scheint
den Betrachter zu fixieren – aber seine Augen richten sich auf sein
Spiegelbild. Dass es sich wirklich um das Spiegelbild handelt, ist daran zu
erkennen, dass hier das rechte Ohr bandagiert ist statt des tatsächlich
verletzten linken. Van Goghs Traum von einer Künstlergemeinschaft, einem „Atelier des Südens“ in Arles, war
gescheitert; nach einem Streit mit Paul Gauguin schnitt sich er sich am 23.
Dezember 1888 mit einem Rasiermesser das linke Ohrläppchen ab und überreichte
es im Bordell einer Prostituierten (eine der wenigen historisch verbürgten
Tatsachen dieser Legende).
Früher an diesem Tag
hatte Vincent an seinen Bruder geschrieben, er glaube, Gauguin habe „die gute
Stadt Arles, das kleine gelbe Haus, in dem wir arbeiten, und vor allem mich
selbst eingermaßen satt“, und er befürchte, Gauguin werde bald abreisen. Und so
kam es auch: Abrupt verließ Gauguin nach diesem Zwischenfall Arles und seinen
Freund für immer und kehrte nach Paris zurück. Psychologisch lässt sich van Goghs
Selbstverstümmelung vielleicht als Ventil verstehen, um „sein ihn plötzlich
überwältigendes Gefühl des Verlustes auszudrücken“ (Childs 2001, S. 136).
Vincent van Gogh: Selbstporträt mit verbundenem Ohr (1889), London, Courtauld Institute (für die Großansicht einfach anklicken) |
In London ist eine
etwas größere, farblich kühler gestimmte Version des Gemäldes zu sehen. Der
Unterschied zwischen beiden Werken ist im Hintergrund am augenfälligsten: Das
Bild aus dem Courtauld Institute zeigt das Atelier des Künstlers mit der Staffelei
samt Leinwand sowie einen japanischen Farbholzschnitt aus van Goghs Besitz.
Beide Gemälde könnte man angesichts der Tatsache, „dass die Arbeit an meinen
Bildern eigentlich zu einer Genesung nötig ist“, wie er an seinen Bruder Theo
schreibt, auch „als Dokumente der Selbstheilung qua Malerei, als Manifeste
seines Selbstbehauptungswillens gegen seine Krankheit sehen“ (Springer 2005, S.
136). Während er sich erholte, schrieb er seiner Schwester Wilhelmine: „Jeden
Tag gebrauche ich das Mittel, das der unvergleichliche Dickens gegen den
Selbstmord verschreibt. Es besteht in einem Glas Wein, einem Stück Brot mit
Käse und einer Pfeife Tabak.“ Schon das berühmte „Stuhlporträt“ von Ende 1888
hat von Gogh durch eine Pfeife ergänzt.
Vincent van Gogh: Stuhl mit Pfeife (1888); London, National Gallery |
Es ist kein Zufall,
dass van Gogh – mit umgekehrter Verteilung – die Farbkombination Rot-Orange
bereits im Bildnis Camille Roulins als Schüler verwendete, das zwischen
September und Dezember 1888 entstanden ist. Es ist Teil einer mindestens 18
Gemälde umfassenden, durch seine Krankheit unterbrochenen Porträtserie, die
alle Mitglieder der Familie des Postbediensteten Roulin umfasst.
Vincent van Gogh: Camille Roulin als Schüler (1888); São Paulo, Museo de Arte |
Literaturhinweise
Springer, Peter: Vincent van
Gogh, Selbstporträt mit verbundenem Ohr
und Pfeife, 1889. In: Ulrich Pfisterer/Valeska von Rosen (Hrsg.), Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter
bis zur Gegenwart. Philipp Reclam, Stuttgart 2005, S. 136;
Childs, Elizabeth C.:
Auf der Suche nach dem Atelier des Südens. Van Gogh, Gauguin und die Identität
des Avantgardekünstlers. In: Cornelia Homburg (Hrsg.), Vincent van Gogh und die
Maler des Petit Boulevard. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2001, S. 115-160;
Druick, Douglas W./Zegers, Peter
Kort (Hrsg.): Van Gogh und Gauguin. Das Atelier des Südens. Belser
Verlag, Stuttgart 2002;
Koldehoff, Stefan: Van Gogh. Mythos und Wirklichkeit. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003, S. 201-206.
(zuletzt bearbeitet am 16. April 2020)
Koldehoff, Stefan: Van Gogh. Mythos und Wirklichkeit. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003, S. 201-206.
(zuletzt bearbeitet am 16. April 2020)
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