Sonntag, 26. April 2020

Freudloses Mahl – Gustave Caillebotte malt „Das Mittagessen“ (1876)


Gustave Caillebotte: Das Mittagessen (1876); Privatsammlung (für die Großansicht einfach anklicken)
Wir blicken in ein Esszimmer, in das durch schwere Vorhänge gedämpftes Tageslicht fällt; eine ältere Frau und ein junger Mann sitzen an einem mächtigen, dunklen Tisch und wenden sich ihrer Mahlzeit zu. Es handelt sich um die Mutter des französische Malers Gustave Caillebotte (1848–1894) und um seinen jüngeren Bruder René. Ein Diener ist herangetreten, um Speisen zu servieren. Caillebottes Mutter trägt Witwentracht, sein Vater war 1874 gestorben – zwei Jahre bevor dieses Gemälde entstand. Nicht nur die männliche Bedienung – die sich nur sehr wohlhabende Familien leisten konnten –, auch die Raumausmaße, die aufwändigen Möbel und das kostbare Kristall signalieren dem Betrachter, das wir uns in einem finanziell sehr gut situierten Milieu befinden. In bürgerlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts blieb die Familie beim Mittagessen in der Regel unter sich, anders als beim abendlichen Diner.
Pierre-Auguste Renoir: Das Mittagessen der Ruderer (1875); Chicago, Art Institute of Chicago
Caillebottes Alltagsszene, 1876 auf der zweiten Impressionisten-Schau ausgestellt, wird von der Stille und Vereinzelung der Personen dominiert – im Gegensatz etwa zu Pierre-Auguste Renoirs Mittagessen der Ruderer von 1875 fehlt dieser gemeinsamen Mahlzeit jegliches entspannt-heitere Moment. Schweigend und ohne einander anzuschauen nehmen Mutter und Sohn ihr Essen zu sich: Die Mutter bedient sich lustlos von der Platte, die ihr gereicht wird, René fixiert mit gesenktem Haupt seinen Teller – es geht spürbar frostig zu. In dieser Gesellschaft scheint jeder allein zu sein. Dieser Eindruck wird noch durch den weiten Abstand zwischen Mutter und Sohn verstärkt.
Der Maler selbst, dessen Platz mit halb gefülltem Weinglas und vom unteren Bildrand angeschnittenem Gedeck sich im Vordergrund befindet, ist für uns nicht sichtbar. Wir als Betrachter scheinen mit ihm zusammen am Tisch zu stehen und mit ihm durch ein Weitwinkelobjektiv zu schauen, das die Tischplatte in die Breite verzerrt und ihr eine konvex gebogene Oberfläche verleiht. So ist zum Beispiel der angeschnittene Teller wie eine flache Scheibe in Aufsicht wiedergegeben. Von dort wird der Blick über den von oben gesehenen Tisch, auf dem sich das Kristallgeschirr spiegelt, zum Scheitelpunkt des wie lackiert glänzenden Halbkreises geführt: Hier sitzt, im Gegenlicht des Speisesaals kaum erleuchtet und durch diese formalen Kunstgriffe unnahbar in die Ferne gerückt“ (Sagner 2009, Tafel 24), die Mutter. Der solcherart deformierte Tisch trennt die Personen mehr, als er sie verbindet.
Die räumlichen Verzerrungen und die damit verbundenen Irritationen in den Größenverhältnissen wirken auf den Betrachter beunruhigend, unheimlich, ja verstörend – hier stimmt im Wort- wie im übertragenen Sinn einiges nicht. Es herrscht eine bedrückende Atmosphäre in diesem großbürgerlichen Ambiente; der ruhige bourgeoise Komfort ist mit einem Gefühl klaustrophobischer Langeweile verknüpft: Caillebotte wirft mit seinem Gemälde einen gesellschaftskritischen Blick auf das Milieu, dem er selbst angehört.
Paul Signac: Opus 152: Das Speisezimmer (1886/87); Otterlo, Kröller-Müller Museum
1886/87 fertigte der französische Maler Paul Signac (1863–1935) eine neo-impressionistische Variante von Caillebottes Komposition an. Auf Opus 152: Das Speisezimmer sind ebenfalls eine Frau und ein Mann zu sehen, die gemeinsam an einem Tisch sitzen, während zwischen ihnen ein Hausmädchen steht. Doch während bei Caillebotte Mutter und Bruder dargestellt werden, ersetzt Signac diese durch ein namenloses älteres Ehepaar. Signac präsentiert uns eher um Typen als Individuen. Dass auf seinem Bild kein männlicher Hausangestellter gezeigt wird, verweist ebenso wie die schlichteren Möbel und das kleinere Zimmer auf den nicht ganz so wohlhabenden Stand des Paares. Und natürlich unterscheidet sich Signacs pointillistischer Malstil ganz entschieden von dem Caillebottes: Sein Bild setzt sich aus tausenden nebeneinander aufgetragenen Farbpunkten zusammen.

Literaturhinweise
Sagner, Karin: Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus. Hirmer Verlag, München 2009;
Krämer, Felix: Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900. Böhlau Verlag, Köln 2007, S. 53-56.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen