Trunkene Alte; München, Glyptothek (römische Kopie nach hellenistischem Original aus dem späten 3. Jh. v.Chr.) |
Eine abgemagerte, faltige Greisin sitzt mit angewinkelten, vorne überkreuzten Beinen auf dem
Boden, im Schoß innig, „wie ihr Allerliebstes“ (Wünsche 2005, S. 115), ein
großes Weingefäß haltend. Von dessen Inhalt hat sie offenkundig bereits eine gehörige Portion zu sich genommen. Die rechte Hand umfasst den Hals, die linke den Bauch
der großen Flasche, damit sie ihr niemand wegnehmen kann. Unter ihrer dünnen
Haut zeichnen sich Knochen und Sehnen ab, an der rechten Schulter ist das Untergewand herabgeglitten und entblößt den Ansatz der welken Brust. Den Kopf hat
die Alte weinselig in den Nacken geworfen, ihr Mund ist geöffnet und lässt einige
Zahnstummel sichtbar werden. Sie lallt oder singt selbstvergessen. Die heraustretenden Knochen,
das skelettartig dargestellte Rückgrat, die hängenden Hautsäcke und die tiefen
Schrunden zeigen an, dass die Alte völlig ausgezehrt ist, buchstäblich nur noch
aus Haut und Knochen besteht. Und doch scheint sie von Glücksgefühl durchströmt
zu sein. Der Wein hat seine Wirkung getan. Sie wirkt selig, schwelgt
innerlich vielleicht in Erinnerungen. „Der moribunde Körper ist effektvoll in
Kontrast zu einem völlig gelösten Gemütszustand gesetzt, der sich im Gesicht
ausdrückt“ (Zanker 1989, S. 44).
Gut sichtbar: die durchbohrten Ohrläppchen, in denen sich echte Ringe befanden (für die Großansicht einfach anklicken) |
Venus Genetrix; Louvre, Paris (römische Marmorkopie eines griechischen Originals) |
Die Trunkene Alte hat keine klare Ansichtsseite. Sie erschließt sich nur dem, der um sie herumgeht und sie aus der Nähe betrachtet (auch dies ein Stilmerkmal der hellenistischen Kunst), auch wegen der kleinteiligen Modellierung und der fein ziselierten Details. „Selbst die Rückseite der Figur, die durch den rahmenden Bogen des tief herabfallenden Mantels als eigenwertige Ansicht isoliert wird, bietet neue, überraschende Einsichten“ (Kunze 2002, S. 104). Eindringlich tritt hier in den kantig heraustretenden Schulterblättern und der scharf hervorstechenden Wirbelsäule nochmals der fast zum Skelett abgemagerte Körper der greisen Alkoholikerin vor Augen. Nur von hinten ist auch das Trachtdetail der Gürtung erkennbar; ebenso fällt hier das freigelegte Gesäß auf, das von dem umlaufenden Mantelrand sorgfältig gerahmt wird.
Zweifellos war die Skulptur für eine sehr tiefe Aufstellung konzipiert, sodass man von oben auf sie herabblicken konnte. Der Schmuck des sich auf der Grundfläche ausbreitenden Faltenspiels und seine rahmende Funktion kommen nur dann wirklich zur Wirkung, wenn man die Statue von schräg oben betrachten kann. „Auch sind einige, pointiert herausgearbeitete Details des Gesichts, etwa die fein ziselierten Einzellöckchen, die unter dem Kopftuch ungeordnet und ›zufällig‹ in die Stirn fallen, notwendig darauf angewiesen, daß man den Kopf der alten Frau mindestens auf gleicher Höhe, wahrscheinlicher aber von oben betrachten konnte“ (Kunze 2002, S. 104). Christian Kunze sieht in dem hochgereckten Kopf der Trunkenen Alten weniger weinselige Selbstvergessenheit als einen direkten Zusammenhang mit der Betrachtungssituation: Sich emporwendend, scheint sie uns ohne Hemmungen lallend anzusprechen und das Weingefäß entgegenzuhalten, was wie eine Aufforderung wirkt, der Betrachter „solle sich ebenfalls zum gemeinsamen Weinrausch an der Flasche bedienen“ (Kunze 2002, S. 105).
