Donnerstag, 30. Juni 2016

Der abgeschiedene Geist – Georg Friedrich Kerstings „Lesender im Lampenlicht“


Georg Friedrich Kersting: Lesender bei Lampenlicht (1814); Winterthur, Museum Oskar Reinhart
Die Innenraumbilder von Georg Friedrich Kersting (1785–1847) gehören für mich zum Schönsten, was die deutsche Kunst im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Bei diesen „Zimmerporträts“ gehen Interieur und Person eine enge Verbindung ein. Die einzigartige Atmosphäre von meditativer Stille und Abgeschiedenheit, die sie auszeichnet, ist immer wieder bewundert worden. Wir kennen kaum mehr als ein Dutzend dieser Werke von Kersting – sie sind allesamt Kostbarkeiten. Eines von ihnen, Lesender bei Lampenlicht (1814 entstanden), sei hier näher vorgestellt.
Ins Profil gerückt, sitzt ein Mann in blauem Rock konzentriert lesend an einem Schreibtisch. Mit der linken Hand hält er das Buch auf der Schreibtischkante fest, während er den Kopf mit der strohblonden Windstoßfrisur auf seine Rechte stützt. Das hohe, aber schmale Zimmer, in das wir blicken, ist schlicht eingerichtet und akkurat aufgeräumt. Die strenge Ordnung im Bild beruht auf einem Gerüst von Senkrechten und Waagrechten. Rechts sind zwei Bücherregale im Wandwinkel aneinandergestellt; an einem ist eine Art Stehpult befestigt. Davor steht ein weiteres Regal mit Schatullen und Schachteln, wohl aus Platzmangel mit Rädern versehen. Die leere grüne Rückwand des Zimmers ist nach den Vorgaben des Goldenen Schnitts gegliedert: Die hintere Kante des bildparallelen Regals teilt die Breite, die hintere Kante des Schreibtisches die Höhe des Bildes entsprechend seinen Verhältnissen. Eine Gardinenschnur mit ringförmigem Griff am unteren Ende durchschneidet die Zimmerwand „wie ein Messer genau in der geometrischen Mitte“ (Schnell 1994, S. 76). Ihre Länge entspricht ebenso exakt der halben Bildhöhe.
Das Wandstück wird erhellt von einer dreiarmigen Kerzenlampe und belebt durch die langen Schatten ihres Lampenschirms. „Die Schatten vom obern und untern Rand des Lampenschirms sind leicht erkennbar. (...) Es fiele aber schwer, sich über alle Rechenschaft abzulegen. Die schrägen Schattenstreifen, die beiden dünnen, die von dem Schirm aufsteigen, und der breitere, der über dem Kopf des lesenden Manns nach oben führt, wirken völlig irrational und umso erregender, als sie den eigentümlichsten Gegensatz zu dem Waag- und Senkrecht bilden, das sonst vorherrscht“ (Staiger 1983, S. 25/26). Allerdings geht ihnen jedes dämonische Moment ab: „Sie wirken nicht als Gefahr für den Leser, der sie im Gegensatz zum Betrachter gar nicht wahrzunehmen scheint“ (Schnell 1994, S. 76). Nicht einmal der Schimmer eines Schattens fällt über sein hell ausgeleuchtetes Gesicht, obwohl man ihn erwarten dürfte, da die Kerzen tiefer im Raum platziert sind als der Kopf des Mannes.
Die Bouillotte-Lampe wird von Kersting als bestimmender Bildgegenstand inszeniert: Die leuchtend weiße Innenseite des dunkelgrünen Schirms ist der hellste Fleck des Gemäldes. Gleich links neben der Lampe und in derem Licht steht ein aufgeklapptes Etui mit einer weiblichen Bildnisminiatur: Ist es die Geliebte, Braut oder Frau des Lesenden, die er bei jedem Aufblicken ansieht? Vor ihm auf dem Tisch befinden sich Briefe, Töpfe und eine Schreibfeder. Die Schatulle links auf dem Beistelltisch ist geöffnet – was sie enthielt, liegt wohl daneben, ist aber in Stoff eingeschlagen und somit für den Betrachter verborgen.
Nichts dringt in diesen Raum ein, der – wie der einsame Leser selbst – völlig in sich ruht. Dessen geistige Sammlung trifft sich mit der nächtlichen Stille, die offensichtlich von keinem Geräusch im Haus oder einem Lärm auf der Straße gestört wird. Zeichen der Abgeschlossenheit ist auch die Land- bzw. Weltkarte, die aufgerollt in der Zimmerecke steht. Darüber hinaus hat der Lesende das Fenster mit einem Rollo fest verschlossen.
Der Lesende ist der hellen Seite des Zimmers zugewandt. „Hier entwickelt sich durch die beleuchtete Schatulle, das Frauenbildnis, den Lampenfuß, die Papiere und Briefschaften bis hin zu dem tiefen Grün des Teppichs und dem leuchtenden Grün der Wand eine intensive Farbigkeit“ (Gärtner 1988, S. 76). Hinter dem Mann jedoch verdunkelt sich die rechte Bildhälfte zunehmend. Das Regal mit den Schatullen ist noch zu erkennen, aber am Boden und in der Ecke breiten sich tiefe Schatten aus; die Bücher in den Wandregalen führen regelrecht ein „Schattendasein“. „Das gespeicherte Wissen liegt verschlossen im Dunkeln, wartet, bis es nach und nach ans Licht darf im Schein der Kerze, wo es selbst zu leuchten beginnt durch seine Vernunft“ (Wegmann 1993, S. 80). Kerstings Innenraum zeigt nicht nur eine Idylle in Grün, es ist ebenso Spiegelbild des bürgerlich-aufgeklärten Geistes. 
Werner Schnell sieht in den Schachteln und Kästen der Regale vor allem Akten und sonstige Geschäftspapiere aufbewahrt und geht deswegen davon aus, dass Kersting wohl kaum einen Gelehrten oder Literaten darstellen wollte, sondern eher einen höheren Verwaltungsbeamten, einen Juristen, einen Bankier oder Kaufmann: „So ließe sich in dem Band auf der aufgeklappten Buchstütze dann ein Rechnungsbuch vermuten“ (Schnell 1994, S. 77). Entsprechend würde dann die strenge geometrische Bildordnung den Betrachter an die Geradheit, die Rechtschaffenheit und das Pflichtbewusstsein des Lesenden erinnern, „dessen notwendige Tatkraft, sofern er als Vertreter der genannten Berufsgruppen anzusprechen ist, durch den Melancholiegestus gebrochen wird“ (Schnell 1994, S. 78).
Jan van Eyck: Hieronymus im Gehäus (1442); Detroit,
The Detroit Institute of Arts
Jan Vermeer: Junge Briefleserin am offenen Fenster (um 1657-59);
Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
Die Interieur-Darstellungen von Kersting erinnern zum einen motivisch an die Bildtradition des Kirchenvaters Hieronymus im Studierzimmer, zum anderen lassen sie wegen ihrer Seltenheit und besonderen Ausstrahlung an die ebenfalls oft kleinformatigen Bilder Jan Vermeers denken.

