Dienstag, 14. April 2020

Da staunt die Verwandtschaft – Rembrandts Radierung „Joseph erzählt seine Träume“ (1638)

Rembrandt: Joseph erzählt seine Träume (1638); Radierung
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Joseph gehört zu den bekanntesten Gestalten des Alten Testaments: Seine Geschichte wird im 1. Buch Mose in Kapitel 37 bis 50 geschildert. Sie galt in den calvinistischen Niederlanden des 17. Jahrhunderts als herausragendes Beispiel gottgefälligen Lebens. Eine wichtige Episode aus dieser an dramatischen Ereignissen und Wendungen reichen Erzählung hat Rembrandt 1638 auf einer kleinformatigen Radierung (11 x 8,3 cm) dargestellt: Nach 1. Mose 37,3-11 träumt Joseph, dass die von seinen elf Brüdern gebundenen Garben auf dem Feld sich vor der eigenen und dass Sonne, Mond und elf Sterne sich vor ihm selbst verneigen, also auch Vater und Mutter. Dies berichtet nun der knabenhafte, in der Mitte des Blattes stehende Jüngling, der mit seinen ausgestreckten Händen das tiefe Sich-Verbeugen der Brüder nachahmt. Joseph wendet sich dabei seinem links sitzenden greisen Vater Jakob zu, um ihm zu demonstrieren, was er im Traum gesehen hat. 
Erstaunt lehnt sich der langbärtige Patriarch in seinem Sessel zurück und folgt aufmerksam den Worten Josephs. Sein rechter Arm ruht dabei auf dem leicht angehobenen Knie, während er sich mit der linken Hand auf die Armlehne stützt. Zwar ist Jakob seine Skepsis anzusehen, aber von der harschen Zurechtweisung seines Sohnes, die in 1. Mose 37,9-10 (LUT) wiedergegeben wird, lässt sich auf Rembrandts Radierung nichts erkennen: „Und als er das seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, schalt ihn sein Vater und sprach zu ihm: Was ist das für ein Traum, den du geträumt hast? Sollen denn ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen?“
Ein Kreis, der sich um den Erzählenden schließt, erschien Rembrandt offenbar als sinnfälligste Veranschaulichung der Faszination, die von dem jungen Fabulator ausgeht und auf die anderen wie ein Magnet wirkt, so daß sie sich konzentrisch um ihn scharen“ (Pächt 2005, S. 177). Die Mimik der gleichfalls zuhörenden, deutlich älteren Halbbrüder (einer von ihnen ist nur durch eine Hand am rechten Bildrand angedeutet) spiegelt Verärgerung und spöttischen Hohn angesichts von Josephs vorgeblichem Hochmut. Auffällig ist insbesondere der rechts am Tisch sitzende Mann, dessen Kopfneigung und ironische Gebärde in Richtung Joseph die Reaktionen zusammenfasst, die der Jüngste mit seinem Traumbericht bei seinen Brüdern auslöst. Josephs ruhiger Gesichtsausdruck und seine Jugend kontrastieren nicht nur mit dem Alter seines Vaters, sondern zugleich mit den grimassierenden Männern hinter ihm. Insbesondere die um das Ende des Tisches versammelte Gruppe erinnert dabei an die Jünger in Abendmahlsdarstellungen.
Ungewöhnlich ist das Himmelbett oben links, aus dem sich eine alte Frau nach vorne beugt, um ebenso aufmerksam und verwundert wie Jakob dem Jüngling zu lauschen. Es könnte sich um Rahel handeln, Jakobs zweite Frau; Joseph ist vor Benjamin der ältere der beiden Söhne, die Jakob mit Rahel bekommt. Allerdings ist sie zum Zeitpunkt des Geschehens bereits verstorben (1. Mose 35, 6-20), deswegen wurde auch vermutet, es sei Josephs nicht leibliche Mutter Lea gemeint, Jakobs erste Frau. Das Motiv der im Hintergrund im Bett liegenden Rahel bzw. Lea könnte Rembrandt aus einem 1532 entstandenen Kupferstich des westfälischen Kleinmeisters Heinrich Aldegrever (1502–1555/1561) übernommen haben.
Heinrich Aldegrever: Joseph erzählt seine Träume (1532); Kupferstich