Wen stellt die Trunkene Alte dar? „Vielleicht eine ehemals vielbegehrte und reiche Hetäre (Dirne), der im Alter, als letzte Wonne, nur der Alkohol bleibt“ (Wünsche 2005, S. 115). Ihr handgreiflicher Umgang mit dem Flaschenhals könnte ein Hinweis auf einschlägige Berufspraktiken sein. Der Wein hilft ihr, sich in glücklichere, längst vergangene Tage zurückzuversetzen. Solche „Ehemaligen“ waren vielbelachte Bühnenfiguren in der attischen Komödie z. B. eines Aristophanes. In einem Theater aufgestellt, gäbe die Figur Sinn. Für eine lebensgroße Skulptur wie die Trunkene Alte (Höhe 92 cm) kommt im 3. Jahrhundert v.Chr. nur eine öffentliche Aufstellung in Frage. Paul Zanker geht davon aus, dass die Statue einst als Weihgeschenk in einem Heiligtum gestanden haben muss, „und zwar in einem Heiligtum, das dem Gott Dionysos geweiht war“ (Zanker 1989, S. 48). Denn es ist der Gott des Weins, „der die Alte getröstet hat und der sie ihre Misere hat vergessen lassen“ (Zanker 1989, S. 50).
Zweifellos war die Skulptur für eine sehr tiefe Aufstellung konzipiert, sodass man von oben auf sie herabblicken konnte. Der Schmuck des sich auf der Grundfläche ausbreitenden Faltenspiels und seine rahmende Funktion kommen nur dann wirklich zur Wirkung, wenn man die Statue von schräg oben betrachten kann. „Auch sind einige, pointiert herausgearbeitete Details des Gesichts, etwa die fein ziselierten Einzellöckchen, die unter dem Kopftuch ungeordnet und ›zufällig‹ in die Stirn fallen, notwendig darauf angewiesen, daß man den Kopf der alten Frau mindestens auf gleicher Höhe, wahrscheinlicher aber von oben betrachten konnte“ (Kunze 2002, S. 104). Christian Kunze sieht in dem hochgereckten Kopf der Trunkenen Alten weniger weinselige Selbstvergessenheit als einen direkten Zusammenhang mit der Betrachtungssituation: Sich emporwendend, scheint sie uns ohne Hemmungen lallend anzusprechen und das Weingefäß entgegenzuhalten, was wie eine Aufforderung wirkt, der Betrachter „solle sich ebenfalls zum gemeinsamen Weinrausch an der Flasche bedienen“ (Kunze 2002, S. 105).
Wen stellt die Trunkene Alte dar? „Vielleicht eine ehemals vielbegehrte und reiche Hetäre (Dirne), der im Alter, als letzte Wonne, nur der Alkohol bleibt“ (Wünsche 2005, S. 115). Ihr handgreiflicher Umgang mit dem Flaschenhals könnte ein Hinweis auf einschlägige Berufspraktiken sein. Der Wein hilft ihr, sich in glücklichere, längst vergangene Tage zurückzuversetzen. Solche „Ehemaligen“ waren vielbelachte Bühnenfiguren in der attischen Komödie z. B. eines Aristophanes. In einem Theater aufgestellt, gäbe die Figur Sinn. Für eine lebensgroße Skulptur wie die Trunkene Alte (Höhe 92 cm) kommt im 3. Jahrhundert v.Chr. nur eine öffentliche Aufstellung in Frage. Paul Zanker geht davon aus, dass die Statue einst als Weihgeschenk in einem Heiligtum gestanden haben muss, „und zwar in einem Heiligtum, das dem Gott Dionysos geweiht war“ (Zanker 1989, S. 48). Denn es ist der Gott des Weins, „der die Alte getröstet hat und der sie ihre Misere hat vergessen lassen“ (Zanker 1989, S. 50).
