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Andrea Mantegna: Beweinung Christi; Mailand, Pinacoteca di Brera
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Die Beweinung
Christi ist eines von fünf Gemälden, die beim Tod des bedeutenden
Renaissance-Malers Andrea Mantegna (1431–1506) in dessen Atelier aufgefunden
wurden. Der italienische Titel in der Nachlassauflistung lautet Cristo in
scurto, „Christus in Verkürzung“, eine prosaische Bezeichnung, die nicht das
Thema, sondern die Darstellungsform beschreibt. Weder Auftraggeber noch
Bestimmungsort oder genaue Entstehungszeit sind bekannt.
Die Bildfläche der 66
x 81 cm großen, mit dünn aufgetragenen Leim- und Temperafarben bemalten
Leinwand wird ganz von der Gestalt Christi beherrscht – die Wundmale an Händen
und Füßen sind deutlich erkennbar. Der tote Körper liegt auf einem
purpurroten, weiß gesprenkelten rechteckigen Stein, über die Beine und Hüften
ist ein Tuch gebreitet. Körper, Platte und Tuch sehen aus, als seien sie alle
aus ein und demselben Material. Der Leichnam ist perspektivisch extrem verkürzt
dargestellt; das leicht nach rechts gefallene Haupt wird durch ein pralles
Kissen gestützt, sodass es sich gerade noch über den Torso erhebt. Die Arme
liegen wie ausgekugelt seitlich am Körper. Der Betrachter schaut Christus
direkt auf die Fußsohlen mit den „kartoffelförmigen Zehen“ (Warnke 1992), die
ihm über die Kante des Steins entgegenragen; die Füße des Toten kommen uns so nahe, dass man sie fast berühren zu können meint. Das faltenreiche, kaskadenartig
gestufte Tuch liegt quer zum perspektivischen Tiefenzug, „so daß der Blick zu
dem hochgewölbten Oberkörper in die Bildtiefe durchklettern muß“ (Warnke
1992). Der Fluchtpunkt liegt oberhalb des Bildformats, der Betrachter
sieht auf Christus hinunter, aber nicht über ihn hinweg, weil der Bildrand über
seinem Kopf jegliches Abschweifen verhindert.
Der Leichnam Jesu nimmt
die Mittelachse des Bildes ein. Am linken Rand erkennt man drei
schmerzverzerrte Gesichter, von denen zwei stark angeschnitten sind. Die
gegenüberliegende Seite scheint auf den ersten Blick leer, doch an der oberen
Kante der Platte ist ein Salbgefäß zu erkennen. Diese beidseitige Einfassung
des Hauptes bildet den thematischen Rahmen des Bildes: die Beweinung und die
Salbung des Leichnams Christi. Entsprechend lassen sich die Figuren links als der
Jünger Johannes und Maria, die Mutter Jesu, identifizieren. Bei der dritten
Person könnte es sich um Maria Magdalena handeln. Johannes hat die Hände eng verklammert; sein Gesicht, von dem nur die vordere Hälfte sichtbar ist, zeigt tränenerfüllte Augen und einen zur Klage geöffneten Mund. Die Reaktion Marias ist ähnlich, nur verhaltener. Mit ihren Händen wischt sie sich die Tränen aus dem linken Auge; ihre rechte Hand ist analog zur durchbohrten Hand Christi gestaltet, um die besondere Beziehung zwischen Mutter und Sohn zu verdeutlichen. Von der hintersten, im Dunkel halb verborgenen Figur ist nur ein zum lauten Schrei weit geöffneter Mund zu sehen. Felix Thürlemann hält eine genauere Bestimmung dieser Gestalt für unmöglich. Diese Unbestimmtheit sei aber
entscheidend, denn dieser Figur „kann sich jeder Bildbetrachter gänzlich
gleichsetzen“ (Thürlemann 1989, S. 23).
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An den Rand gedrängt: Mantegnas Klagefiguren |
Wie die Handlung – keine Hand, wie sonst bei Beweinungen üblich, berührt
den Körper –, so ist auch die Farbigkeit reduziert. Fahl liegt der Körper auf
dem rötlich gefärbten Stein, „als hätte dieser ihm alles Blut entzogen“
(Bätzner 1998, S. 36). Einzig in den scharfrandigen Wundmalen der aufgestützten
Hände und der über den Rand der Steinplatte vorragenden Füße sind noch Reste
von Blut zu erkennen. Nur für den sorgfältigen Blick sichtbar ist der schmale
Schnitt des Lanzenstichs in der rechten Brustseite des Toten.
Eigentliche Buntwerte in der Farbigkeit finden sich in den gedämpft-gebrochenen Tönen bei den Klagefiguren, im olivfarbenen Gewand des Johannes und im hellpurpurnen Kleid der Maria sowie im tiefgrünen Vorhang, der den Bildraum gleich hinter dem Marmortisch abschließt. Gegen die Beweinungsgruppe hin verdunkelt er sich zunehmend.
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Hans Holbein: Der tote Christus im Grabe (1521/22); Basel, Kunstmuseum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Man hat
Mantegna vorgeworfen, in seiner Beweinung Christi die Gesetze der Anatomie
und der neuentdeckten Zentralperspektive schonungslos am Leichnam Jesu
auszuprobieren. Der Anblick des Toten von den Fußsohlen her über Bauch und
Brust bis unter das Kinn und in die Nasenlöcher sei ein würdeloser, profaner
Anblick; von einer „Entgöttlichung der Heilandsgestalt“ (Hans Jantzen) und vom
„baren Perspektivkunststück“ (Edward Hüttinger) ist die Rede; das Christusbild
der Renaissance habe hier den Punkt seiner weitesten Entfernung vom Mittelalter
erreicht. „Das Ergebnis der radikalen Anwendung der Perspektivkunst auf das
alte Thema der Beweinung Christi ist eine radikale Verdiesseitigung. Der
Betrachter sieht Christus in einer Lage, die immer denkbar, aber nie zeigbar
war“ (Warnke 1992). Wie in Hans Holbeins Gemälde Der tote Christus im Grabe (1521/22; siehe meinen Post „Ganz Mensch, ganz tot“) ist der Gottessohn bei Mantegna ganz Mensch, weil er wirklich ganz
tot ist – und im Bild gibt es keinen Hinweis darauf, dass er je wieder
auferstehen könnte. Mit existentialistischem Pathos bilanziert Eduard Hüttinger
Anfang der 60er-Jahre: „[Z]ur alles bestimmenden Anschauung gebracht ist die
jäh überkommende, hinwerfende, ›verkürzende‹ Macht des Todes, die unerbittliche
Verendlichung der Erscheinung und insofern äußerste Entmythologisierung und
Säkularisierung bedeutet. Das mag die Ursache gewesen sein, daß das Bild bei
Mantegnas Tod sich noch immer in seinem Atelier befand; es hat nie einem
praktischen Kultzweck gedient.“
Mantegnas
Darstellung des toten Christus war zu seiner Zeit sicherlich äußerst
ungewöhnlich und kühn – und doch ist es meiner Ansicht nach ein großartiges
Andachtsbild, in das sich der Gläubige vertiefen soll, um sich in das Leiden
Jesu einzufühlen und über das Geheimnis seines Opfertodes nachzusinnen. Denn
Mantegna hat die Zentralperspektive nicht strikt durchgehalten: Der Körper
Christi wird zur Bildtiefe nicht, wie die Perspektivregeln es erfordern,
kleiner, sondern immer größer, sodass der von einer hauchzarten, kaum
bemerkbaren Gloriole umfasste, dem Seitenlicht zugewandte Kopf unausweichlich
in den Blick rückt. Wir als Betrachter stehen am Fußende der
Steinplatte, wir sind dem aufgebahrten Körper so nah wie die drei Personen
links im Bild. Auf diese Weise zieht uns Mantegna mit in das Geschehen hinein:
Auch wir gehören zu den Trauernden und vervollständigen so das Bild.
Felix Thürlemann verweist darauf, dass die starke perspektivische Verkürzung für die Andacht des Bildbetrachters einen „direkten Gewinn“ (Thürlemann 1989, S. 15) mit sich bringe: Denn auf diese Weise sind alle fünf Wundmale Christ, auch die an den Füßen, sichtbar. „Dieser Gewinn ist nicht unbedeutend, wenn man bedenkt, daß die Verehrung der Fünf Wunden Christi im 15. Jahrhundert außerordentlich populär war“ (Thürlemann 1989, S. 15). Dazu passt, dass Mantegna die Handrücken Jesu zur Darbietung der Wunden in künstlicher Stellung parallel zur Bildgrenze angeordnet hat.
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Ostentativ dargeboten: die Wundmale Jesu in den beiden Handrücken |
Colin Eisler erweitert diese Deutung des Bildes noch: Mantegna hebe auch das vom Leichentuch bedeckte Geschlecht Jesu besonders hervor, indem er es genau in den Schnittpunkt der Bilddiagonalen platziert. Damit weist er, so Eisler, auf die erste Wunde zu, die Jesus zugefügt wurde, nämlich bei seiner Beschneidung. Hier vergießt der Sohn Gottes zum ersten Mal sein Erlösung und Heil wirkendes Blut. In ganz ähnlicher Weise präsentiert Mantegna Christus in seiner Engelspietà aus Kopenhagen: Hier sitzt der Auferstandene auf einem stark verkürzten antiken Sarkophag und zeigt dem Betrachter seine Wundmale. Auch auf diesem Gemälde wird, wie Andreas Hauser nachgewiesen hat, das Geschlecht Jesu „zentral inszeniert“ und damit auf die Beschneidung verwiesen: „Zusammen mit den fünf Wundmalen, die er bei der Kreuzigung empfangen hat, zeigt Christus jenen Ort vor, an welchem er einst die erste Wunde empfangen hatte“ (Hauser 2000, S. 471). In der im späten 13. Jahrhundert zusammengestellten „Legenda aurea“ wird die Passion Christi als Abfolge von Szenen geschildert, in denen Jesus sein Blut vergießt, beginnend mit der Beschneidung und endend mit dem Lanzenstich des Longinus.
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Andrea Mantegna: Engelspietà (um 1495/1500); Kopenhagen, Statens
Museum for Kunst (für die Großansicht einfach anklicken) |
Andreas
Prater ist der Ansicht, dass der eigentliche Bildgegenstand von
Mantegnas Cristo in scurto der „unverhältnismäßig groß und
übermächtig“ dargestellte Salbstein sei (Prater 1985, S. 292). Bei diesem
Salbstein handelt es sich um eine der wichtigsten und in früheren Zeiten
hochverehrten Passionsreliquien. Die Salbung des vom Kreuz genommenen Leichnams
Christi entsprach dem jüdischen Bestattungsritus. Man wusch den Toten auf einer
Steinplatte, salbte ihn mit
aromatischen Ölen und
Spezereien und hüllte ihn in reines Linnen. Das Johannes-Evangelium berichtet,
dass Nikodemus zu diesem Zweck „Myrrhe
gemischt mit Aloe“ zum Grab Christi brachte (Johannes
19,39, LUT).
