Montag, 6. April 2020

Leiden im Kontrapost – Albrecht Dürers „Hl. Sebastian an der Säule“

Albrecht Dürer: Hl. Sebastian an der Säule (um 1499); Kupferstich
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der römische Offizier Sebastian gehört zu den bekanntesten christlichen Märtyrern und meistverehrten katholischen Heiligen. Kaiser Diokletian ließ ihn wegen seines christlichen Glaubens an einen Baum binden und durch numidische Bogenschützen hinrichten – was der Soldat jedoch, so die Legende, durch ein Wunder Gottes überlebte. Irene, eine junge Witwe, wollte den Toten bestatten, fand ihn aber lebend vor und pflegte ihn gesund. Als Sebastian den Kaiser öffentlich der Christenverfolgung beschuldigte, befahl dieser schließlich, ihn zu Tode peitschen und in die „Cloaca Maxima“ werfen, den größten Abwasserkanal Roms.
Insbesondere in der italienischen Frührenaissance wurde der jugendliche Märtyrer häufig dargestellt – sicherlich auch, weil sich gerade diese Figur für eine Aktdarstellung anbot. Auch Albrecht Dürer (1471–1528) wählt um 1499 den hl. Sebastian, um im Kupferstich einen nackten männlichen Körper darzustellen. Auf dem 10,9 x 7,7 cm großen Blatt ist der bis auf einen Lendenschurz entkleidete Sebastian an eine Säule gestellt, die Arme sind am Rücken über Kreuz zusammengebunden. Sein großes schweres Haupt mit dem schulterlangen, gelockten Haar und dem melancholisch-traurigen Antlitz ist leicht nach rechts geneigt; der Kopf erinnert an die Figur des Johannes aus Dürers Holzschnitt-Apokalypse (siehe meinen Post „Kunstvoller Weltuntergang“). Ein S-förmiger Körperschwung, wie er noch dem Spätmittelalter angehört, umspielt die Martersäule „und nimmt ihr die strenge Vertikalität“ (Schauerte 2002, S. 139). Die beinahe entspannte Haltung der Figur wird dabei „durch die gegenläufige Landschaftsgestaltung in ihrer sinnlichen Eleganz noch gesteigert“ (Schneider 1999, S. 134). Die Säule ist Bestandteil einer angeschnittenen Bogenöffnung, die den Blick freigibt auf einen kargen Landschaftsausschnitt vor leerem Himmel.
Sebastian ist gleichzeitig im antiken Kontrapost dargestellt und zeigt deutlich Dürers Kenntnis des menschlichen Körperbaus: Viele anatomische Details wie Adamsapfel, Schlüsselbein, Rippenbogen und Muskulator werden wiedergegeben. Ein solcher Oberflächenrealismus wurde in der deutschen Kunst seit 1400 sehr geschätzt, so etwa in den Skulpturen von Veit Stoß (um 1447–1533) und Tilman Riemenschneider (1460–1531). Der wohlgeformte Oberkörper des Heiligen wird durch das tief sitzende Lendentuch regelrecht verlängert. Sebastian scheint unversehrt, ist aber von vier Pfeilen durchbohrt – einer der Pfeile hat ihn sogar mitten in die Stirn getroffen. Die auf den Märtyrer zielenden Bogenschützen, in der Tafelmalerei oft mit abgebildet, sind als erzählerisches Motiv weggelassen – das künstlerische Augenmerk gilt hier vorrangig der Aktdarstellung. Dass es allerdings bis zu Dürers ersten Proportionsstudien um die Jahrhundertwende noch ein Stück Weg ist, zeigt sich am übergroßen Kopf des Heiligen.
Cima de Conegliano: Hl. Sebastian (um 1485); Olera, San Bartolomeo
Antonello da Messina: Hl. Sebastian (1476/77); Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister
Antonio Rizzo: Adam (um 1485); Venedig, Dogenpalast
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (1459/60); Wien, Kunsthistorisches Museum
Dürer könnte sich in seinem Stich an einem Gemälde des italienischen Künstlers Cima de Conegliano (1459–1517) orientiert haben. Die von dort übernommene Ponderierung hat er jedoch intensiviert und so die ausgestellte Hüfte weit stärker betont. Als Vorbild denkbar ist aber auch ein heute in Dresden aufbewahrter Hl. Sebastian von Antonella da Messina (1430–1479) oder der 1485 geschaffene Marmor-Adam von Antonio Rizzo (1430–1499) am Foscari-Bogen in Venedig. Das drastische Motiv des die Stirn durchbohrenden Pfeils wiederum dürfte auf Andrea Mantegnas (1431–1506) Wiener Hl. Sebastian zurückgehen.
Albrecht Dürer: Schmerzensmann mit ausgebreiteten Armen
(um 1500); Kupferstich
Albrecht Dürer: Hl. Sebastian am Baume (um 1501); Kupferstich
Sein Interesse an der Proportion des männlichen Aktes hat Dürer kurze Zeit später nochmals in einem weiteren, ähnlich großen Kupferstich umgesetzt, und zwar in seinem Schmerzensmann mit ausgebreiteten Armen: Erneut nimmt Dürer hier das Motiv des klassischen Kontrapost auf, verleiht der Figur aber eine kräftiger und plastischer modellierte Muskulatur. Dem klassisch ausgewogenen Hl. Sebastian an der Säule hat Dürer um 1501 ein „expressives Gegenstück“ (Schoch 2000, S. 89) von etwa gleichem, etwas höheren Format an die Seite gestellt: Hier sind die gekreuzten Hände des muskulösen, nur mit einer kleinen Hose bekleideten Heiligen über seinem Kopf an einer Astgabel zusammengebunden, während das bärtige, christusähnliche Haupt mit den gesenkten Lidern und dem schmerzvoll geöffneten Mund erschöpft mit dem Kinn auf die Brust gesunken ist.

Literaturhinweise
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 59;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 139;
Schneider, Erich (Hrsg.): Dürer – Himmel und Erde. Gottes- und Menschenbild in Dürers druckgraphischem Werk. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung-Otto–Schäfer-II. Schweinfurt 1999, S. 134;
Schoch, Rainer: Der heilige Sebastian am Baume/Der heilige Sebastian an der Säule/Der Schmerzensmann mit ausgebreiteten Armen. In: Matthias Mende u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 82-84 und 89-90.

(zuletzt bearbeitet am 9. Juni 2020) 

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