Freitag, 31. Mai 2024

Sie oder er? – Caravaggios Altarbild der „Madonna dei Palafrenieri“

Caravaggio: Madonna dei Palafrenieri (1605/06); Rom,
Galleria Borghese (für die Großansicht einfach anklicken)

Am 1. Dezember 1605 erhielt der italienische Barockmaler Caravaggio (1571–1610) den prestigeträchtigen Auftrag, das Altarbild für die Bruderschaft Palafrenieri in St. Peter anzufertigen. Der Bedeutung des Auftrags entsprechend, führte Caravaggio das großformatige Gemälde (292 x 211 cm) ungewöhnlich zügig aus, sodass es spätestens im April 1606 aufgestellt werden konnte. Am 16. April allerdings ließen die Auftraggeber das Altarbild plötzlich in die nahe gelegene Bruderschaftskirche Sant’Anna dei Palafrenieri bringen, und nur zwei Monate später beschlossen sie, es dem Kardinal Scipione Borghese zu verkaufen. In der Galleria Borghese ist das Bild noch heute ausgestellt.

Was waren die Gründe für die vermeintliche Ablehnung des Bildes? Zu sehen ist eine Anna selbdritt, also eine Darstellung der hl. Anna mit ihrer Tochter, der Jungfrau Maria, und dem Jesuskind. Die in ein leuchtend rotes Gewand gekleidete, in leichter Schrägansicht gezeigte Madonna ist nach vorne gebeugt und hält ihren vollständig nackten Sohn mit beiden Händen unter den Achseln. Mit ihrem linken Fuß ist sie auf den Kopf einer sich im Vordergrund windenden Schlange getreten. Der Knabe hat seinerseits den linken Fuß auf jenen der Mutter gesetzt, sein Gewicht nach vorn verlagernd, um den Kopf des Reptils zu zerdrücken. Rechts von der Mutter-Kind-Gruppe steht etwas tiefer im Bild die in einen grau-blau schimmernden Mantel gehüllte hl. Anna, eine Greisin mit zerfurchtem Gesicht. Sie hat die Hände gefaltet und verfolgt ergeben das Geschehen. Die monumentalen Figuren sind in einem nur angedeuteten Innenraum in kraftvollem Helldunkel modelliert. Die heute vielleicht irritierende Nacktheit des schon etwas älteren Knaben verstieß keineswegs gegen das damalige Decorum, galt doch die „ostentatio genitalium“ als Beweis der Fleischwerdung Christi und seiner wahren Menschennatur.

Mutter und Sohn machens gemeinsam

Die Schlange aus 1. Mose 3,15, die Eva zur Ursünde verführt und die Theologen später mit dem Teufel identifizieren, wird bei Caravaggio von Mutter und Sohn gemeinsam zertreten und besiegt. Textüberlieferung und Interpretation dieser Bibelstelle hatten Katholiken und Protestanten entzweit und zahllose Exegeten beschäftigt. Die Antwort auf die folgenreiche Frage, ob nach dem Sündenfall die Gottesmutter oder der Sohn den Kopf der Schlange zertritt und damit die Welt von der Sünde befreit, hing an einem einzigen Wort – ipsa bzw. ipso conteret caput tuum (Vulgata 3,15; dt. „er/sie trifft dich am Kopf“). Denn mit diesem Wort begründete die katholische Kirche ihre Sicht von Maria als Miterlöserin der Menschheit. Die Protestanten wiederum bezogen den entsprechenden Passus allein auf Christus.

Papst Pius V. hatte 1569 mit einer Bulle verfügt, dass die Madonna mit Hilfe des Sohnes den Kopf der Schlange zertritt und damit die Welt von der Erbsünde befreit. Ausdrücklich wird die Schlange in dieser Bulle auch mit der „lutherischen Häresie“ gleichgesetzt. Caravaggios Altargemälde setzt die von Pius V. formulierten Vorgaben also wörtlich um, was sicherlich auch den Vorgaben der Palafrenieri-Bruderschaft entspricht. Die hl. Anna verkörpert zugleich durch ihren Namen („Gnade“) das Heil, das der Menschheit durch die Erlösungstat von Mutter und Sohn zuteil wird. Ihrer geringeren Rolle im göttlichen Heilsplan gemäß, steht sie abgerückt von Mutter und Kind, „in der Pose eines antiken Philosophen als Zeichen der Nicht-Aktivität, der Meditation“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 189).