Literaturhinweise
Gärtner, Hannelore: Georg Friedrich Kersting. E.A. Seemann Verlag, Leipzig 1988, S. 74-76;
Schnell, Werner: Georg Friedrich Kersting (1785–1847). Das zeichnerische und malerische Werk mit  Œuvrekatalag. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1994, S. 76-78;
Roters, Eberhard: Malerei des 19. Jahrhunderts. Themen und Motive. Band I. DuMont Buchverlag, Köln 1998, S. 347-351; 
Staiger, Emil: Vor drei Bildern. G.F. Kersting, C.D. Friedrich, J.L. Agasse. Artemis Verlag, Zürich 1983, S. 9-33;
Wegmann, Peter: Museum Stiftung Oskar Reinhart Winterthur. Deutsche, österreichische und schweizerische Malerei aus dem 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 80.

(zuletzt bearbeitet am 19. Juli 2022)

Donnerstag, 23. Juni 2016

Vom Christus victor zum Christus patiens – das ottonische Gerokreuz im Kölner Dom


Gerokreuz (Ende des 10. Jahrhunderts); Köln, Dom
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der Kölner Dom ist immer wieder einen Besuch wert – nicht nur wegen seiner gotischen Fassade. Auch innen birgt er eine Fülle von Kunstschätzen wie z. B. das 2007 eingeweihte Glasfenster von Gerhard Richter. Eine andere Kostbarkeit ist das sogenannte Gerokreuz: Es gilt als das älteste erhaltene Großkruzifix im Europa nördlich der Alpen. Das 2,88 m hohe Eichenholzkreuz ist in ottonischer Zeit am Ende des 10. Jahrhunderts entstanden und wird als Stiftung des Kölner Erzbischofs Gero (Amtszeit 969–976) betrachtet.
Die lebensgroße Figur Christi (187 cm hoch) hängt an einem überbreiten, aus flachen Brettern statt Balken bestehenden Kreuz. Es hinterfängt den Körper fast vollständig und bildet mit seiner Farbe einen regelrechten Goldgrund für die Figur. Die Vergoldung stammt allerdings aus dem Jahr 1900; möglicherweise war die Vorderseite einst mit einem Goldblech beschlagen, worauf zahlreiche keine Nagellöcher auf den Kreuzbalken hinweisen. Auch der große, mit Halbedelsteinen besetzte Nimbus wurde erst nachträglich, wahrscheinlich im 12. oder 13. Jahrhundert hinzugefügt. Der das Kreuz umgebende Altar und die goldene Mandorla mit alternierend geformten Strahlen sind wiederum eine Zutat aus dem 17. Jahrhundert.
Wir sehen einen bereits toten Christus. Der schwere Körper hängt an den durchbohrten Händen und zieht die Arme nach unten; die Füße sind nebeneinander auf das keilförmige, nach vorne steil abgeschrägte Suppedaneum genagelt (ein stützendes Fußbrett, das den Todeskampf bei einer Kreuzigung verlängert), sodass der Leichnam mit abknickenden Beinen zur Seite sackt. Das Haupt neigt sich zur entgegengesetzten Seite und ist nach vorne auf die Brust gesunken. Die schmerzhaft herabgezogenen Mundwinkel verdeutlichen das überstandene Leiden. Der Oberkörper liegt nur an Armen und Schultern eng am Kreuz an, während Unterkörper und Oberschenkel sich bis zu Knien immer weiter davon ablösen. Erst die fast parallelen Unterschenkel führen wieder zum Kreuz zurück. „Dem gegensätzlichen seitlichen Ausweichen – Kopf nach rechts, Oberkörper nach links mit der größten Ausdehnung in Höhe der linken Hüfte, Unterschenkel nach links – entspricht ein solches nach der Tiefe: vorstoßendes Haupt, zurückliegender Thorax, vorgwölbter Bauch und zurückweichende Unterschenkel. Es herrscht keine Symmetrie mehr, sondern Ponderation“ (Wesenberg 1972, S. 11).
Die schmalen Hände sind flach ans Kreuz geheftet, die Daumen liegen vor den Handflächen und wölben sich über die Nagelwunden. Weil der schwere Rumpf an den Armen hängt, sind diese fast glatt gespannt, ohne die Gelenke hervorzuheben. Erst ab den Schultern zeigen sich einige Muskeln, die sich bis zur stark vorgewölbten Brust ziehen. „Auch wenn anatomisch nicht ganz korrekt dargestellt, so wird doch unmißverständlich gezeigt, daß die gedehnten Brustmuskeln einen Großteil des Körpergewichts tragen müssen“ (Klein 2002, S. 44). Unterhalb des Rippenbogens schiebt sich der kreisrunde Bauch weit nach vorne. Das Lendentuch bedeckt die Oberschenkel vollständig; es ist außen vergoldet und an den Innenseiten rot gestrichen. An den Knien und Unterschenkeln lassen sich Knochen, Gelenke und Muskeln deutlich erkennen. Am linken Fuß fehlen durch Bruch und/oder Verwitterung zwei Zehen, am rechten Fuß die große Zehe.
