Caravaggio: Die Bekehrung Maria Magdalenas (1598/99); Detroit, The Detroit Institute of Art (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das breitformatige Halbfigurenbild ist ein aus
der venezianischen und niederländischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts
bekannter Gemäldetypus, bei dem die meist lebensgroßen Figuren nah an den
Betrachter herangerückt werden. Caravaggio (1571–1610) hat ihn um 1600
aufgegriffen und in die römische Malerei seiner Zeit eingeführt. Dabei entstanden
zunächst Genrebilder wie Die Wahrsagerin
(siehe meinen Post „Hinters Licht geführt“) oder Die Falschspieler. Mit der Bekehrung
Maria Magdalenas schuf Caravaggio 1598/99 dann wahrscheinlich sein erstes
religiöses Halbfigurengemälde – es gehört zu seinen erfolgreichsten
Bilderfindungen, wie eine große Anzahl zeitgenössischer Kopien und Varianten
belegt.
Caravaggio: Die Wahrsagerin (1596/97); Paris, Louvre |
Caravaggio: Die Falschspieler (1594/95); Fort Worth, Kimbell Art Museum |
Was genau ist dargestellt? Es handelt sich um
ein Thema, das erst im 16. Jahrhundert in Italien aufkam und den biblischen
Bericht von Maria und Martha (Lukas 10,38-42) mit den Legenden vermischte, die
sich um die Sünderin Maria Magdalena rankten. Martha, links im Bild, und ihre
Schwester Maria Magdalena sind hinter einem hölzernen Tisch platziert und in
ein intensives Gespräch vertieft. Maria Magdalena ist im Zentrum der Komposition
frontal dem Betrachter zugewandt. Sie trägt ein von goldenen Stickbändern
verziertes Purpurkostüm mit leuchtend roten Satin-Puffärmeln sowie ein weißes
gefälteltes Unterkleid mit bestickter Borte aus Ranken und Blättern. Um Taille
und Bauch hat sie außerdem eine dünne cremefarbene Schärpe angelegt. Das Haar
wird hinter dem Kopf von einem gelb-roten Band zusammengehalten, einzelne
Locken rahmen das Gesicht.
Maria Magdalena blickt zu Martha hinüber; ihr
linker Arm, über den sie ihren grünen Umhang geworfen hat, ruht auf einem am
Tischende stehenden gerahmten Rundspiegel. Vor ihr auf dem Tisch liegen ein
Hornkamm und ein Alabastergefäß mit Schminkschwamm. Besonders in der
vorangegangenen venezianischen Malerei wurden diese drei Gegenstände immer
wieder als Sinnbilder für die Vergänglichkeit alles Irdischen und insbesondere
körperlicher Schönheit verwendet. Lange dachte man, die Szene zeige, wie Martha
ihre Schwester ermahne, ihrem sündigen Leben zu entsagen. Wahrscheinlicher ist
jedoch, so Frederic Cummings, dass Martha die Wunder Christi aufzählt, und wir sehen
hier die Bekehrung Maria Magdalenas vor uns, von Caravaggio erstmals in der
Malerei dargestellt. „Die Bedeutung des Moments und der narrative Ablauf des Geschehens
werden vor allem durch die Regie des gleißend einfallenden, die Wirkung des
Göttlichen symbolisierenden Lichts verdeutlicht“ (Schütze 2009, S. 76).
Der Spiegel wird vom Vanitassymbol zum Sinnbild göttlicher Erleuchtung |
Maria Magdalena deutet auf dieses göttliche
Licht, das sich prismenartig im Rund des konvexen Glaskörpers bündelt und in
diesem Moment auch ihr Gesicht erleuchtet. „Aus dem traditionellen
Vanitassymbol, wie es aus Allegorien der Vanitas und Darstellungen der Toilette
der Venus vertraut war und der weltlichen Magdalena gedient haben mochte, ist
ein sokratischer Spiegel, ein Symbol der von göttlicher Weisheit inspirierten
Selbstreflexion geworden“ (Schütze 2009, S. 76). Der Spiegel und das von ihm
reflektierte Licht erinnern darüber hinaus an die bekannten Verse aus dem 1.