Die Ikonografie des Bildes ist also schwerlich als Grund für seine Zurückweisung zu betrachten. Sebastian Schütze vermutet viel eher die gierige Sammelleidenschaft des Kardinals Scipione Borghese: Caravaggios letztes römisches Altarbild könnte „seinen Weg aus Sankt Peter in die Villa Borghese gefunden haben, nicht weil es mit der kirchlichen Doktrin in Konflikt geriet, sondern weil der Kardinalnepot das prestigeträchtige Kunstwerk für seine Sammlung begehrte“ (Schütze 2009, S. 141). Allerdings ist die hl. Anna eindeutig nicht Hauptfigur des Bildes, woran der Bruderschaft als Auftraggeber ja sehr gelegen haben muss, da sie deren Schutzheilige war.

Masaccio/Masolino: Anna selbdritt (1424); Florenz Uffizien
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Leonardo da Vinci: Anna selbdritt (um 1503/1519); Paris, Louvre
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In der Renaissance war die hl. Anna noch wesentlich eindeutiger als mächtige „Urmutter“ präsentiert worden, etwa bei der von Masaccio (1401–1428) und Masolino (1383–1447) gemeinsam geschaffenen Anna selbdritt von 1424, ebenso bei Leonardo da Vincis (1452–1519) berühmter Fassung des Themas im Louvre. Dem gegenüber ist sie bei Caravaggio theologisch erkennbar funktionslos – deswegen erschien den Auftraggebern Caravaggios Bildlösung möglicherweise ästhetisch unbefriedigend, was es erleichtert haben könnte, das Werk zu einem weit höheren Preis an den Kardinal zu verkaufen, als man selbst bezahlt hatte.

 

Literaturhinweise

Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 187-191;

Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage), S. 118-121;

Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 197-198;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011, S. 41-142.


Montag, 27. Mai 2024

Il Gigante – Michelangelos „David“

Michelangelo: David (1502-1504); Florenz, Galleria
dell Accademia (für die Großansicht einfach anklicken)

Der Marmor, aus dem Michelangelo (1475–1564) seinen berühmten David schuf, stammt aus einem Steinbruch nordöstlich der italienischen Stadt Carrara. Hier brachen Arbeiter den über fünf Meter langen Block 1464 aus dem Felsen – zu diesem Zeitpunkt war der Künstler selbst noch gar nicht geboren. Den Auftrag dazu hatte der Bildhauer Agostino di Duccio (1418–1481) erteilt, der daraus die überlebensgroße Figur eines Propheten für den Dom von Florenz hauen wollte. Bestimmt war die Skulptur als Bekrönung für einen der Strebepfeiler der östlichen Absidenaußenseiten, aufgestellt in einer Reihe mit anderen Prophetenstatuen. Zwei Jahre darauf gab di Duccio das Projekt auf. 1476 unternahm ein anderer Bildhauer, Antonio Rossellini (1427–1479), einen weiteren Versuch, den riesigen Stein zu bearbeiten. Auch er scheiterte nach einigen Monaten.

Es folgten unruhige Zeiten in Florenz. Nach dem Tod des mächtigen Lorenzo de‘ Medici (1449–1492) rangen sein unfähiger Sohn und Nachfolger Piero (1472–1503), die bürgerliche Oberschicht der Stadt und die Anhänger des religiösen Fanatikers Savonarola (1452–1498) um die Macht. Schließlich erlangten die Bürger die Oberhand, und am 4. August 1501 wurde in Florenz die Republik ausgerufen. Nur zwölf Tage später beauftragte die Stadt den gerade einmal 26 Jahre alten Künstler Michelangelo, eine Statue zu fertigen. Ein David sollte es sein, jener Hirtenjunge, der laut biblischer Erzählung (1. Samuel 17) mit seiner Steinschleuder den Riesen Goliath besiegt hatte und anschließend König wurde.

Michelangelo erinnerte sich des Marmorblocks, der in der Stadt herumlag, seit er denken konnte. Im Dombauhof von Santa Maria del Fiore errichtete der junge Bildhauer rings um den Block herum einen Verschlag aus Brettern und bearbeitete den Riesenstein drei Jahre lang. Da niemand zusehen durfte, sind bis heute einige Details der Herstellung geheimnisumwoben. Die schlanken Beine des Helden können zum Beispiel den tonnenschweren Torso theoretisch kaum tragen. Als Stütze dient dem David lediglich ein kleiner Baumstumpf hinter dem rechten Fuß. Wie diese fragile Konstruktion der Belastung bei der Bearbeitung des Steins standhielt, ist kaum nachvollziehbar. Bereits nach fünf Monaten hatte Michelangelo den Block so weit bearbeitet, dass die Auftraggeber seinen Lohn von sechs Golddukaten im Monat (vertraglich vorgesehen war ein Zeitrahmen von zwei Jahren) auf 400 Golddukaten heraufsetzte.

Donatello: Judith und Holofernes (um 1453-1457); Florenz, Palazzo
Vecchio (für die Großansicht einfach anklicken)

Als die Auftraggeber erkannten, dass Michelangelo die Tücken des Blockes meistern würde, schlug sie einen neuen Standort für die Statue zu ebener Erde vor. Das technische Problem, eine fünfeinhalb Tonnen schwere Figur auf eine Höhe von 25 Metern zu heben, hat sicherlich zu dieser Entscheidung beigetragen. Aber es dürfte auch der Wunsch gewesen sein, die erstaunliche Anatomie des David so nah wie möglich an die Betrachtenden heranzurücken. Am 25. Januar 1504 wurde eine aus 30 Mitgliedern bestehende Kommission eingesetzt, die über die endgültige Aufstellung des David befinden sollte, unter ihnen sowohl berühmte Künstler wie Sandro Botticelli und Leonardo da Vinci als auch Sprecher der Ratsversammlung. Man entschied sich für die Aufstellung auf der Piazza della Signoria, neben dem Eingang des Rathauses der Stadt. Dafür sollte Donatellos Statue der Judith, die bislang an diesem Platz gestanden hatte, entfernt werden (siehe meinen Post „Ein äußerst kopfloser Heerführer“). Am 15. Mai 1504 begann der sich über fünf Tage hinziehende Transport der 5,16 Meter hohen Skulptur zum Regierungspalast. Schließlich wurde die Statue am 8. September 1504 auf ihrem neuen Sockel an jene Stelle gesetzt, die zuvor die Judith eingenommen hatte.

Die Seitenansicht lässt die ursprüngliche Form
des Marmorblocks erkennen

Die Höhe der finalen Figur ist nahezu deckungsgleich mit der des Blockes, den Michelangelo vorfand. Offenbar ging es dem Bildhauer darum, die Form des David mit einem Minimum an Materialverlust aus dem Marmor herauszuschlagen. „Wie akribisch Michelangelo jeden Zentimeter auszunutzen versuchte, ist an der Linie abzulesen, die vom linken Knie bis zum Handrücken der linken Hand verläuft. In der Seitenansicht zeichnet sich somit die flache Kastenform des Blocks ab, wie sie in Carrara gebrochen worden ist“ (Bredekamp 2021, S. 132).

