Dienstag, 28. August 2012

Rainer Maria Rilke: Emmaus

Rembrandt van Rijn: Christus in Emmaus (1654); Radierung, 3. Zustand


Emmaus

Noch nicht im Gehn, obwohl er seltsam sicher
zu ihnen trat, für ihren Gang bereit;
und ob er gleich die Schwelle feierlicher
hinüberschritt als sie die Männlichkeit;
noch nicht, da man sich um den Tisch verteilte,
beschämlich niederstellend das und dies,
und er, wie duldend, seine unbeeilte
Zuschauerschaft auf ihnen ruhen ließ;
selbst nicht, da man sich setzte, willens nun,
sich gastlich an einander zu gewöhnen,
und er das Brot ergriff, mit seinen schönen
zögernden Händen, um jetzt das zu tun,
was jene, wie den Schrecken einer Menge,
durchstürzte mit unendlichem Bezug –
da endlich, sehender, wie er die Enge
der Mahlzeit gebend auseinanderschlug:
erkannten sie. Und, zitternd hochgerissen,
standen sie krumm und hatten bange lieb.
Dann, als sie sahen, wie er gebend blieb,
langten sie bebend nach den beiden Bissen.

Rainer Maria Rilke




Sonntag, 26. August 2012

Und schlug ihn tot – „Kain“ von Lovis Corinth

Lovis Corinth: Kain (1917); Düsseldorf, Museum Kunstpalast
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Der deutsche Maler Lovis Corinth (1858–1925) zeigt den biblischen Brudermörder Kain im Moment nach seiner Untat: Abel liegt blutüberströmt, vom unteren Bildrand angeschnitten, zwischen seinen Beinen, die Arme im Todeskrampf nach oben gereckt. Die physische Übermacht Kains ist schon durch seine schiere Größe offensichtlich. Der Eindruck seiner Überlegenheit wird noch durch die Untersicht verstärkt, die den Betrachter in die Lage Abels versetzt.
Kain hält einen riesigen Felsbrocken in den Händen, um das Mordopfer mit einem weiteren Stein zu  bedecken und verschwinden zu lassen. Doch dann dreht er jäh seinen Kopf zum Himmel: Seine weit aufgerissenen Augen und der offene Mund signalisieren den plötzlichen Anruf durch die Stimme Gottes: „Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde“ (1. Mose 4,10; LUT). Große schwarze Vögel – Todessymbole – kreisen am Himmel und kommen dem Mörder bedrohlich nahe; das Angesicht der Erde wirkt wie ein trostloses Niemandsland.
Corinths Gemälde entstand während des Ersten Weltkriegs in Berlin (1917), und zwar an einem entscheidenden Wendepunkt, als die USA Deutschland den Krieg erklärte und damit dessen Niederlage besiegelte. Die künstlerische Auseinandersetzung mit der alttestamentlichen Erzählung von Kain und Abel (1. Mose 4,1-16) war bei Corinth sicherlich durch das Zeitgeschehen bedingt: Seine Selbstbiografie bezeugt, dass ihn die damaligen Kriegsereignisse besonders erschüttert haben. Doch sein Gemälde ist nicht nur ein Zeitkommentar, sondern ebenso ein allgemeines Sinnbild für die Menschheitsgeschichte, die immer wieder in Krieg und Brudermord mündet.



Literaturhinweise
Schuster, Klaus-Peter u.a. (Hrsg.): Lovis Corinth. Prestel-Verlag, München/New York 1996, S. 236;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 5. November 2024)

Sonntag, 19. August 2012

Rainer Maria Rilke: Jeremia

Rembrandt van Rijn: Jeremia trauert über die Zerstörung Jerusalems (1630); Amsterdam
Rijksmuseum (für die Großansicht einfach anklicken)


Jeremia

Einmal war ich weich wie früher Weizen,
doch, du Rasender, du hast vermocht,
mir das hingehaltne Herz zu reizen,
daß es jetzt wie eines Löwen kocht.

Welchen Mund hast du mir zugemutet,
damals, da ich fast ein Knabe war:
eine Wunde wurde er: nun blutet
aus ihm Unglücksjahr um Unglücksjahr.

Täglich tönte ich von neuen Nöten,
die du, Unersättlicher, ersannst,
und sie konnten mir den Mund nicht töten;
sieh du zu, wie du ihn stillen kannst,

wenn, die wir zerstoßen und zerstören,
erst verloren sind und fernverlaufen
und vergangen sind in der Gefahr:
denn dann will ich in den Trümmerhaufen
endlich meine Stimme wiederhören,
die von Anfang an ein Heulen war.