Korintherbrief des Paulus: „Jetzt sehen wir nur ein unklares Bild wie in einem
trüben Spiegel; dann aber schauen wir Gott von Angesicht. Jetzt kennen wir Gott
nur unvollkommen; dann aber werden wir Gott völlig kennen, so wie er uns jetzt
schon kennt“ (1. Korinther 13, 12; LUT).
Für Valeska von Rosen ist die Szene allerdings
keineswegs so eindeutig, wie sie in der kunsthistorischen Forschung
interpretiert wird: „Nichts an der Mimik oder der Gestik Magdalenas indiziert
ihre innere Umkehr oder überhaupt irgendeine seelische Regung, die auf ihre
bevorstehende Bekehrung hindeutet“ (von Rosen 2009, S. 144). Ihr Gesicht sei
ausdruckslos und unbestimmt. Caravaggio zeige offensichtlich jenen Moment, bevor Magdalenas innere Wandlung
einsetze. Der Lichtfleck auf dem Spiegel könne durchaus als Zeichen der
Erleuchtung verstanden werden – die die Züge Magdalenas, so von Rosen,
gleichwohl noch nicht zu erkennen gebe.
Das helle Licht, von dem Maria Magdalenas Gesicht,
Schultern und Dekolleté erfasst werden, verleiht ihrem Inkarnat eine fast
porzellanhafte Glätte. Obwohl sie mit weit geöffneten Augen ihre Schwester
anzusehen scheint, richtet sich ihr Blick doch vor allem nach innen – wo sich,
erleuchtet von göttlicher Gnade, ihre Bekehrung vollzieht. Dabei verweisen Kamm
und Puderdose auf das bisherige Leben Maria Magdalenas, während die an ihr Herz
gehaltene Orangenblüte und der feine Goldreif an ihrem linken Ringfinger sie
als mystische Braut Christi kennzeichnen.
Marthas Gesicht dagegen liegt ganz im Schatten –
sie ist nicht der Auslöser dieser spirituellen Erfahrung, sondern beobachtet
sie nur: Martha hält während dieses Moments in ihrer Argumentation inne und
bestaunt mit offenem Mund, was in ihrer Schwester vorzugehen scheint. Die
klassische Geste des Aufzählens an den Fingern hat Caravaggio übrigens später
auch in seiner Matthäus-Darstellung (Contarelli-Kapelle) eingesetzt, auf der ein
Engel dem Evangelisten die Genealogie Christi erläutert (siehe meinen Post „Matthäus, der Analphabet“). Martha ist in einfachere und gröbere Stoffe gehüllt als ihre
Schwester: Sie trägt einen erdfarbenen Umhang über einem roten Gewand und darunter
ein weißes Unterkleid mit grünen Ärmeln. Um die beiden Frauen als Schwestern zu
kennzeichen, hat Caravaggio Martha mit der gleichen durchsichtigen Schärpe
versehen wie Maria Magdalena. Marthas braunes Haar ist zurückgekämmt und in
einem Zopf um den Hinterkopf gelegt, einige Strähnen fallen an der linken
Schläfe herab. Nur ihr Zopf, die linke Schulter und ihre Hände werden vom Licht
getroffen.
Bernardino Luini: Die Bekehrung Maria Magdalenas (1515); San Diego, San Diego Museum of Art |
Als Vorbild könnte Caravaggio eine Darstellung gedient
haben, die damals als Original Leonardo da Vincis galt und sich im Besitz des
Kardinals del Monte befand (heute wird sie Bernardino Luini zugeschrieben).
Kardinal del Monte war einer der frühen Förderer Caravaggios, der ihn Ende 1595
für fünf Jahre als Mitglied des Haushalts in seinen Palazzo aufnahm. Leonardo
zu übertreffen, könnte ein Anreiz für Caravaggio gewesen sein, sich diesem
Thema zuzuwenden. Formal zeigen beide Werke eine ähnliche Anordnung mit zwei
Frauen als Halbfiguren an einem Tisch vor dunklem Hintergrund. Caravaggio fügt
jedoch noch das Kunststück des reflektierenden Konvexspiegels hinzu, der im
Kontext dieser Szene zum ersten Mal auftaucht.
Tizian: Junge Frau bei der Toilette (um 1515); Paris, Louvre |
Lorenzo Pericolo betrachtet dagegen Tizians Junge Frau bei der Toilette aus dem
Louvre (um 1515 entstanden) als wichtigste Anregung für Caravaggios Gemälde.
„Even at first glance, it is easy to discern how the silhouettes that
circumscribe the face and upper bust of Titian’s woman and Caravaggio’s
Magdalene match each other: an almost identical outline stretches from one
shoulder to another, encompassing through its sinuosity a well-rounded, massive
neck and a voluptuous face“ (Pericolo 2011, S. 179). Auf beiden Bildern werden
die Frauen in helles Licht getaucht – bei Caravaggio wie von einem
Scheinwerfer angestrahlt –, während die Nebenfiguren im Schatten bleiben.
Caravaggio behandelt die Szene trotz seines
religiösen Themas nicht anders als seine Genrebilder. Die beiden Halbfiguren werden
ohne Nimbus gezeigt, und die traditionellen Attribute Maria Magdalenas –
Salbgefäß und Schmuck – fehlen. Deswegen könnte auf den ersten Blick der Eindruck
entstehen, es handele sich um eine Toilettenszene, bei der eine kostbar
gekleidete und frisierte Dame die Wirkung einer Orangenblüte an ihrem Dekolleté
überprüft. Die Gestalten und Objekte sind naturgetreu wiedergegeben und in
keiner Weise idealisiert. Maria Magdalena und ihre Schwester Martha werden wie
zwei gewöhnliche Frauen präsentiert – offensichtlich hat Caravaggio Modelle für
seine Figuren verwendet.
Caravaggio: Hl. Katharina (1598); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza |
Caravaggio: Judith enthauptet Holofernes (1598); Rom, Galleria Nazionale d’Arte Antica |
Caravaggio: Porträt Filide Melandroni (1598/99); ehemals Berlin, wahrscheinlich 1945 verbrannt |
Für die Gestalt der Maria Magdalena nutzte der Maler wahrscheinlich
dasselbe Modell wie für die zeitgleichen Bilder der Heiligen Katharina und Judith enthauptet Holofernes. Bei dem Modell könnte es sich um die Kurtisane Filide
Melandroni handeln, die Caravaggio in einem wohl 1945 in Berlin verbrannten
Gemälde porträtierte.
Caravaggio: Hl. Franziskus in Ekstase (1595/96); Hartford, Wadswort Atheneum |
Caravaggio: Die Bekehrung des Paulus (1602); Rom, Santa Maria del Popolo |
Das Interesse des Barock-Künstlers an inneren
Verwandlungen zeigt sich auch bei zwei späteren Gemälden: dem Hl. Franziskus in Ekstase und der
zweiten Fassung seiner Bekehrung des
Paulus. Die Bekehrung Maria
Magdalenas hat zahlreiche Nachahmer gefunden – zu den gelungensten
Neuformulierungen von Caravaggios Gemälde gehören eine Version von Orazio
Gentileschi (1563–1639) sowie eine lebensgroße
Darstellung von Peter Paul Rubens (1577–1640). Am deutlichsten folgt Simon Vouet (1590–1649) in der Anordnung der Figuren, besonders in der Körperhaltung Marias, dem Vorbild Caravaggios; gegenüber dem Detroiter Gemälde sind die räumlichen Verhältnisse allerdings spiegelbildlich wiedergegeben.
Orazio Gentileschi: Die Bekehrung Maria Magdalenas (um 1620); München, Alte Pinakothek |
Peter Paul Rubens: Martha und ihre reuige Schwester Maria (um 1620); Wien, Kunsthistorisches Museum |
Literaturhinweise
Cummings, Frederic: The meaning of Caravaggio’s ‘Conversion of
the Magdalen’. In: The Burlington Magazine 116 (1974), S. 572-578;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben.
Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S.
105-106;
Gianfreda, Sandra: Caravaggio, Guercino, Mattia
Preti. Das halbfigurige Historienbild und die Sammler des Seicento. Edition
Imorde, Emsdetten/Berlin 2005, S. 17-37;
Pericolo, Lorenzo: Love in the Mirror: A Comparative Reading of
Titian’s Woman at Her Toilet and
Caravaggio’s Conversion of Mary Magdalene.
In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative.
Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers,
Turnhout 2011, S. 177-197;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das
vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 76;
von Rosen, Valeska: Caravaggio und die Grenzen des
Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600.
Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 141-145;LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 7. April 2021)
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