Den Bezug zu Dionysos hat der Bildhauer in dem
sorgfältig um die Schulter des Gefäßes gelegten Efeukranz denn auch unübersehbar
mitgegeben. Es ist kein plastischer Gefäßschmuck, sondern die Alte hat frische
Efeuzweige auf die Weinflasche gelegt. Das Gefäß mit scharf abgeknickter Schulter,
langem Hals und einem (bei der Münchner Statue abgebrochenen) Henkel hieß
Lagynos; es war im 3. und 2. Jahrhundert vor allem in Kleinasien und Alexandria
verbreitet. Der Lagynos enthielt den Vorrat ungemischten Weins für eine ganze Gruppe von Feiernden; „man nahm ihn mit, wenn man zur Opferlustbarkeit ins Freie zog“ (Mandel 2007, S. 178). Offensichtlich ist am Rande einer solchen Zechgesellschaft für die hoffnungslos unattraktiv gewordene Alte zwar kein Freier mehr, aber ein Anteil Wein übrig geblieben – so ist sie doch noch einmal auf ihre Kosten gekommen.
Neben der Version aus der Münchner Glyptothek ist noch eine weitere Kopie der Trunkenen Alten überliefert, maßgleich und genau übereinstimmend. Sie befindet sich im Kapitolinischen Museum in Rom. Vollständiger und samt Kopf erhalten ist die Statue in München, „die auch in der bildhauerischen Ausführung und in der differenzierten Wiedergabe einzelner Falten- und Körperpartien den Vorzug vor der kapitolinischen Kopie verdient“ (Kunze 2002, S. 99).
Die zweite, weniger gut erhaltene Marmorkopie der Trunkenen Alten aus dem Kapitolinischen Museum in Rom (für die Großansicht einfach anklicken) |
Literaturhinweise
Alexandridis, Annetta: „Töchter der
Wirklichkeit“? Darstellungen alter Frauen in der griechisch-römischen Antike.
In: Christiane Nowak/Lorenz Winkler-Horaček
(Hrsg.), Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Realismen in der griechischen
Plastik. Verlag Marie Leidorf, Rahden/Westfl. 2018, S. 55-72;
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus.
Hirmer Verlag, München 2001, S. 98-99;
Kunze, Christian: Verkannte Götterfreunde. Zur Deutung und Funktion hellenistischer Genrefiguren. In: Römische Mitteilungen 106 (1999), S. 69–80;
Kunze, Christian: Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation. Biering & Bringmann, München 2002, S. 99-106;
Mandel, Ursula: Räumlichkeit und Bewegungserleben – Körperschicksale im Hochhellenismus (240–190 v.Chr.). In: Peter C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst III. Hellenistische Plastik. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2007, S. 177-180;
Wünsche, Raimund: Glyptothek München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur. Verlag C.H. Beck, München 2005;
Zanker, Paul: Die Trunkene Alte. Das Lachen der Verhöhnten. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1989.
(zuletzt bearbeitet am 11. März 2022)
Kunze, Christian: Verkannte Götterfreunde. Zur Deutung und Funktion hellenistischer Genrefiguren. In: Römische Mitteilungen 106 (1999), S. 69–80;
Kunze, Christian: Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation. Biering & Bringmann, München 2002, S. 99-106;
Mandel, Ursula: Räumlichkeit und Bewegungserleben – Körperschicksale im Hochhellenismus (240–190 v.Chr.). In: Peter C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst III. Hellenistische Plastik. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2007, S. 177-180;
Wünsche, Raimund: Glyptothek München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur. Verlag C.H. Beck, München 2005;
Zanker, Paul: Die Trunkene Alte. Das Lachen der Verhöhnten. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1989.
(zuletzt bearbeitet am 11. März 2022)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen