Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (1459/60); Wien, Kunsthistorisches Museum |
Andrea Mantegna (1431–1506) hat das Martyrium
des zum Christentum bekehrten römischen Offiziers Sebastian dreimal in
Einzelbildern dargestellt. Der Legende nach ließ Kaiser Diokletian den Palasthauptmann,
als er von Sebastians christlichem Glauben erfuhr, an einen Baum fesseln und
von numidischen Bogenschützen hinrichten. Sein von zahlreichen Pfeilen
durchbohrter Körper blieb am Ort der Exekution zurück. Als die Christin Irene
und ihre Gefährtinnen den Leichnam später bestatten wollten, fanden sie
Sebastian noch lebend, brachten ihn in ihr Haus und pflegten seine Wunden, die
innerhalb weniger Tage vollständig verheilten. Als Sebastian weiterhin für
Christen eintrat, ließ ihn Diokletian schließlich erschlagen und in die Cloaca Maxima werfen.
Die überaus zahlreichen Sebastian-Darstellungen in
der abendländischen Kunst verdanken sich vor allem der kontinuierlichen Präsenz
der Pest in Europa seit der großen Epidemie von 1348. Denn Sebastian wurde wie
Rochus, Cosmas und Damian als Pestheiliger verehrt und angerufen, weil die
Pfeile seines Martyriums als Symbole für diese Seuche galten. Obwohl zwischen
der Folter des frühchristlichen Märtyrers und der Pest kein Zusammenhang besteht,
bot sich Sebastian in Zeiten der Seuche als Fürsprecher und Vermittler an: Er
wurde angefleht, Gottes Zorn zu besänftigen, auf dass der Allmächtige den
Pestpfeilen Einhalt gebiete bzw. die Gläubigen das Seuchen-Strafgericht
überstehen lasse.
Die früheste der drei Tafeln Mantegnas, die ich
hier vorstellen will, befindet sich heute in Wien (68 x 30 cm) und ist 1459/60 entstanden. 1460 war ein
entscheidendes Jahr im Leben Mantegnas, weil er von Padua nach Mantua an den
Hof der Gonzaga übersiedelte, in deren Dienste er bis an sein Lebensende blieb.
In dem Wiener Gemälde präsentiert Mantegna den Märtyrer in heroischem
Leidenspathos als kontrapostische Aktfigur, nur mit einem Lendentuch bedeckt. Sebastian
steht auf einem Steinblock und ist an eine Säule gefesselt, die Teil eines halbzerstörten römischen
Triumphbogen ist. Den Kopf und vor allem den Blick hat die mit einem Nimbus
versehene Gestalt himmelwärts gerichtet. Der Märtyrer hat die Schultern
hochgezogen, den Brustkorb vorgewölbt und die Knie aneinandergepresst. Trotz
des antiken Standmotivs kommt bei dieser Körperhaltung kein ausgewogenes, harmonisches
Kräftespiel zustande, vielmehr entsteht der Eindruck quälender Verspannung –
„es mag sich um eine Statue handeln, die sich im Schmerz verlebendigt bzw.,
anders gelesen, um einen Menschen, der kraft des von ihm Erduldeten zu einem
Denkmal, zu seinem eigenen monumentum
doloris wird“ (Helke 2009, S. 35).
Am Boden liegen Trümmer antiker Statuen und das
Fragment eines bacchantischen Reliefs – was auf den Zerfall des Heidentums und den
Sieg des christlichen Glaubens hinweisen soll. Dabei ist das Szenario natürlich
symbolisch aufzufassen, denn historisch gesehen war das antike Heidentum zu
Lebzeiten Sebastians noch lange nicht überwunden. Links vorne zu Füßen des
Märtyrers sind der steinerne Kopf, Rumpf in Rüstung und Fuß eines römischen
Kriegers zu erkennen; „sie wird man sinngemäß als Anspielung auf den vetus homo verstehen, Sebastians altes
Soldaten-Ego, abgelegt und an seinem Bekennermut zerschellt“ (Helke 2009, S.
29). Die an das bröckelnde Mauerwerk gelehnten Bruchstücke lassen sich
Ereignissen zuordnen, die Sebastians Marter zeitlich vorangegangen sind: Der
Einzelkopf erinnert an die Enthauptung eines von Sebastian bekehrten Mannes;
die Putti des dionysischen Reliefs mit Weinlaub und Trauben verweisen auf das
junge, von Sebastian zum Märtyrertod geführte Brüderpaar Marcus und
Marcellianus, die in der Legende wiederholt als „Kinder“ angesprochen werden.
Das Relief der aufwärts schwebenden Göttin
Victoria in dem Bogenfeld über Sebastians Haupt soll ebenfalls den Sieg des
Christentums verdeutlichen. Der sich aus dem alten Mauerwerk lösende Stein
wiederum dürfte christologisch zu deuten sein: Er ist völlig intakt und
demonstrativ über Eck gestellt, was sich als Anspielung auf den „Eckstein“
verstehen lässt, als der Jesus Christus im Neuen Testament mehrfach bezeichnet
wird (z. B. 1. Petrus 2,4-8). „Mantegna hat den lapis angularis hier in nächster Nähe zu Sebastian gerückt, der
sich mit seinem Martyrium der Leidensnachfolge des Herrn, der imitatio Christi, einschreibt“ (Helke
2009, S. 29).
Mantegna hat sein Werk auf der linken Seite des
Triumphbogens in griechischen Lettern signiert: „TO ERGON TOU ANDREOU“ („Das
Werk des Andreas“). Mit dieser unübersehbaren, an ungewöhnlich zentraler Stelle
im Bild angebrachten Inschrift stellt er sich in die Nachfolge der großen antiken
Maler Griechenlands – eine Selbsteinschätzung, die von seinen Zeitgenossen geteilt wurde: Mit Blick auf den berühmtesten Maler der Antike würdigten sie Mantegna als „neuen Apelles“.
Links oben im Bild formen die Wolken einen
Reiter, den man auf den ersten Blick leicht übersehen kann. Welche Bedeutung
hat er, warum hat Mantegna ihn eingefügt? Die in der Legenda aurea von Jacob de Voragine erzählte Geschichte Sebastians
hilft hier weiter. Dort wird im Einleitungsabsatz zu Sebastians Vita der Name
des Pestheiligen wie folgt erläutert: „Vel dicitur Sebastianus a basto. Nam
miles Christus, equus ecclesia, bastum sive sella Sebastianus“ („Der Reiter ist
Christus, das Pferd die Kirche, der Sattel Sebastian“). Das Bild von Christus
als Reiter dürfte Jacob de Voragine den Endzeitvisionen der
Johannes-Offenbarung entnommen haben; die Pest-Epidemien der damaligen Zeit
wurden als Zeichen für die nah herbeigekommene Apokalyse gedeutet. In der Offenbarung
erscheint der „König aller Könige und Herr der Herren“ auf einem weißen Pferd, „er
richtet und kämpft mit Gerechtigkeit“ (Offb. 19,11-16; LUT); auch wurde der erste der vier apokalyptischen
Reiter, ebenfalls auf einem Schimmel und mit einem Bogen (Offb. 6,1-3), mit
Christus gleichgesetzt. „Dem visionären Charakter der Schrift gemäß gibt
Mantegna die eschatologische Christusgestalt als eine immaterielle Erscheinung
wieder, die sich aus weißen Nebeln allmählich zur Form verdichtet“ (Helke 2009,
S. 38/39).
Im Hintergrund links entfernen sich auf einem breiten Weg drei Bogenschützen – diesem Pfad steht in der rechten Bildhälfte ein schmaler gegenüber, der gewunden durch die Landschaft und schließlich mittels eines Fährbootes über ein Gewässer führt. „Der Enge des Weges entspricht diejenige des ,Tores‘, den die nach rechts gerückte Bogenstellung zusammen mit dem Bildrand konstituiert“ (Hauser 2001, S. 161). Mantegna könnte hiermit auf die enge Pforte und den schmale Weg anspielen, von dem es in Matthäus 7,14 heißt, dass sie allein zum wahren Leben und Heil führen. Der Evangelientext deutet damit an, dass Nachfolge Jesu auch Mühsal bedeutet und Opferbereitschaft verlangt.
Im Hintergrund links entfernen sich auf einem breiten Weg drei Bogenschützen – diesem Pfad steht in der rechten Bildhälfte ein schmaler gegenüber, der gewunden durch die Landschaft und schließlich mittels eines Fährbootes über ein Gewässer führt. „Der Enge des Weges entspricht diejenige des ,Tores‘, den die nach rechts gerückte Bogenstellung zusammen mit dem Bildrand konstituiert“ (Hauser 2001, S. 161). Mantegna könnte hiermit auf die enge Pforte und den schmale Weg anspielen, von dem es in Matthäus 7,14 heißt, dass sie allein zum wahren Leben und Heil führen. Der Evangelientext deutet damit an, dass Nachfolge Jesu auch Mühsal bedeutet und Opferbereitschaft verlangt.