Auf Rembrandts Radierung sitzt kontrastierend im Vordergrund rechts ein junges Mädchen, das dem Betrachter den Rücken zuwendet und und mit beiden Händen ein Buch auf ihrem Schoß festhält. Wahrscheinlich ist es eine der Töchter Jakobs, die in der Josephsgeschichte nur am Rand erwähnt werden, als sie ihren trauernden Vater wegen des vermeintlich durch wilde Tiere getöteten Joseph trösten (1. Mose 37,35). Eine Zeichnung mit Rembrandts Ehefrau Saskia im Wochenbett, um 1635 entstanden, nimmt an gleicher Stelle das ähnlich gebildete Krankenlager vorweg, dem hier wie auf der Radierung im unteren Eck eine Frau im verlorenen Profil gegenüber sitzt. Außerdem hatte sich Rembrandt mit dem Traumbericht Josephs bereits in einer 1633 entstandenen Grisaillemalerei beschäftigt, deren Komposition der späteren Radierung ähnelt. Auch dieses Motiv könnte von Aldegrevers Blatt angeregt worden sein, denn auf dessen Kupferstich steht der Sessel Jakobs dort, wo Rembrandt den Stuhl seiner Dina platziert hat, im Vordergrund rechts.
Rembrandt: Saskia im Wochenbett (um 1635); München, Graphische Sammlung
Rembrandt: Joseph erzählt seine Träume (1633); Amsterdam, Rijksmuseum
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Rembrandt: Der barmherzige Samariter (1633); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Es sei noch auf ein Detail hingewiesen, das den besonderen Humor Rembrandts belegt: Inmitten dieser für den Fortgang der Josephsgeschichte bedeutsame Szene (nach seinem Traumbericht beschließen die Halbrüder, Joseph aus dem Weg zu schaffen) hat der Künstler vorne links neben dem Feuerchen in der Ecke einen kleinen Hund dargestellt. Und der leckt sich, wie dies Hunde nun hin und wieder tun – die eigenen Geschlechtsteile, um sich zu säubern ... Man benötigt allerdings eine Lupe, um das Knäuel am vorderen Bildrand entschlüsseln zu können. Schon in seiner Radierung Der barmherzige Samariter von 1633 hatte Rembrandt im Vordergrund – für den Betrachter, der dies entdeckt, durchaus irritierend – einen defäkierenden Hund abgebildet. Das ist aber nur auf den ersten Blick kurios; Rembrandt macht auf diese Weise deutlich, dass die biblischen Figuren keine weltentrückten Heiligen sind – es geht in ihren Lebensgeschichten überaus irdisch zu.
Rembrandt: Jakob wird der blutige Rock Josephs gebracht (1633); Radierung
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Den weiteren Verlauf der Josephsgeschichte hatte Rembrandt schon 1633 in einer gleich großen Radierung (10,7 x 8 cm) dargestellt. Sie zeigt, wie zwei der zwölf Söhne Jakobs dem Vater den in Tierblut getränkten Rock ihres jüngsten Bruders vorweisen, um dessen Tod vorzutäuschen; tatsächlich hatten sie ihn aus Eifersucht an eine Karwane von Ismaelitern verkauft, die ihn
als Sklaven nach Ägypten bringen. Mit diesem Kleidungsstück hatte Jakob seinen Lieblingssohn ausgezeichnet; Rembrandt interpretierte es auf seiner Radierung von 1638 als halbärmeligen Pelzmantel, den einzig Jakob und Joseph tragen, aber keiner der Brüder. Als Jakob das Kleidungsstück erkennt, ruft er verzweifelt aus: „Es ist meines Sohnes Rock; ein böses Tier hat ihn gefressen, zerrissen, zerrissen ist Joseph!“ (1. Mose 37,33; LUT). Hauptakzent der früheren Radierung sind das schmerzverzerrte Gesicht des Erzvaters und seine im Klagegestus erhobenen Hände, während die beiden Söhne ihre Besorgnis nur vortäuschen.

Literaturhinweise
Brinkmann, Bodo u.a. (Hrsg.): Rembrandts Orient. Westöstliche Begegnung in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Prestel Verlag, München/ London/New York 2020, S. 304;
Kreutzer, Maria: Rembrandt und die Bibel. Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003, S. 46;
Mallach, Mailena: Josef erzählt seine Träume (1638). In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 142;
Pächt, Otto: Rembrandt. Prestel-Verlag, München 2005, S. 177-179;
Sevcik, Anja K. (Hrsg.): Inside Rembrandt 1606 – 1669. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, S. 95-96; 
Unverfehrt, Gerd (Hrsg.): Rembrandt schwarz – weiß. Meisterwerke der Radierkunst aus der Kunstsammlung der Universität Göttingen. Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Göttingen 1994, S. 127-128; 
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 2. September 2024) 

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