Donatello: David (um 1440); Florenz, Museo Nazionale
del Bargello (für die Großansicht einfach anklicken)

In seiner Nacktheit lässt Michelangelos David zunächst an Donatellos Bronze-David denken (siehe meinen Post „Androgyne Sinnlichkeit“), zumal die Grundhaltung der Skulptur verwandt erscheint. Der Körper ruht jeweils auf dem rechten Standbein, während das linke Spielbein leicht angehoben nach vorn geführt ist. Dennoch hat Michelangelos David nichts von der Nachdenklichkeit, ja Melancholie, die Donatellos Gestalt auszeichnet. Der entscheidende Unterschied liegt in der Hüfte, so Horst Bredekamp. Die Taille der Bronzefigur ist tief eingezogen, als würde der Oberkörper allein auf dem Standbein lasten, wohingegen sich die Bauchpartie von Michelangelos David von innen heraus anspannt, „sodass die weichen Umrisslinien, wie sie Donatellos Statue kennzeichnen, vermieden werden und die Last auf beide Beine verteilt wird“ (Bredekamp 2021, S. 132).

Wächter vor den Toren des Regierungspalastes
Andrea del Verrocchio: David (um 1475); Florenz, Museo
Nazionale del Bargello (für die Großansicht anklicken)
Donatello: David (1415/16); Florenz, Museo Nazionale
del Bargello (für die Großansicht einfach anklicken)

„Il Gigante“, wie Michelangelos Skulptur auch genannt wird, hat die linke Hand zum Kopf erhoben, dessen Augen auf einen Zielpunkt auf gleicher Höhe gerichtet sind. Hierin knüpft die Statue an Andrea del Verrocchios Bronze-David (siehe meinen Post „Stolz und spöttisch“) und den Marmor-David von Donatello an (siehe meinen Post „Kecke Kampfbereitschaft“). Der Kopf des Giganten scheint sich in seiner mächtigen Präsenz regelrecht vom Körper zu lösen, als wüchse er geradezu aus diesem heraus. Zumindest von vorn wirkt er eine Spur zu groß. Auch die weiteren Körperpartien erscheinen unproportioniert; so wirken die Arme etwas zu lang, die rechte Hand zu groß und das Standbein zu kurz. Als Michelangelo seine Arbeit begann, musste er davon ausgehen, dass der Gigant auf einen Strebepfeiler des Domes gehoben werden würde. Er berechnete den David daher auf Fernsicht. Mit der Überbetonung des Kopfes wollte er vermutlich die in der Höhe zu erwartende perspektivische Verzerrung der riesigen Skulptur ausgleichen.

Ein Kerl wie aus dem anatomischen Lehrbuch
Virtuos arbeitet Michelangelo heraus, was unter der menschlichen Haut liegt, beginnt bei den Füßen, an denen sich das Spiel der einzelnen Zehen abzeichnet. Es folgen die Sehnenzüge des Fußrückens und des Knöchels bis zu den Knien, die den Wechsel von Stand- und Spielbein erkennen lassen. Über dem Muskelrelief der Oberschenkel zeichnet sich die Bauchdecke mit differenzierter Binnenstruktur ab. Deutlich ausgeprägt sind auch die Rippen sowie das Brustbein und die Schlüsselbeine. Am Halsansatz steigen die beiden kräftigen Sehnen auf, die den Kopf in seiner seitlichen Wendung fixieren; eine Ader überzieht die bloßgelegte Halsseite. Den Höhepunkt bildet die rechte Hand, „die wie ein Demonstrationsobjekt aus einem anatomischen Lehrbuch das Zusammenspiel von Adern, Sehnen, Muskeln und Knochen“ (Bredekamp 2021, S. 135) präsentiert. Sie mutet entspannt an, offenbart aber mit ihrer Struktur aus kräftigen Adern, sichtbaren Sehnen und Muskeln die Fähigkeit, schnell reagieren und zugreifen zu können.

Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden); Rom, Vatikanische Museen
Einer der beiden Dioskuren (Castor) vom Quirinalsplatz in Rom

Als Vorbild für den David werden immer wieder die beiden antiken Statuen des Apoll vom Belvedere und des Castor vom Quirinalsplatz genannt, die mit ihren nach rechts über die Schulter gerichteten Köpfen Michelangelo durchaus als Anregung gedient haben können. Ihre Maßverhältnisse haben allerdings mit denen des David wenig gemeinsam. „Michelangelo hat den klassischen Kontrapost in einen Körper eingegeben, dessen Antikenbezug sich darin erschöpfte, eine nackte Monumentalfigur darzustellen“ (Bredekamp 2021, S. 134).