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (1480); Paris, Louvre |
Das nächste Sebastian-Darstellung im Pariser
Louvre (um 1480 entstanden) zeigt deutliche Anklänge an das Wiener Bild.
Diesmal haben wir es jedoch mit einem großformatigen Gemälde zu tun (275 x 142
cm), dessen Farben zu einem monochromen Grauton tendieren. Es war als Altarbild gedacht und hing in der Sainte Chapelle von
Aiguerperse, einem Schloss in der Auvergne. Das Bruchstück des antiken
Triumphbogens ist jetzt schräg ins Bild gestellt, der Körper Sebastians zwar
leicht zur Seite gedreht, aber weniger S-förmig gebogen als die Wiener Figur.
Statt der im Hintergrund abziehenden Henker platziert Mantegna nun zwei der
Schergen im Vordergrund rechts, in zeitgenössischen Kostümen und vom Bildrand
angeschnitten. Die Kopfhöhe der beiden Figuren dürfte wohl der des Betrachters
bei der ursprünglichen Hängung des Gemäldes entsprechen. Der Blick wird auf
diese Weise hinauf zu Sebastian geführt – der ihn wiederum mit seinen Augen
weiter nach oben auf die himmlische Sphäre lenkt. Den Füßen Sebastians ist das
Fragment einer Marmorstatue zur Seite gestellt, ein Fuß in römischen Sandalen.
Die Legende gibt keine Auskunft darüber, ob der
Märtyrer an einen Pfahl, einen Baum oder an eine Säule gebunden war. Es ist
Mantegnas Erfindung, Sebastians Richtstatt als einen architektonisch aufwendig
gestalteten Schauplatz wiederzugeben. Gleichzeitig wird der Heilige aber auch
in die Gegenwart versetzt, d.h. in eine Antike, die nun in Trümmern liegt:
„dass diese Überreste der Antike, zumal auf prominente Weise, bildwürdig
geworden sind, kann man wohl als ein weiteres und in der Tat folgenschweres
Novum ansehen“ (Helke 2009, S. 28). Mit sachlichem Archäologenblick hält
Mantegna fest, was an Resten der einstigen Schönheit übrig ist. „Ihr Verlust
wurde bitter beklagt; zugleich ließ sich nicht übersehen, dass aus den Trümmern
der Antike das Christentum erwuchs, das an ihrem Untergang nicht unbeteiligt war.
Dank des Blutes ihrer Märtyrer trug die neue Religion den Sieg davon – ein
zwiespältiger Sachverhalt für die Humanisten und für Mantegna wohl ebenso“
(Helke 2009, S. 28)
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (um 1490), Venedig, Cà d'Oro |
Mantegnas dritte Sebastian-Leinwand ist heute in
der Cà d’Oro in Venedig ausgestellt. Sie befand sich nach dem Tod des Künstlers
nach in dessen Atelier (wie übrigens auch sein berühmter Cristus in scurto). Wir wissen nicht, wann Mantegna das Bild gemalt
hat, ob es sich eine Auftragsarbeit handelte und wozu es bestimmt war.
Auf den landschaftlichen Hintergrund und die
antiken Bruchstücke des Triumphbogens hat der Künstler diesmal ganz verzichtet.
Der von 15 Pfeilen durchbohrte Märtyrer steht in einer dunklen Nische, die den
ganzen Bildraum einnimmt, die Hände auf den Rücken gefesselt, die Augen nach
oben gerichtet, den Mund schmerzvoll geöffnet. Im Gegensatz zu den beiden
früheren Versionen steht Sebastian nicht mehr ruhig – sein rechtes Bein ist
leicht angehoben, als wäre er im Begriff, nach vorne zu schreiten. Die Figur
wirkt sichtlich aufgewühlter, was sich an den fliegenden Haaren ablesen lässt.
Die Enden des um die Hüften geschlungenen Tuches flattern zur Seite und
steigern ebenfalls die Bewegtheit des muskulösen Körpers. Rechts vorne hat Mantegna
eine verlöschende Kerze mit Rauchfahne platziert; an ihr ist ein schmales Band
befestigt, das eine lateinische Inschrift trägt: „NIHIL NISI DIVINUM STABILE
EST, CETERA FUMUS“ („Nichts außer Gott ist von Dauer, alles andere ist Rauch“).
Gemeint ist: Körperliche Qualen sind irdisch und haben keinen Bestand. Wer das
Martyrium geduldig erleidet, wird ewigen Lohn erlangen.