Rainer Maria Rilke

Freitag, 17. August 2012

Damit wir uns einen Namen machen – Pieter Bruegels „Turmbau zu Babel“

Pieter Bruegel d.Ä.: Der Turmbau zu Babel (1563); Wien, Kunsthistorisches Museum
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Zu den wichtigsten Arbeiten des niederländischen Malers Pieter Bruegel (1525/30–1569) gehört seine Darstellung des Turmbaus zu Babel (1563), die sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien befindet. Der Maler hat den Ort des biblischen Geschehens in die Niederlande des 16. Jahrhunderts verlegt: Der Turm, von dem in 1. Mose 11,1-9 berichtet wird, entsteht hier in einer holländischen Polderlandschaft, deren einziger Fels als Fundament für den Bau dient. Auf der einen Seite grenzt er an eine flämische Stadt von beachtlichen Ausmaßen, auf der anderen an ein großes Gewässer. Von dort bringen einlaufende Schiffe neues Baumaterial heran.
Der Bauherr Nimrod inmitten seines Gefolges und seiner Handwerker
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Eine Anhöhe im Vordergrund bietet dem Bauherrn, König Nimrod, die Möglichkeit, das Werk zu besichtigen und, wie die niederknienden Steinmetze zeigen, auch die Baufortschritte streng zu überwachen. Das Bauwerk ist schon weit gediehen, allerdings ist noch keines der Stockwerke fertiggestellt. Hoch überragt der unvollendete Kegelstumpf die miniaturhaft kleine Stadt mit dem Hafen und gibt links den Blick frei auf ein Gewirr von Häusern, das sich in die Weite einer leicht hügeligen Landschaft erstreckt.
Die Doppelarkaden der Umgänge hat Bruegel vom Kolosseum in Rom übernommen,
dem damals bekanntesten antiken Bauwerk (für die Großansicht einfach anklicken)
Der Bau schraubt sich wie ein Schneckenhaus Stockwerk um Stockwerk nach oben. Nach sieben sehr hohen Geschossen, die je aus drei Fenster- und Bogenreihen gebildet sind, hat der Turm bereits die erste Wolke erreicht. Zwei weitere Stockwerke folgen dann noch, ohne dass ein Ende des Baus abzusehen wäre. Das Fundament ist so breit angelegt, dass der Turm rechts einen riesigen Schatten auf die Stadt wirft. Die Bautechnik erinnert an römische Arenen wie das Kolosseum in Rom, das Bruegel aus eigener Anschauung kannte. 
Die Ruine des Colosseums zu Bruegels Lebzeiten (Stich von Hieronymus Cock, 1551)
Vorgelagerte Pfeiler, die in den unteren Geschossen zu Stützmauern verstärkt sind und weiter oben mit aufgesetzten Halbsäulen dekorativen Charakter erhalten, gliedern die Außenwände. Die so entstehenden Flächen sind jeweils mit zwei Blendarkaden versehen, die wiederum über Tür- und Fensteröffnungen unterschiedlicher Anzahl verfügen. Darüber sind drei Fenster angebracht, das mittlere ist mit einem Balkon ausgestattet. Ein Rundbogenfries schließt das Stockwerk oben ab. Um das runde Zentrum sind Arkadengänge gelegt; in Zweierreihen übereinander bilden sie jeweils ein Stockwerk.
Unterhalb der Turmspitze eröffnet sich dem Betrachter ein weiterer Einblick in die Struktur des Turmes: Das Innere besteht aus einer in konzentrischen Kreisen radial auf die Mitte zulaufenden und konisch ansteigenden Raumfolge. „Gab die Turmspitze den Aufriß der Architektur zu erkennen, so offenbart sich hier – ablesbar nur durch das Ansteigen der Bodenfläche – im Grundriß die Anordnung der Räume“ (Wegener 1995, S. 24). Klaus Demus erkennt auch in diesen Bauteilen das Kolosseum wieder, und zwar das Innere mit seinen radial nach außen ansteigenden gewölbten Gängen – die bei Bruegel allerdings nach innen zusammenlaufen: „Äußeres und Inneres des gleichen Modells also, aber genial verwandelt und vom Trichter zur spiraligen Schnecke des Turms auseinandergezogen!“ (Demus 1997, S. 57).