Von links betrachtet, wirkt die Gestalt in Kopf und Oberkörper eher statuarisch-unbewegt, als schätze sie eine für den Betrachter unsichtbare Situation an. Die innerlich sich anstauende Kampfbereitschaft kommt in der Frontalansicht stärker zur Geltung, und vollends in der Perspektive von halbrechts konzentriert der Körper das Zusammenspiel von Lässigkeit und Energie. „Das Spielbein und die Muskelanspannung von Bauchpartie und Oberkörper erzeugen aus dieser Position jene Wechselwirkung von Loslassen und Kontraktion, die in der überdimensionierten rechten Hand wiederholt ist, und die Bewegung des wie zur Abwehr erhobenen linken Armes leitet in das nun frontal zu erblickende Gesicht mit seinem fixierenden Blick und dessen Außenbezug über“ (Bredekamp 2021, S. 136). Unter den starken Haarlocken wölbt sich die Stirn in den zusammengezogenen Augenbrauen, deren Dynamik sich in den Zornesfalten und der Nasenwurzelfalte fortsetzt. Diese „leonine“, also die löwenhafte Physiognomie, sollte vorbildliche Kampfbereitschaft und Tapferkeit symbolisieren. Dagegen bleiben die weichen Partien der Wange und des Mundes unbewegt. Nur die leicht aufgeworfene Oberlippe könnte auf einen Affekt wie Widerwillen oder Verachtung hindeuten.

Symbol der wehrhaften Republik Florenz

Der David Michelangelos erzählt zum ersten Mal die alttestamentliche Geschichte seines Kampfes mit Goliath ohne Goliath und damit das Ereignis und die Handlung in einer einzigen Figur. Gestaltet ist der Moment, in dem David den Kontrahenten erblickt. Den Riesen taxierend, hat David mit der Linken die Lederschlaufe mit dem Stein angehoben, um sie mit der rechten über den Rücken zurückzuziehen und das Geschoss so nach vorne, in Richtung des Feindes zu schleudern. Er tritt uns also als kontentrierter und überlegen-überlegender Kämpfer“ (Zöllner 2007, S. 48) entgegen. 

In den Jahren zwischen dem Vertragsabschluss im August 1501 und der Aufstellung des David im September 1504 befand sich die Republik Florenz in einer Phase andauernder Bedrohung. Die Auftragsvergabe an Michelangelo fiel in eine Zeit, in der aufgrund der steten Kriegsgefahr das traditionell aufgebotene Söldnerheer in ein Bürgerheer umgewandelt wurde. Mit dem David besaß die wehrhafte Republik jetzt ihr neues Symbol, ihr Wahrzeichen: ein Wächter vor den Toren des Regierungspalastes.

Bis 1873 stand der Gigant auf der Piazza della Signoria. Dann erzwangen Witterungsschäden und Verätzungen durch Taubenkot, ihn in einen Innenraum zu versetzen. Man baute ihm einen Kuppelraum, die „Tribuna“ der Florentiner Galleria dell’Accademia. Mit der Eröffnung der Accademia am 22. Juli 1882 wurde der David schließlich wieder der Öffentlichkeit präsentiert, und dort ist er bis heute zu sehen. Der Übergang des David vom Stadtraum zum musealen Innenraum bedeutete „seine Umdeutung vom öffentlichen Monument zum auratischen Kunstwerk“ (Enzensberger 2019, S. 112). Die ursprüngliche Bedeutung des David als Sinnbild der freien Republik wurde aufgegeben und mit der eigens für die Skulptur errichteten „Tribuna“ ein Ort für ihre Verehrung geschaffen.

Luigi Arrighettis Marmorkopie des David vor dem Palazzo della Signoria

37 Jahre lang blieb der Platz vor dem Palazzo della Signoria leer – 1910 wurde dort schließlich eine Marmorkopie des David von Luigi Arrighetti aufgestellt. Einmal noch tobte sich Hass an ihm aus: 1991 schlug ein psychisch gestörter Mann mit einem Hammer auf den linken Fuß des Standbilds ein – die Schäden konnten glücklicherweise rasch behoben werden. Als Folge wurde der freie Zugang zum David unterbunden, und zwar mit einer halbhohen, bis zum Fuß der Skulptur reichenden Glasumzäunung.

 

Literaturhinweise

Bredekamp, Horst: Michelangelo. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021, S.119-145;

Enzensberger, Alexandra: Das inszenierte Meisterwerk. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2019, S. 97-150;

Giuliani, Luca: Michelangelos David und seine Schleuder. In: Nicole Hegener (Hrsg.), Nackte Gestalten. Die Wiederkehr des antiken Akts in der Renaissanceplastik. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2021, S. 189-212;

Lavin, Irving: Davids Sling and Michelangelos Bow. In: Matthias Winner (Hrsg.), Der Künstler über sich in seinem Werk. Weinheim 1992, S. 161-190;

Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Niccolò Machiavelli. Der David, die Piazza, die Republik. Stämpfli Verlag, Bern 2001;

Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007, S. 43-49. 

Sonntag, 5. Mai 2024

Zarter Morgendunst in mildem Sonnenlicht – Claude Lorrains poetische Hafenbilder

Claude Lorrain: Die Einschiffung der Königin von Saba (1648); London, National Gallery
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Der nach seiner lothringischen Heimat Claude Lorrain genannte Maler Claude Gellée (1600–1682) kam in jungen Jahren nach Rom, wo er dann die meiste Zeit seines Lebens arbeitete und auch starb. Unter dem Einfluss von Paul Bril (1554–1626) und Adam Elsheimer (1578–1610) entwickelte er einen neuen Typus der Landschaftsmalerei: Die dunstige Weite des Horizonts und die differenzierte Wiedergabe des nach Jahres- und Tageszeiten unterschiedlichen Lichtes verleihen seinen Kompositionen eine entrückte, äußerst poetische Stimmung.

Ab 1636 malte Lorrain eine Reihe von Hafenbildern mit Architekturmotiven im Licht dramatischer oder sanfter Sonnenauf- und untergänge. Es sind merkwürdige Häfen, die hier zu sehen sind, komponiert aus realen und imaginierten Renaissance-Bauten, deren schöne Treppen bis ans Wasser reichen. Aber diesen Anlagen fehlt beinahe alles, was in den wirklichen Häfen des 17. Jahrhunderts zu finden war: solide Kais, an denen die Schiffe festmachen konnten, Speicher, Kräne, das Durcheinander der aufgestapelten Waren. „Anders als bei der holländischen Malerei stellen sich bei Claude kaum Assoziationen an weite Entdeckungsreisen, einträglichen Überseehandel oder große Seeschlachten ein“ (Bergmann 1999, S. 88). In seinen Häfen liegen die mächtigen Segler oft ein Stück vom Ufer entfernt und müssen von kleineren Booten angesteuert, be- und entladen werden. Das Meer wiederum wird ganz nah an den Vordergrund des Bildes herangeführt und läuft sanft in einen flachen Sandstrand aus.

Claude Lorrain: Seehafen bei Sonnenuntergang (1644); London, National Gallery
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Lorrains Hafenbilder gleichen barocken Bühnen-Inszenierungen, auf die man von einem leicht erhöhten Sitzplatz herabschaut: Die Fassaden und Schiffsmasten treten wie Kulissen zur Seite, um den Blick zum Horizont zu rahmen und zu lenken. Die perspektivischen Fluchtlinien lässt Lorrain im Zentrum des Bildes nahe der Sonne zusammenlaufen. „Wie auf Lichtbahnen strömt der Glanz des südlichen Meeres durch die engen Einfahrten“ (Bergmann 1999, S. 89). Jedes seiner Gemälde vermittelt eine andere Stimmung: Für den Aufbruch wählt Lorrain das silbrige oder rötliche dunstige Morgenlicht, für das Ende einer Reise den warmen orangefarbenen Sonnenuntergang. Wenn die Sonne tief steht, wird ihr Licht durch den Dunst gefiltert. Lorrain malt den Hof der Sonne in genau beobachteten Farbabstufungen, für den Sonnenball selbst nimmt er Gelb, den hellsten Ton der Palette. Die kleinfigurig abgebildeten Menschen verweisen oft selbst auf die zentrale Rolle des Lichts in Lorrains Gemälden, indem sie den Blick des Betrachters mit einem Zeigegestus in die Ferne oder sogar auf die Sonne zu lenken scheinen; manchmal auch, indem sie ihre Augen mit einem Hut oder ihrer Hand vor dem Glanz der tiefstehenden Sonne schützen.

Die Bauten am Ufer sind keine Hafenarchitektur, es sind glanzvolle römische Renaissance-Paläste, deren Fassaden vor allem dazu dienen, das Licht aufzufangen und zu reflektieren. Deshalb nehmen diese Gebäude verhältnismäßig wenig Raum ein und zeigen nur ihre lichtschimmernden, reich gegliederten Flächen. Lorrain nimmt Bauten in seine Bilder auf, die er in Rom und an den Küsten gesehen hat: Man erkennt den schlanken Leuchtturm von Civitavecchia, die Sarazenen-Türme am Golf von Neapel, die Rundbauten der antiken Grabmäler oder das Castello di Santa Severa nördlich von Rom. Aber die meisten Architektur-Motive entstammen Rom selbst, für Lorrain eine Schatzkammer antiker Ruinen und prächtiger Paläste. Bauwerke des römischen Barock kommen in seinen Gemälden nicht vor – die Renaissance war bis in die dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts der beherrschende Stil, und Lorrain ist ihm in seinen Architektur-Zitaten zeitlebens treu geblieben.

Claude Lorrain: Meereshafen bei Sonnenuntergang (139); Paris, Louvre
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Hauptmotiv seiner Hafen-Architektur ist ein Vierflügel-Palast mit vier Ecktürmen. Vorbild ist unverkennbar die römische Villa Medici auf dem Pincio, die in immer neuen Variationen auf sechs seiner Gemälde erscheint – bis der Palast schließlich zu einem Phantasiegebilde wird, das trotzdem den Bezug zur Wirklichkeit nie verliert. Zum ersten Mal erscheint der viertürmige Palast in einem Hafenbild aus dem Louvre (1639): „Magisch wird der Blick von der tiefstehenden Sonne über dem Horizont angezogen“ (Bergmann 1999, S. 90). Personengruppen beleben den Vordergrund: Ein Zeichner mit Zuschauer sitzt auf einem ans Ufer gezogenen Boot, zwei Männer schirmen ihre Gesichter gegen die Sonne ab, zwei andere prügeln sich. Einen bewussten Kontrast zu der Rauferei bildet die friedlich wartende Reisegesellschaft. Der Mann vertreibt sich die Zeit mit Lautenspiel, ein häufiges Motiv in der Barockmalerei.

Claude Lorrain: Hafen mit dem Capitol (1636); Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken)

Im Hafen mit dem Capitol von 1636 versetzt Lorrain das Bau-Ensemble aus Palazzo Senatorio (mit dem Campanile) und dem Palazzo dei Conservatori – beide hatte Michelangelo entworfen – ans flache Meeresufer. Er fügt außerdem einen erfundenen Triumphbogen hinzu und macht so aus der realen und imaginären Architektur einen festlichen Empfangsplatz für die Kaufleute aus fernen Ländern. Das Morgenlicht glitzert auf dem Wasser, erhellt die Fassaden und breitet sich bis zu den Porzellan-Händlern am Ufer aus.

