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Lovis Corinth: Der rote Christus (1922), München, Pinakothek der Moderne
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Der rote Christus, 1922 entstanden, gilt als ein Höhepunkt im expressiven Spätwerk des Malers und Grafikers Lovis Corinth (1858–1925). Unter den Strahlen einer rot verfinsterten Sonne und eines rot durchäderten Himmels hängt der Gottessohn blutverschmiert am Kreuz. Das Gemälde rückt die Gestalt Christi ganz in den Vordergrund und damit distanzlos nah vor die Augen des Betrachters. Der Gekreuzigte füllt die ungewöhnlich gedrängt wirkende Bildfläche (135,7 x 107,7 cm), seine auseinandergezerrten Arme und scharf abgewinkelten Beine werden vom Bildrand beschnitten. Das Kreuz verschwindet so aus dem Fokus, es ist größtenteils gar nicht sichtbar und nur noch durch die schmerzvoll angespannte Haltung des Körpers zu erahnen. Das bärtige Haupt mit den verschatteten Augen liegt tief zwischen den Schultern.
Zu beiden Seiten des Kreuzes erscheinen, in den unteren Bildecken nur knapp angedeutet, zwei Henker: Links öffnet der eine mit seiner Lanze die Brust ihres Marteropfers; dabei schießt ein Blutstrahl so weit aus der Wunde nach rechts, dass er das Gesicht des anderen Soldaten trifft, der den Essigschwamm auf eine lange dünne Rute gesteckt hat. Im Bildmittelgrund links stützt der Jünger Johannes die in traditionellem Blau gekleidete Mutter Jesu, die beim Anblick der brutalen Hinrichtung ihres Sohnes ohnmächtig zu werden scheint.
Die Präsentation des blutüberströmten Körpers wirkt in seiner unmittelbaren, auf das Wesentliche reduzierten Darstellung schockierend. Es ist ein Bild, das sich in seiner Drastik höchstens mit spätmittelalterlichen Passionsdarstellungen vergleichen lässt. Sicherlich hat Corinth sehr bewusst als Bildträger Holz verwendet – er knüpft so an die Tradition der Altarbilder altdeutscher und -niederländischer Künstler an.
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Crucifixus dolorosus (um 1300); Köln, St. Maria im Kapitol
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In Corinths Gemälde verweist aber nichts mehr auf den am Kreuz triumphierenden Christus; von dessen Sieg über die „Mächte und Gewalten“ (Kolosser 2,15; LUT) findet sich keine Spur, mehr noch: Der Gepeinigte ist auch kaum noch als menschliches Wesen erkennbar. Geradezu wie ein Tier wird er abgeschlachtet. Corinth zeigt den puren Horror des Martyriums. Dem entspricht in der Farbgebung das allgegenwärtige intensive Rot und nicht zuletzt der gewaltsame Farbauftrag in dicken Flecken – der Maler malträtiert die Leinwand regelrecht mit Palettmesser und Pinsel: „Das Bild selbst erscheint wie eine Wunde“ (Peters 2019, S. 187). Das rote Blut wirkt durch seinen pastosen Auftrag regelrecht wie geronnen und matieriell real vorhanden. Wo Matthias Grünewald auf seinem Isenheimer Altar die Qual des Gekreuzigten durch dessen expressiv gespreizte Hände veranschaulicht, steigert Corinth den Schrecken nochmals: Er schneidet die Hände brutal ab – man sieht nur rote Stümpfe.
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Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, 1. Schauseite (1512-1516); Colmar, Musée d’Unterlinden |
Die Gestalt Christi steht bei Corinth exemplarisch für all die, die bis zum Verlust ihrer Menschlichkeit gequält und erniedrigt werden. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund ist seine schonungslose Darstellung des Sterbens Jesu vor allem ein Aufschrei gegen den sinnlosen, brutalen Tod Hunderttausender im zurückliegenden Ersten Weltkrieg.
Literaturhinweise
Peters, Olaf: »Letzte Grenzen
der Verzweiflung«. Grünewald und die Moderne Kunst am Beispiel von Lovis
Corinth und Alois J. Schardt. In: Werner Frick/Günter Schnitzler (Hrsg.), Der
Isenheimer Altar. Werk und Wirkung. Rombach Verlag, Freiburg i. Br., 2019, S.
183-195;
Ulmer, Renate: Passion und Apokalypse. Studien zur biblischen
Thematik in der Kunst des Expressionismus. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main
1992, S. 91-93;
Zimmermann, Michael: Lovis Corinth. Verlag C.H. Beck, München
2008;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene
Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 7. Dezember 2020)
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