Piero della Francesca: Sebastian und Johannes der Täufer (um 1450); Sansepolcro, Pinacoteca Comunale |
Donatello: Martyrium des hl. Sebastian (vor 1453); Paris, Musée Jacquemart-André |
Benozzo Gozzoli: Martyrium des hl. Sebastian (1466); San Gimignano, Collegiata |
Eine schier unübersehbare Fülle von
Sebastian-Darstellungen ist ab der Mitte des 15. Jahrhunderts zu verzeichnen.
Dabei wird der Märtyrer entweder als Einzelfigur mit Pfeilen im Leib
wiedergegeben – so z. B. auf einem Flügelaltaar von Rogier van der Weyden und
auf einem Polyptichon von Piero della Francesca, beide um 1450 entstanden. Oder
Sebastian ist die Hauptfigur einer dramatischen Szene, in der er von den kaiserlichen
Bogenschützen unter Beschuss genommen wird – so z. B. auf Donatellos Relief in
Padua (vor 1453 entstanden) und auf Benozzo Gozzolis Fresko in der Collegiata
von San Gimignano (1466). In In Mantegnas ersten beiden Sebastian-Version
durchdringen sich die ikonische und die narrative Darstellungsform: „Sein
Sebastian ist zwar eine Einzelfigur, sehr wohl aber auch Held einer Geschichte,
der von Not und Pein erzählt sowie ungewöhnlich suggestiv von Verlassenheit und
Einsamkeit“ (Helke 2009, S. 28). Darüber hinaus konkretisiert Mantegna
Sebastians Martyrium geografisch und zeitlich historisch korrekt durch den
römischen Triumphbogen.
Auf vielen Gemälden des Cinque- und des Seicento wird
Sebastian mit einem besonders schönen, erotisch anziehenden Körper präsentiert
(siehe meinen Post „Die Leiden des schönen Sebastian“). Das kann heutige
Betrachter regelrecht irritieren: Sollte es sich wirklich um einen Heiligen
handeln? Doch Sebastians Sinnlichkeit beweist geradezu, dass er wirklich lebt.
Vor allem ist er durch die Makellosigkeit seines Leibes ein Gegenbild zu dem
von der Pest befallenen Körper. Sebastian, der das Pfeilmartyrium durch ein Wunder
Gottes überlebt hat, wird „zu einem Versprechen, dass die Gläubigen, selbst
wenn sie am schwarzen Tod sterben müssen, einen zeitlosen, überirdischen, makellosen
Körper bekommen“ (Bohde 2004, S. 92).
Literaturhinweise
Bätzner, Nike: Andrea Mantegna 1430/31–1506. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998;
Belting, Hans: Der Kult Sebastians – ein christlicher Märtyrer als Kunst-Werk der Renaissance. In: Sigrid Weigel
(Hrsg.), Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen
Kriegern. Wilhelm Fink Verlag, München 2007, S. 162-164;
Bohde, Daniela: Ein Heiliger der Sodomiten? Das erotische Bild des Hl. Sebastian im
Cinquecento. In: Mechthild Fend/Marianne Koos (Hrsg.), Männlichkeit im Blick.
Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit. Böhlau Verlag,
Köln 2004, S. 79-98;
Hauser, Andreas: Andrea Mantegnas »Wolkenreiter«. Manifestation von kunstloser Natur oder Ursprung von vexierbildhafter Kunst? In: Gerhart von Graevenitz u.a. (Hrsg.), Die Unvermeidbarkeit der Bilder. Gunter Narr Verlag, Tübiungen 2001, S. 147-172;
Hauser, Andreas: Andrea Mantegnas »Wolkenreiter«. Manifestation von kunstloser Natur oder Ursprung von vexierbildhafter Kunst? In: Gerhart von Graevenitz u.a. (Hrsg.), Die Unvermeidbarkeit der Bilder. Gunter Narr Verlag, Tübiungen 2001, S. 147-172;
Helke, Gabriele: Eine Inkunabel der Antikenrezeption: Mantegnas Hl. Sebastian im Kunsthistorischen Museum. In: Jahrbuch des
Kunsthistorischen Museums Wien 11 (2009), S. 25-41;
Pfisterer, Ulrich: Künstlerische potestas
audiendi und licentia im
Quattrocento. Benozzo Gozzoli, Andrea Mantegna, Bertoldo di Giovanni. In:
Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31 (1996), S. 107-148, bes.
130-134;
Schneider, Norbert: Venezianische Malerei der Frührenaissance. Von Jacobello del Fiore bis Carpaccio. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, S. 63-69;
von Einem, Herbert: Mantegnas „Sebastian“ in der Cà d’Oro. In: Römisches Jahrbuch für
Kunstgeschichte 20 (1983), S. 75-82;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 7. August 2022)
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 7. August 2022)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen