Gustave Caillebotte: Das Mittagessen (1876); Privatsammlung (für die Großansicht einfach anklicken) |
Wir blicken in ein Esszimmer, in das durch
schwere Vorhänge gedämpftes Tageslicht fällt; eine ältere Frau und ein junger
Mann sitzen an einem mächtigen, dunklen Tisch und wenden sich ihrer Mahlzeit
zu. Es handelt sich um die Mutter des französische Malers Gustave Caillebotte
(1848–1894) und um seinen jüngeren Bruder René. Ein Diener ist herangetreten,
um Speisen zu servieren. Caillebottes Mutter trägt Witwentracht, sein Vater war
1874 gestorben – zwei Jahre bevor dieses Gemälde entstand. Nicht nur die
männliche Bedienung – die sich nur sehr wohlhabende Familien leisten konnten –,
auch die Raumausmaße, die aufwändigen Möbel und das kostbare Kristall
signalieren dem Betrachter, das wir uns in einem finanziell sehr gut situierten
Milieu befinden. In bürgerlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts blieb die Familie
beim Mittagessen in der Regel unter sich, anders als beim abendlichen Diner.
Pierre-Auguste Renoir: Das Mittagessen der Ruderer (1875); Chicago, Art Institute of Chicago |
Caillebottes Alltagsszene, 1876 auf der
zweiten Impressionisten-Schau ausgestellt, wird von der Stille und Vereinzelung
der Personen dominiert – im Gegensatz etwa zu Pierre-Auguste Renoirs Mittagessen der Ruderer von 1875 fehlt
dieser gemeinsamen Mahlzeit jegliches entspannt-heitere Moment. Schweigend und
ohne einander anzuschauen nehmen Mutter und Sohn ihr Essen zu sich: Die Mutter
bedient sich lustlos von der Platte, die ihr gereicht wird, René fixiert mit
gesenktem Haupt seinen Teller – es geht spürbar frostig zu. In dieser
Gesellschaft scheint jeder allein zu sein. Dieser Eindruck wird noch durch den
weiten Abstand zwischen Mutter und Sohn verstärkt.
Der Maler selbst, dessen Platz mit halb
gefülltem Weinglas und vom unteren Bildrand angeschnittenem Gedeck sich im
Vordergrund befindet, ist für uns nicht sichtbar. Wir als Betrachter scheinen
mit ihm zusammen am Tisch zu stehen und mit ihm durch ein Weitwinkelobjektiv zu
schauen, das die Tischplatte in die Breite verzerrt und ihr eine konvex
gebogene Oberfläche verleiht. So ist zum Beispiel der angeschnittene Teller wie
eine flache Scheibe in Aufsicht wiedergegeben. Von dort wird der Blick über den
von oben gesehenen Tisch, auf dem sich das Kristallgeschirr spiegelt, zum Scheitelpunkt
des wie lackiert glänzenden Halbkreises geführt: Hier sitzt, im Gegenlicht des
Speisesaals kaum erleuchtet und durch diese formalen Kunstgriffe unnahbar in
die Ferne gerückt“ (Sagner 2009, Tafel 24), die Mutter. Der solcherart
deformierte Tisch trennt die Personen mehr, als er sie verbindet.
Die räumlichen Verzerrungen und die
damit verbundenen Irritationen in den Größenverhältnissen wirken auf den
Betrachter beunruhigend, unheimlich, ja verstörend – hier stimmt im Wort- wie
im übertragenen Sinn einiges nicht. Es herrscht eine bedrückende Atmosphäre in
diesem großbürgerlichen Ambiente; der ruhige bourgeoise Komfort ist mit einem
Gefühl klaustrophobischer Langeweile verknüpft: Caillebotte wirft mit seinem
Gemälde einen gesellschaftskritischen Blick auf das Milieu, dem er selbst
angehört.
Paul Signac: Opus 152: Das Speisezimmer (1886/87); Otterlo, Kröller-Müller Museum |
1886/87 fertigte der französische Maler
Paul Signac (1863–1935) eine neo-impressionistische Variante von Caillebottes
Komposition an. Auf Opus 152: Das Speisezimmer
sind ebenfalls eine Frau und ein Mann zu sehen, die gemeinsam an einem Tisch
sitzen, während zwischen ihnen ein Hausmädchen steht. Doch während bei
Caillebotte Mutter und Bruder dargestellt werden, ersetzt Signac diese durch
ein namenloses älteres Ehepaar. Signac präsentiert uns eher um Typen als
Individuen. Dass auf seinem Bild kein männlicher Hausangestellter gezeigt wird,
verweist ebenso wie die schlichteren Möbel und das kleinere Zimmer auf den
nicht ganz so wohlhabenden Stand des Paares. Und natürlich unterscheidet sich
Signacs pointillistischer Malstil ganz entschieden von dem Caillebottes: Sein
Bild setzt sich aus tausenden nebeneinander aufgetragenen Farbpunkten zusammen.
Literaturhinweise
Sagner,
Karin: Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus. Hirmer
Verlag, München 2009;
Krämer,
Felix: Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900. Böhlau Verlag, Köln
2007, S. 53-56.
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