Alle damaligen Handwerkssparten und -techniken sind vertreten
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Verblüffend genau hat der Maler die Baustelle und ihre Handwerker in der Ferne wiedergegeben. Hölzerne Tretkräne als Lastenaufzüge sind erkennbar; abgebildet wird aber auch die Wölbetechnik für die Vielzahl von Bögen und Stützpfeilern, aus denen sich der Turm zusammensetzt. Ist der Schlussstein in die Bogenmitte gesetzt, kann die Holzkonstruktion unter dem Bogen entfernt werden. Auf den terrassenförmigen Geschossen wurden viele Bauhütten errichtet. Für den Außenbau werden nur Sandsteinquader verwendet, im Innern dagegen rötliche Ziegel. Die Bauarbeiter und ihre Werkzeuge liefern dem Betrachter zuverlässige Maßstäbe und machen die perspektivische Verkleinerung des Turmes glaubhaft. 
Mit großer Akribie hat Bruegel Materialbeschaffung, -transport und -verarbeitung inklusive vieler technischer Details bei diesem monumentalen architektonischen Projekt dargestellt; sogar die lange Bauzeit wird durch die Häuser auf den Plattformen angedeutet. Dennoch bietet sein Turm kein realistisches Abbild einer Großbaustelle. „Es fehlt der Eindruck reger Betriebsamkeit, es fehlen die unzähligen Arbeiter, die zwischen Kränen, Gerüsten und unendlichen Mengen von Material hantieren“ (Wegener 1995, S. 27). Stattdessen werden die verschiedenen Handwerkssparten und -techniken sozusagen exemplarisch erwähnt – Bruegel geht es vorrangig um die gigantischen Ausmaße des Turms.
Ein unbehauener Felsen ragt zwischen dem Mauerwerk bis über den fünften Stock des Turms hinaus. Mauerwerk und Felsmassiv sind eng miteinander verbunden: In der Mitte des zweiten und dritten Geschosses geht die mit einem Rundbogenfries verzierte Außenwand in eine grob aus Naturstein gehauene Treppe über. Auf der gegenüberliegenden Seite scheinen die Architekturformen direkt aus dem Fels geschlagen zu sein. Im fünften Stock überragt eine Felsnase die schon fortgeschrittenen Wölbungsarbeiten. Die Felsformation bildet eine Trennungslinie zwischen intaktem, hoch aufragendem Bau links und desolatem Mauerwerk rechts. Denn die Arbeiten an der Großbaustelle sind nicht in gleichem Maß vorangeschritten: Auf der linken Seite reichen die Außenwände bereits bis in den siebten Stock, auf der rechten Seite dagegen wird noch in den unteren Geschossen gebaut, und das Zentrum des Rundturms ragt schon weit über die übrige Architektur hinaus. Der rechte Teil des Turms wirkt ungeordnet und unfertig, selbst am Fundament wird noch gebaut, Holzstützen in einigen Arkadenbögen dienen als Sicherung gegen den drohenden Einsturz. Großer Einsatz von Technik und Menschenkraft scheint hier nötig, um den Fels zu bearbeiten. Im vierten Stock werden Wege ins Steinmassiv geschlagen; auch in der Mitte arbeiten einige Männer an einem Transportweg, daneben wird Fels direkt in Architektur verwandelt.
Joachim Patinir: Taufe Christi (um 1515); Wien, Kunsthistorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
„In der intakten Seite des Turmes, in dem von Handwerkern umgebenen Bauherrn Nimrod und der großen Stadt zu seinen Füßen sind die Kulturleistungen repräsentiert. Auf der anderen Seite bilden Gewässer und Felsen als Zeichen elementarer Natur den Gegenpol zu den zivilisatorischen Errungenschaften, wobei Hafen und Schiffe die Nutzbarmachung der See durch den Menschen andeuten“ (Wegener 1995, S. 32). Unübersehbar konkurriert der Turmbau mit den Werken der Natur. Wie ein Berg überragt er massig und breit die ihn umgebende Landschaft, vergleichbar den Felsdarstellungen in Joachim Patinirs „Weltlandschaften“. Natur und Architektur sind einander nicht nur ebenbürtig – Bruegel zeigt den Turmbau als Weiterführung einer natürlichen Formation.