Claude Lorrain: Hafen mit der Einschiffung der hl. Ursula (1641), London, National Gallery
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In den Hafenbildern der vierziger Jahre erzählt Lorrain dann häufig mythologische oder biblische Geschichten, deren feierliche Ankunfts- oder Abfahrtsszenarien sich meist betont unauffällig und kleinformatig am Rand abspielen. Der Hafen mit der Einschiffung der hl. Ursula von 1641 markiert den Übergang von Lorrains allgemein gehaltenen zu thematisch bestimmten Hafen-Darstellungen. Das Gemälde zeigt neue und detailreiche Architekturelemente, wie zum Beispiel einen Rundbau nach dem Vorbild von Bramantes Tempietto in Rom oder – hinter den Schiffen – das Castello von Santa Severa. Lorrain hat den morgendlichen Aufbruch der hl. Ursula mit der Siegesfahne der Märtyrerin an den linken Bildrand verlegt. Nach einer mittelalterlichen Legende reiste die Heilige zusammen mit elftausend Jungfrauen zu Schiff von Köln nach Rom, wo alle den Märtyrertod fanden. Aber das eigentliche Thema ist auf diesen Bildern nicht die gemalte Historie, sondern das einströmende Licht, das vom Wasser und den flankierenden Fassaden zurückgeworfen wird, die friedliche, kontemplative Stimmung des Sonnenaufgangs.

Lorrains Schiffe rahmen und gliedern – wie seine Architektur – den Blick in die Tiefe. Es sind durchweg Schiffstypen aus den ersten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts – das zeigen vor allem die Dekorationen der Schiffsrümpfe mit ihren geschnitzten, bemalten und vergoldeten Galionsfiguren und Wappen. Allerdings hätte sich wohl kaum ein damaliger Seemann mit diesen Dreimastern aufs offene Meer hinausgewagt, denn sie sind – wie die Hafen-Architektur selbst – aus Realität und Phantasie zusammengesetzt.

Wie haben gebildete Zeitgenossen und Käufer diese Hafenbilder „gelesen“ und verstanden? Sicher nicht nur als stimmungsvolle Phantasie-Landschaften aus Stadt und Meer, sondern auch als Schauplätze religiöser Symbolik. „Das Meer galt als Sinnbild der Unendlichkeit, die Sonne als das Strahlen des göttlichen Lichts, Schiffe waren seit dem frühen Christentum Symbole der Kirche: der Mast repräsentiert das Kreuz, Christus und die Evangelisten verkörpern die Besatzung, die das Schiff sicher auf das Leuchtfeuer des Hafens zusteuert“ (Bergmann 1999, S. 94/95). Vor allem aber steht das Schiff für die Lebensreise des Menschen – das gilt bis hin zu den Seestücken von Caspar David Friedrich.

Claude Lorrain: Seehafen bei aufgehender Sonne (1674); München, Alte Pinakothek
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Im Seehafen bei aufgehender Sonne, einem seiner letzten Hafenbilder, wiederholt und variiert Lorrain 1674 eine Küstenlandschaft, die er vierzig Jahre zuvor gemalt hatte. Wie in seinen früheren Capriccios hat er den Titus-Bogen vom römischen Forum an die Küste versetzt, als Tor zu einer offenbar dahinter liegenden Stadt. Lorrains Hafen ist dennoch keine getreue Rekonstruktion der Antike: Auf dem Triumphbogen wachsen Gras und Sträucher, die Türme an der Hafeneinfahrt bröckeln. Nur wenige Warenballen werden ein- oder ausgeladen, ein paar Bohlen am Ufer angehoben. Drei Reisende unterhalten sich, ihr Gepäck steht am flachen Strand. Man weiß nicht, ob sie gerade angekommen sind oder ob sie an diesem stillen, lichterfüllten Morgen abreisen wollen. Aber darauf kommt es offensichtlich nicht an – sondern auf den von zartem Morgendunst gemilderten Sonnenaufgang, der den gesamten Bildraum erfüllt.

 

Literaturhinweis

Bergmann, Günther: Claude Lorrain. Das Leuchten der Landschaft. Prestel Verlag, München 1999