Ursprünglich blickte der Gläubige von unten direkt in das Gesicht des toten Christus
Im alten Kölner Dom war das Kruzifix sicher höher als heute angebracht, sodass der Betrachter von unten direkt in das Gesicht Christi blickte. Das Antlitz des Gekreuzigten zeigt eine gerade Nase, deren Rücken in die leicht gebogenen Brauen übergeht, darunter geschlossene, aus ihren Höhlen mandelförmig hervortretende Augen über kaum eingefallenen Wangen. Die Unterlippe des breiten Mundes tritt, durch eine tiefe Einkerbung voneinander abgesetzt, fast so weit wie das Kinn hervor, die untere Gesichtshälfte umfängt ein eng anliegender, sehr kurzer Bart. Das Haupthaar hingegen fällt lang über der hohen Stirn in dicken, von einem Mittelscheitel ausgehenden Strähnen bis über die Schultern, wo es in mehreren großen Locken ausläuft. „Dabei liegt es so eng am Kopf an, daß dessen zylindrische Form sichtbar bleibt“ (Klein 2002, S. 45).
Einst befand sich das Gerokreuz im Langhaus des Kölner Doms,
jetzt ist es zusammen mit dem barocken Altar an der Ostwand der Kreuzkapelle angebracht
Ältere großplastische Kruzifixe aus karolingischer Zeit sind zwar in Schriftquellen bezeugt, aber nicht erhalten. Soweit sich jedoch erschließen lässt, zeigten sie den Sohn Gottes als einen über den Tod triumphierenden, aufrecht stehenden, frontal dargebotenen, unbewegt-symmetrischen Christus victor. Die Darstellung des sieghaften, über allen Schmerz erhabenen Gekreuzigten reicht bis in die Frühzeit der Kreuzigungsbilder zurück. Das Gerokreuz markiert hier eine Wende in der mittelalterlichen Kunst und ihrer Monumentalskulptur: Christus wird nach Jesaja 53 als der leidende Gottesknecht präsentiert, als Christus patiens, „um unsrer Sünde zerschlagen“ (Jesaja 53,5). Die Betonung der Passion Jesu lenkt den Blick auf sein Menschsein und hat damit auch großes theologisches Gewicht: In der Leiblichkeit des gemarterten, am Kreuz sterbenden Erlösers spiegelt sich die Lehre von den „zwei Naturen“ Christi – er ist wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich. Darüber hinaus erfüllte das Gerokreuz im Kölner Dom auch eine wichtige liturgische Funktion: „Ohne die Spuren der erlittenen Passion in drastischer Darstellung zu zeigen, versinnbildlicht der Gerokruzifixus den Höhepunkt der christlichen Heilsgeschichte, den Erlösertod am Kreuz, der sich in dem auf dem Altar vollzogenen Messopfer täglich erneuert“ (Beer 2005, S. 178).
Bernwardsäule (um 1020); Hildesheim, Dom
Mit großer Wahrscheinlichkeit stand das Gerokreuz ursprünglich auf einem Sockel oder einer Kreuzsäule, wie sie sich im Essener Dom und in Hildesheim erhalten haben. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist die große Bronzesäule Bischof Bernwards aus St. Michael in Hildesheim, die heute im Hildesheimer Dom zu sehen ist. Ihr gesamter Säulenschaft ist in Anlehnung an antike Siegessäulen mit einem spiralförmig ansteigenden, figurenreichen christologischen Relieffries geschmückt. Das ursprünglich bekrönende Bronzekreuz der um 1020 geschaffenen Bernwardsäule ist nicht erhalten.
Bernwardkruzifix (nach 1007 und vor 1022); Hildesheim, Dommuseum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Dem Gerokreuz am nächsten steht das etwa vierzig Jahre später entstandene Silberkreuz des Bischofs Bernward. Hier wurde die Figur des sterbenden Christus mit seinem über die rechte Schulter herabgesunkenen Kopf, dem verzogenen Brustkorb und dem sich vorwölbenden Bauch als Kleinkunstwerk gestaltet; der scharfkantige Rahmen steigert noch die Bewegtheit des Körpers.

Literaturhinweise
Beer, Manuela: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Schnell & Steiner, Regensburg 2005, S. 177-180;
Beer, Manuela: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwicklung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. In: Klaus Gereon Beuckers u.a. (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2006, S. 129-152; 
Binding, Günther: Noch einmal zur Datierung des sogenannten Gero-Kreuzes im Kölner Dom. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 64 (2003), S. 321-327;
Haussherr, Reiner: Der tote Christus am Kreuz. Zur Ikonographie des Gerokreuzes. Diss., Bonn 1963:
Imdahl, Max: Das Gerokreuz im Kölner Dom. In: Max Imdahl, Gesammelte Schriften. Band 2. Zur Kunst der Tradition. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 104-146 (zuerst 1964);
Kahsnitz, Rainer: Das Bild des toten Heilands am Kreuz in ottonischer Zeit. Künstlerische und theologische Probleme plastischer Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 66 (2012), S. 50-101;
Klein, Bruno: Das Gerokreuz – Revolution und Grenzen figürlicher Mimesis im 10. Jahrhundert. In: Bruno Klein u.a. (Hrsg.), Nobilis arte manus. Festschrift zum 70. Geburtstag von Antje Middeldorf Kosegarten. Dresden/Kassel 2002, S. 43-60.
Reudenbach, Bruno (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 1: Karolingische und Ottonische Kunst. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, S. 504-506 und 515;
Wesenberg, Rudolf: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung. Verlag L. Schwann, Düsseldorf 1972, S. 11-15.
Sehr empfehlenswert ist auch der ausgezeichnete Wikipedia-Artikel zum Gerokreuz: https://de.wikipedia.org/wiki/Gerokreuz.