Prater
zieht eine Verbindung zwischen Mantegnas Gemälde und der Eroberung
Konstantinopels – wohin der Salbstein Christi nach mittelalterlichen Quellen
angeblich gebracht worden war –
durch die Türken im Jahr 1453: „Die Christusgestalt ist funktional auf das
Martyrium bezogen, das die Christen bei der
Eroberung Konstantinopels
erleiden mußten. Die Bildformel der extremen, ›entwürdigenden‹ Verkürzung
Christi ist rhetorische Provokation; sie
vertritt, wenngleich auf sublimiertere Weise, all die Schmähungen und
Erniedrigungen von Christen, christlichen Kultobjekten und Kultstätten“ (Prater
1985, S. 294), die auf den Fall der oströmischen Hauptstadt folgten. Der tote
und noch über den Tod hinaus leidende Christus (wie sein Gesichtsausdruck
zeige) sei als Argument einer Bildrhetorik eingesetzt, die einen unübersehbaren
Appell im Sinne der Rückeroberungspropaganda formuliere, d. h. dazu auffordere,
die kostbare Reliquie wieder in christlichen Besitz zu bringen. Praters Thesen
bleiben allerdings reichlich spekulativ, da er für sie keinerlei Belege
anführen kann. |
Andrea del Castagno: Vision des hl. Hieronymus (1454/55); Florenz, Santissima Annunziata
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Bei aller Originalität konnte Mantegna durchaus auf Vorbilder zurückgreifen: In den Jahren 1466 und 1467 hatte er Reisen nach Florenz unternommen und dort wahrscheinlich in der Kirche Santissima Annunziata das um 1454/55 gemalte Fresko Andrea del Castagnos (1419–1457) bewundern können. Als Vision erscheint über dem Haupt des hl. Hieronymus die herbeifliegende Trinität mit Gottvater, der den Kreuzbalken hält, an den Christus geheftet ist und dessen Leib in die Tiefe fluchtet. Im Gegensatz zu Castagno dreht Mantegna den Leib Christi aber um, stellt ihn sozusagen vom Kopf auf die Füße.
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Hans Baldung Grien: Der behexte Stallknecht (um 1534); Holzschnitt |
Mantegnas
Bildfindung gab den Anstoß für eine Serie weiterer stark verkürzter
Körperdarstellungen, wie z. B. Der behexte Stallknecht (um 1534), ein
Holzschnitt von Hans Baldung Grien (1484/85–1545), der Leichnam Christi (um
1583/85) von Annibale Carracci (1560–1609) aus der Stuttgarter Staatsgalerie,
Rembrandts Fragment Anatomie des Dr. Joan Deyman (1656) oder aus dem 19.
Jahrhundert Wilhelm Trübners Bild Der vom Kreuz genommene Christus (1874) aus
der Hamburger Kunsthalle.
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Annibale Carracci: Leichnam Christi (um 1583/85); Stuttgart, Staatsgalerie |
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Rembrandt van Rijn: Anatomie des Dr. Joan Deyman (1556, Fragment); Amsterdam, Rijksmuseum |
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Wilhelm Trübner: Der vom Kreuz genommene Christus (1874), Hamburg, Kunsthalle |
Literaturhinweise
Bätzner, Nike: Andrea Mantegna. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998;
Eisler, Colin: Mantegna’s
Meditation on the Sacrifice of Christ: His Synoptic Saviour. In: artibus et
historiae 53 (2006), S. 9-22;
Hauser, Andreas: Andrea
Mantegnas „Pietà“. Ein ikonoklastisches Andachtsbild. In: Zeitschrift für
Kunstgeschichte 63 (2000), S. 449-493;
Hüttinger, Eduard: Bemerkungen
zur Kunst Mantegnas. In: NZZ vom 22. Oktober 1961;
Prater, Andreas: Mantegnas Cristo in scurto. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte
48 (1985), S. 279-299;
Salmazo, Alberta de Nicolò: Andrea Mantegna. DuMont Verlag, Köln 2004;
Thürlemann, Felix: Mantegnas Mailänder Beweinung. Die Konstitution des Betrachters
durch das Bild. Konstanzer Universitätsreden, Bd. 171, Konstanz 1989;
Warnke, Martin: Durchblick ins Diesseits. Andrea Mantegna und der
Selbstbestimmungswille des Künstlers. In: F.A.Z. vom 18. April 1992;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 12. August 2022)
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