Wird der Turm aus dem Felsen herausgeschlagen, oder verwandelt er sich wieder in Fels?
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Gleichzeitig sind Architektur und Fels jedoch so eng miteinander verschmolzen, dass nicht klar zu unterscheiden ist, ob der Turm aus dem Fels herausgeschlagen wird oder der Fels durch die Architektur hindurchwächst und sich bereits gestaltete Bauteile wieder in Natur zurückverwandeln. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn unvermittelt gänzlich unbearbeiteter Stein neben fertiger Architektur erscheint oder sie sogar überragt; das gilt auch für Stellen, an denen in unmittelbarer Nähe des Felsens die Architektur brüchig wird, Stützen eingezogen werden müssen, Restaurierungen notwendig sind. Die Natur scheint sich das Menschenwerk wieder einzuverleiben, die Architektur nicht von Dauer zu sein: Der gesamte Turm ist nach links geneigt und droht beim Weiterbau zu kippen. „Der Gegensatz von der klaren Ordnung des intakten Mauerwerks im linken Bautrakt und dem desolaten Zustand des Turms auf der rechten Seite läßt, verstärkt durch die Leserichtung von links nach rechts, den Eindruck des langsamen Verfalls entstehen“ (Wegener 1995, S. 33/34).
Damit klingt der Vanitas-Gedanke an: Natur ist der Architektur durch die Zeitdimension überlegen, alles auch noch so imposante Menschenwerk wird wieder vergehen, wird wieder zu Staub zerfallen. Trotz seines absehbaren Scheiterns ist Bruegels Turmbau dennoch auch Ausdruck menschlicher Leistungsfähigkeit und technischen Fortschritts.
Steven A. Mansbach hält eine zeitgeschichtliche Deutung für naheliegender: „Bruegels painting might have served as a pictorial metaphor of the political and religious state of affairs in contemporary Flanders as seen by the humanist circle“ (Mansbach 1982. S. 48). Die Niederlande standen damals unter spanischer Oberherrschaft: Der Despotismus und religiöse Verfolgungseifer Philipp II. führte zum Achtzigjährigen Krieg (15981648), der schließlich die Trennung der südlichen und nördlichen Provinzen zur Folge hatte. „Philipps excessive desire to suppress dissent in an attempt to maintain a Spanish suzerainty and Babylonian grandeur might have been recognized by Flemish humanists as a modern manifestation of »Babylonia occidentalis« (Mansbach 1982, S. 46).
Pieter Bruegel d.Ä.: Turmbau zu Babel (um 1565); Rotterdam, Museum Boijmans van Beuningen
Pieter Bruegel hat das Wiener Gemälde in einem kleineren Bild nochmals wiederholt (Museum Boijmans von Beuningen, Rotterdam). Es kommt ohne die Vordergrundszenerie aus, der Turm erscheint deswegen entfernter als in der großen Ausführung. Eine Herrscherfigur ist nirgends zu entdecken. Der Bau ist bereits weiter vorangeschritten, fünf hohe Geschosse sind fertiggestellt. Bruegel verzichtet in diesem Bild auch auf die komplizierte Wiedergabe eines in das Bauwerk eingeschlossenen Felsmassivs. Selbst für uns heutige Betrachter, an den Anblick von Wolkenkratzern gewöhnt, bleibt die Faszination spürbar, die von diesem gigantischen und sonderbaren Turm ausgeht. Vom Scheitern des Baues ist bei Bruegel nichts zu sehen – die dunklen Wolken, die sich in der kleineren Version hoch oben am Turm zusammenziehen, könnten allerdings auf kommendes Unheil vorausdeuten. Steven A. Mansbach versteht auch diese Fassung als bildlichen Kommentar zur Zeitgeschichte, nämlich als Symbol und optimistische Vision einer neuen, humanistisch geprägten Ära. Bruegel zeige uns „the greatness and power of human productivity made possible in the absence of a tyrants will“ (Mansbach 1982, S. 49).

Literaturhinweise
Demus, Klaus: Der Turmbau zu Babel, 1563. In: Wilfried Seipel (Hrsg.), Pieter Bruegel d.Ä. im Kunsthistorischen Museum Wien. Verlag Gerd Hatje, Ostfildern 1997, S. 56-57;
Klamt, Johann-Christian: Anmerkungen zu Pieter Bruegels Babel-Darstellungen. In: Otto Simson/Matthias Winner (Hrsg.), Pieter Bruegel und seine Welt. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1974, S. 43-50;
Mansbach, Steven A.: »Pieter Bruegel’s Towers of Babel«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 45 (1982); S. 43-56;
Wegener, Ulrike B.: Die Faszination des Maßlosen. Der Turmbau zu Babel von Pieter Bruegel bis Athanasius. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1995.

(zuletzt bearbeitet am 24. März 2020)

Mittwoch, 15. August 2012

Drei Frauen, betend – Wilhelm Leibl malt die Lebensalter


Wilhelm Leibl: Drei Frauen in der Kirche (1878-81); Hamburg, Kunsthalle
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Die realistische Malerei in Deutschland ist im 19. Jahrhundert vor allem mit zwei Namen verknüpft: Als ihr wichtigster Vertreter im Norden gilt Adolph Menzel (1815–1905), im Süden der eine Generation jüngere Wilhelm Leibl (1844–1900). Anders als Menzel hatte Leibl aber keinerlei Beziehung zur Historienmalerei – er bevorzugte das Porträt und das Genregemälde.
Als eines von Leibls Hauptwerken gilt Drei Frauen in der Kirche, an dem er fast dreieinhalb Jahre arbeitete. Das Bild, in altmeisterlicher Feinmalerei ausgeführt und in allen Partien gleichermaßen minutiös durchgearbeitet, entstand in dem Dorf Berbling südöstlich von München. Es zeigt drei betende Bäuerinnen, die auf einer mit Rokoko-Ornamentik verzierten Kirchenbank sitzen. Die Frauen sind so nah gesehen, dass nur das Kirchengestühl auf den konkreten Ort verweist.
Im Vordergrund rechts sitzt die jüngste: Sie trägt ein blau-schwarz kariertes Kleid, eine weiße Schürze und darüber eine bestickte weiße Bluse sowie ein Mieder, das von silbernen Tressen geschlossen wird. Vor sich auf dem Schoß hält sie ein geöffnetes Gebetbuch, in dem sie zu lesen scheint. Auffallend an Gesicht und Händen sind sehr helle Hautpartien, die auf eine Pigmentstörung hinweisen. Neben sie hat der Maler eine alte, gebeugte Bäuerin in braunem Streifenkleid und schwarzem Kopftuch platziert. Sie liest ebenfalls in einem Gebetbuch; aufgeschlagen ist ein Aschermittwochsgebet. Die Alte führt das großformatige Buch nicht nur wegen ihrer Sehschwäche nah an die Augen heran, sondern weil sie – weit stärker als die jüngere Bäuerin – innerlich beteiligt ist. Im Bildhintergrund kniet vor einer hellgrauen Wand die dritte Bäuerin. Sie ist mittleren Alters, schwarz gekleidet und trägt ebenfalls ein Kopftuch; sie hat ihren in strengem Profil wiedergegebenen Kopf erhoben und blickt andächtig auf etwas, das sich außerhalb des Bildes befindet – wohl einen Altar oder ein Heiligenbild.
Leibl idealisiert die Bäuerinnen nicht; er zeigt keine ländliche Idylle: Die drei Frauen – sie stehen für die unterschiedlichen Lebensalter – wirken von schwerer körperlicher Arbeit geprägt. „In dem Maße, wie Lebenskraft und Zukunftserwartung abnehmen, scheint die religiöse Inbrunst zu wachsen“ (Gross 1983, S. 546).
Den Entstehungsprozess des Bildes (von Oktober 1878 bis Dezember 1881) beschrieb der Maler selbst als äußerst mühevoll. Die Sitzungen mit den drei Frauen, die Leibl nahezu täglich in der Dorfkirche von Berbling Platz nehmen ließ, dauerten oft stundenlang. Bei kalter Witterung, vor allem während der Wintermonate, und an den kirchlichen Feiertagen musste die Arbeit unterbrochen werden, auch erkrankten hin und wieder die Modelle. „Übereilen darf ich mich nicht u. muß es so machen wie die Bergsteiger, welchen einen recht hohen Berg ersteigen wollen. Diese müssen auch schön langsam gehen u. vermeiden es, immer nach dem Gipfel zu schauen“, schrieb Leibl nach zwei Jahren Arbeit an seine Schwester. So zog sich der Abschluss  weit über den geplanten Zeitraum hinaus hin. Im März 1882 zeigte Wilhelm Leibl das endlich vollendete Bild (113 x 77 cm) zum ersten Mal in München der Öffentlichkeit – mit großem Erfolg: Zu der nur drei Tage dauernden Ausstellung kamen über 3000 Besucher.

Hans Holbein d.J.: Darmstädter Madonna (1526/28); Schwäbisch Hall,
Sammlung Würth (für die Großansicht einfach anklicken)
Das Vorbild, an dem Leibl sich bei seinem Bild orientierte, war die Darmstädter Madonna von Hans Holbein d.J. (1526/28). Leibl hat diesem Gemälde das Motiv der drei betenden Frauen entnommen (bei Holbein sind es die zwei Ehefrauen und die Tochter des Stifters Jakob Meyer rechts neben der Schutzmantelmadonna) und zu einer bildfüllenden Komposition entwickelt. Weil Leibl mit der Hinwendung zum Bauerngenre um 1873/74 auch die aufwendige Feinmalerei des deutschen Renaissance-Künstlers übernahm, ist seine Malweise auch als „Holbein-Stil“ bezeichnet worden.
Wilhelm Leibl: Die Dorfpolitiker (1876/77); Museum Oskar Reinhart, Winterthur
Leibl griff mit seinen ländlichen Motiven eine Gattung auf, das sich durch die Arbeiten Ferdinand Georg Waldmüller (1793–1865) und Franz Defregger (1835–1921) großer Beliebtheit erfreute. Neben den Drei Frauen in der Kirche zählt Die Dorfpolitiker (1876/77) zu Leibls wichtigsten Werken, die die dörfliche Lebenswelt abbilden. Man kann dieses Gemälde durchaus als Pendant zu unserem Bild verstehen: Sind dort nur Frauen einer bäuerlichen Dorfgemeinschaft dargestellt, so hier nur Männer; ihnen ist jeweils ein besonderer Ort und eine ihren jeweiligen Rollen gemäße Tätigkeit zugewiesen.


Literaturhinweise
Gross, Friedrich: Wilhelm Leibl, Drei Frauen in der Kirche. In: Werner Hofmann (Hrsg.), Luther und die Folgen für die Kunst. Prestel-Verlag, München 1983, S. 546;
Haussherr, Reiner: Goldener Himmel=Schlüssel. Eine Notiz zu Wilhelm Leibls „Frauen in der Kirche“. In: Peter Ludwig (Hrsg.), Festschrift für Hermann Fillitz zum 70. Geburtstag. DuMont Schauberg, Köln 1994, S. 431-438;
Locher, Hubert: Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, S. 132-145;
Söntgen, Beate: Sehen ist alles. Wilhelm Leibl und die Wahrnehmung des Realismus. Wilhelm Fink Verlag, München 200, S. 46-50. 

(zuletzt bearbeitet am 24. Januar 2020)

Sonntag, 12. August 2012

Heinrich Heine: Belsazar


Rembrandt: Belsazars Fest (1635); London, National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken)


Belsazar

Die Mitternacht zog näher schon;
In stummer Ruh lag Babylon.

Nur oben in des Königs Schloss,
Da flackert’s, da lärmt des Königs Tross.

Dort oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.

Die Knechte saßen in schimmernden Reihn
Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.

Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht;
So klang es dem störrigen Könige recht.

Des Königs Wangen leuchten Glut;
Im Wein erwuchs ihm kecker Mut.

Und blindlings reißt der Mut ihn fort;
Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.

Und er brüstet sich frech, und lästert wild;
Der Knechtenschar ihm Beifall brüllt.

Der König rief mit stolzem Blick;
Der Diener eilt und kehrt zurück.

Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;
Das war aus dem Tempel Jehovahs geraubt.

Und der König ergriff mit frevler Hand
Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.

Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
Und rufet laut mit schäumendem Mund:

„Jehovah! dir künd ich auf ewig Hohn –
Ich bin der König von Babylon!“

Doch kaum das grause Wort verklang,
Dem König ward’s heimlich im Busen bang.

Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.

Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kam’s hervor wie Menschenhand;

Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.

Der König stieren Blicks da saß,
Mit schlotternden Knien und totenblass.

Die Knechtenschar saß kalt durchgraut,
Und saß gar still, gab keinen Laut.

Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.

Belsazar ward aber in selbiger Nacht
Von seinen Knechten umgebracht.

Heinrich Heine

Dienstag, 7. August 2012

Der Horror des Martyriums – Lovis Corinths „Roter Christus“

Lovis Corinth: Der rote Christus (1922), München, Pinakothek der Moderne
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der rote Christus, 1922 entstanden, gilt als ein Höhepunkt im expressiven Spätwerk des Malers und Grafikers Lovis Corinth (1858–1925). Unter den Strahlen einer rot verfinsterten Sonne und eines rot durchäderten Himmels hängt der Gottessohn blutverschmiert am Kreuz. Das Gemälde rückt die Gestalt Christi ganz in den Vordergrund und damit distanzlos nah vor die Augen des Betrachters. Der Gekreuzigte füllt die ungewöhnlich gedrängt wirkende Bildfläche (135,7 x 107,7 cm), seine auseinandergezerrten Arme und scharf abgewinkelten Beine werden vom Bildrand beschnitten. Das Kreuz verschwindet so aus dem Fokus, es ist größtenteils gar nicht sichtbar und nur noch durch die schmerzvoll angespannte Haltung des Körpers zu erahnen. Das bärtige Haupt mit den verschatteten Augen liegt tief zwischen den Schultern.
Zu beiden Seiten des Kreuzes erscheinen, in den unteren Bildecken nur knapp angedeutet, zwei Henker: Links öffnet der eine mit seiner Lanze die Brust ihres Marteropfers; dabei schießt ein Blutstrahl so weit aus der Wunde nach rechts, dass er das Gesicht des anderen Soldaten trifft, der den Essigschwamm auf eine lange dünne Rute gesteckt hat. Im Bildmittelgrund links stützt der Jünger Johannes die in traditionellem Blau gekleidete Mutter Jesu, die beim Anblick der brutalen Hinrichtung ihres Sohnes ohnmächtig zu werden scheint.
Die Präsentation des blutüberströmten Körpers wirkt in seiner unmittelbaren, auf das Wesentliche reduzierten Darstellung schockierend. Es ist ein Bild, das sich in seiner Drastik höchstens mit spätmittelalterlichen Passionsdarstellungen vergleichen lässt. Sicherlich hat Corinth sehr bewusst als Bildträger Holz verwendet – er knüpft so an die Tradition der Altarbilder altdeutscher und -niederländischer Künstler an. 
Crucifixus dolorosus (um 1300); Köln, St. Maria im Kapitol
In Corinths Gemälde verweist aber nichts mehr auf den am Kreuz triumphierenden Christus; von dessen Sieg über die „Mächte und Gewalten“ (Kolosser 2,15; LUT) findet sich keine Spur, mehr noch: Der Gepeinigte ist auch kaum noch als menschliches Wesen erkennbar. Geradezu wie ein Tier wird er abgeschlachtet. Corinth zeigt den puren Horror des Martyriums. Dem entspricht in der Farbgebung das allgegenwärtige intensive Rot und nicht zuletzt der gewaltsame Farbauftrag in dicken Flecken – der Maler malträtiert die Leinwand regelrecht mit Palettmesser und Pinsel:
„Das Bild selbst erscheint wie eine Wunde“ (Peters 2019, S. 187). Das rote Blut wirkt durch seinen pastosen Auftrag regelrecht wie geronnen und matieriell real vorhanden. Wo Matthias Grünewald auf seinem Isenheimer Altar die Qual des Gekreuzigten durch dessen expressiv gespreizte Hände veranschaulicht, steigert Corinth den Schrecken nochmals: Er schneidet die Hände brutal ab – man sieht nur rote Stümpfe.
Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, 1. Schauseite (1512-1516); Colmar, Musée dUnterlinden
Die Gestalt Christi steht bei Corinth exemplarisch für all die, die bis zum Verlust ihrer Menschlichkeit gequält und erniedrigt werden. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund ist seine schonungslose Darstellung des Sterbens Jesu vor allem ein Aufschrei gegen den sinnlosen, brutalen Tod Hunderttausender im zurückliegenden Ersten Weltkrieg.


Literaturhinweise

Peters, Olaf: »Letzte Grenzen der Verzweiflung«. Grünewald und die Moderne Kunst am Beispiel von Lovis Corinth und Alois J. Schardt. In: Werner Frick/Günter Schnitzler (Hrsg.), Der Isenheimer Altar. Werk und Wirkung. Rombach Verlag, Freiburg i. Br., 2019, S. 183-195;

Ulmer, Renate: Passion und Apokalypse. Studien zur biblischen Thematik in der Kunst des Expressionismus. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1992, S. 91-93;

Zimmermann, Michael: Lovis Corinth. Verlag C.H. Beck, München 2008;

LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 7. Dezember 2020)

Friedrich Schiller: Pompeji und Herkulanum


Wandmalerei aus Herculaneum; Neapel, Museo Archeologico Nazionale

Pompeji und Herkulanum

Welches Wunder begibt sich? Wir flehten um trinkbare Quellen,
Erde! dich an, und was sendet dein Schoß uns herauf!
Lebt es im Abgrund auch? Wohnt unter der Lava verborgen
Noch ein neues Geschlecht? Kehrt das entflohne zurück?
Griechen, Römer, o kommt! o seht, das alte Pompeji
Findet sich wieder, aufs neu bauet sich Herkules’ Stadt.
Giebel an Giebel steigt, der räumige Portikus öffnet
Seine Hallen, o eilt, ihn zu beleben, herbei!
Aufgetan ist das weite Theater, es stürze durch seine
Sieben Mündungen sich flutend die Menge herein.
Mimen, wo bleibt ihr? Hervor! Das bereitete Opfer vollende
Atreus’ Sohn, dem Orest folge der grausende Chor.
Wohin führet der Bogen des Siegs? Erkennt ihr das Forum?
Was für Gestalten sind das auf dem kurulischen Stuhl?
Traget, Liktoren, die Beile voran! Den Sessel besteige
Richtend der Prätor, der Zeug’ trete, der Kläger vor ihn.
Reinliche Gassen breiten sich aus, mit erhöhetem Pflaster
Ziehet der schmälere Weg neben den Häusern sich hin.
Schützend springen die Dächer hervor, die zierlichen Zimmer
Reihn um den einsamen Hof heimlich und traulich sich her.
Öffnet die Läden geschwind und die lange verschütteten Türen,
In die schaudrigte Nacht falle der lustige Tag.
Siehe, wie rings um den Rand die netten Bänke sich dehnen,
Wie von buntem Gestein schimmernd das Estrich sich hebt!
Frisch noch erglänzt die Wand von heiter brennenden Farben,
Wo ist der Künstler? Er warf eben den Pinsel hinweg.
Schwellender Früchte voll und lieblich geordneter Blumen
Fasset der muntre Feston reizende Bildungen ein.
Mit beladenem Korb schlüpft hier ein Amor vorüber,
Emsige Genien dort keltern den purpurnen Wein,
Hochauf springt die Bacchantin im Tanz, dort ruhet sie schlummernd,
Und der lauschende Faun hat sich nicht satt noch gesehn.
Flüchtig tummelt sie hier den raschen Zentauren, auf einem
Knie nur schwebend, und treibt frisch mit dem Thyrsus ihn an.
Knaben! Was säumt ihr? Herbei! Da stehn noch die schönen Geschirre,
Frisch, ihr Mädchen, und schöpft in den etrurischen Krug.
Steht nicht der Dreifuß hier auf schön geflügelten Sphinxen?
Schüret das Feuer! Geschwind, Sklaven! Bestellet den Herd!
Kauft, hier geb ich euch Münzen, vom mächtigen Titus gepräget,
Auch noch die Waage liegt hier, sehet, es fehlt kein Gewicht.
Stecket das brennende Licht auf den zierlich gebildeten Leuchter,
Und mit glänzendem Öl fülle die Lampe sich an.
Was verwahret dies Kästchen? O seht, was der Bräutigam sendet,
Mädchen! Spangen von Gold, glänzende Pasten zum Schmuck!
Führet die Braut in das duftende Bad, hier stehn noch die Salben,
Schminke find ich noch hier in dem gehöhlten Kristall.
Aber wo bleiben die Männer? die Alten? Im ernsten Museum
Liegt noch ein köstlicher Schatz seltener Rollen gehäuft.
Griffel findet ihr hier zum Schreiben, wächserne Tafeln,
Nichts ist verloren, getreu hat es die Erde bewahrt.
Auch die Penaten, sie stellen sich ein, es finden sich alle
Götter wieder, warum bleiben die Priester nur aus?
Den Caduceus schwingt der zierlich geschenkelte Hermes,
Und die Viktoria fliegt leicht aus der haltenden Hand.
Die Altäre, sie stehen noch da, o kommet, o zündet,
Lang schon entbehrte der Gott, zündet die Opfer ihm an!

Friedrich Schiller