(zuletzt bearbeitet am 8. Juli 2023)

Montag, 13. Juni 2016

Das Porträt eines Ärmels – Raffaels Bildnis der „Donna Velata“


Raffael: Donna Velata (um 1514/15); Florenz, Palazzo Pitti
(für die Großansicht einfach anklicken)
Raffaels berühmtes Bildnis der Donna Velata, um 1514/15 entstanden, verdankt seinen Namen dem langen, eleganten Schleier der dargestellten Dame (ital. velato = verschleiert). Die in Dreiviertelansicht präsentierte Halbfigur ist in ein kostbares Gewand aus silbergrauer Seide gekleidet; darunter trägt sie eine hellere, sorgfältig plissierte Bluse aus leichtem Leinen, die sich um den Ausschnitt herum kräuselt. Der Schwung des nah an den Betrachter herangerückten linken Ärmels ist geradezu dramatisch gestaltet und zieht sogleich alle Aufmerksamkeit auf sich. Die luxuriöse Stofffülle betört nicht nur durch ihre warmen Farbtöne, sondern auch durch die Pracht, mit der sie sich bauscht und fältelt. Raffael inszeniert Kleidung hier so glanzvoll, dass man auch vom „Porträt eines Ärmels“ gesprochen hat.
Ebenso wie die dezenten Falten des elfenbeinfarbenen Schleiers bilden die ebenmäßigen Gesichtszüge der Porträtierten einen deutlichen Kontrast zu dem opulent wogenden Puffärmel. Die Dame trägt außerdem ein goldenes Armband mit eingefassten Edelsteinen und eine Halskette, offenbar aus Bernstein oder Karneol. Beide Schmuckstücke erinnern an antik-römisches Geschmeide. Ihr Haarschmuck, je ein viereckig geschliffener Rubin und Saphir mit einem Perlenanhänger, wirkt eher zeitgenössisch. Ob der Schleier darauf verweist, dass es sich bei der Dargestellten, der damaligen Kleiderordnung zufolge, um eine verheiratete Frau und Mutter handelt, ist umstritten.
Während die linke Hand der jungen Frau von den Bildrändern angeschnitten wird, ruht ihre Rechte, teilweise vom Schleier verdeckt, auf der Brust. Dabei schiebt sich ihr Zeigefinger in den Ausschnitt der Bluse, als deute er auf das Herz oder halte das Kleid zusammen, das leicht verrutscht zu sein scheint. Konrad Oberhuber interpretiert die Geste der rechten Hand als die „einer Braut, einer Verlobten oder einer treuen Ehegattin“ (Oberhuber 1999, S. 199). In deutlichem Gegensatz dazu sieht Antonio Forcellini in dem Bildnis „nichts anderes als die Projektion männlicher Phantasien: der Schleier, der vom Kopf rutscht, der Ärmel, der die Schulter herabgleitet, das an der Brust aufgeknöpfte Kleid (...) Raffael entführt den Betrachter in das Schlafzimmer einer Frau, die im Begriff ist, sich auszuziehen“ (Forcellino 2008, S. 228). So wundert es auch nicht, dass er den prominent dargebotenen linken Ärmel als „Sinnbild der Weiblichkeit“ bzw. unmissverständlich erotisch deutet: „Die tiefen, gebauschten Falten folgen dicht aufeinander und lassen einen hellen Schimmer erkennen, sodass Hohlräume entstehen, die insbesondere mit der breiten, goldumsäumten Öffnung an die Vulva gemahnen“ (Forcellino 2006, S. 226).
Leonardo da Vinci: Mona Lisa (1503-1506); Paris, Louvre
(für die Großansicht einfach anklicken)
Die Haltung der Donna Velata greift auf Leonardo da Vincis berühmte Mona Lisa zurück (siehe meinen Post „La Gioconda“), verzichtet aber dem Vorbild gegenüber darauf, den die Figur umgebenden Raum genauer zu beschreiben. Es ist vermutet worden, dass es sich bei der Donna Velata um das gleiche Modell handelt wie bei Raffaels ebenfalls berühmtem Porträt La Fornarina (siehe meinen Post „Raffaels schöne Bäckerstochter“), das um 1518/19 entstanden sein dürfte. Die beiden Frauen sind in beinahe identischer Pose dargestellt, beide tragen die gleiche Frisur und ähnlichen Haarschmuck an exakt derselben Stelle. In der Gegenüberstellung wirken sie insgesamt wie „polarisierende Pendantstücke“ (Beyer 2002, S. 144): die eine extravagant verhüllt, die andere ihre sinnliche Nacktheit darbietend. Während die Donna Velata ihren linken Ärmel wie eine Barriere vor den Betrachter schiebt, hat La Fornarina ihre linke Hand mit gespreizten Fingern lasziv in den Schoß gelegt. „Scheint jene mit der rechten Hand ihr Gewand zu schließen, hebt diese damit die nackte Brust leicht an und präsentiert sie dem Betrachter“ (Beyer 2002, S. 144).
Raffael: La Fornarina (um 1518/20); Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
Die Donna Velata weist darüber hinaus auch große Ähnlichkeit auf mit der Sixtinischen Madonna, der Madonna della Sedia, der Madonna Aldobrandini sowie einer Sibylle in Santa Maria della Pace (Rom). Handelt es sich in allen Fällen um das gleiche Modell, eine Geliebte Raffaels, wie der Künstlerbiograf Giorgio Vasari behauptet? Oder sind diese Frauen nichts anderes als Variationen von Raffaels
Raffael: Sixtinische Madonna (1512/13); Dresden, Gemäldegalerie
(für die Großansicht einfach anklicken)
weiblichem Schönheitsideal? Wie zu erwarten, gehen die Meinungen der Kunsthistoriker hier auseinander. Antonio Forcellino jedenfalls meint, aufgrund der so unterschiedlichen linken Ohrläppchen ausschließen zu können, dass es sich bei der Donna Velata und La Fornarina um das gleiche Modell handelt ... Mit größerer 

Raffael: Porträt des Baldassare Castiglione (1514/1515); Paris, Louvre
(für die Großansicht einfach anklicken)
Sicherheit lässt sich immerhin sagen, dass die reduzierte Farbpalette die Donna Velata zeitlich in die Nähe von Raffaels Porträt des Baldassare Castiglione rückt, das um 1514/15 datiert wird.

Literaturhinweise
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002, S. 144;
Forcellino, Antonio: Raffael. Biographie. Siedler Verlag, München 2008, S. 224-229;
Oberhuber, Konrad: Raffael. Das malerische Werk. Prestel Verlag, München/London/New York 1999, S. 199;
Plazzotta, Carol: Donna Velata. In: Hugo Chapman u.a. (Hrsg.): Raffael. Von Urbino nach Rom. Belser Verlag, Stuttgart 2004, S. 278;
Talvacchia, Bette: Raffael. Phaidon Verlag, Berlin 2007, S. 122/128.

(zuletzt bearbeitet am 10. November 2024)

Donnerstag, 9. Juni 2016

Serielle Stille – der französische Barockmaler Georges de La Tour


Georges de La Tour: Drehorgelspieler mit einer Fliege (um 1620/25); Nantes, Musée des Beaux-Arts
Georges de La Tour war zu seinen Lebzeiten, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als Künstler überaus erfolgreich. Er durfte sich „Maler in Diensten des Königs“ Ludwig XIII. nennen; seine Gemälde hingen in vielen europäischen Privatsammlungen. Als er 1652 sehr vermögend starb, war er ein Malerfürst – dann wurde er vergessen, für über 250 Jahre. Seine Wiederentdeckung begann 1915, als Hermann Voss drei Gemälde von ihm identifizierte. Der Künstler La Tour war zwar lange Zeit völlig aus dem Blick geraten – seine Gemälde jedoch keineswegs. Sie wurden nur unter anderen Namen geführt und mal der niederländischen, mal der italienischen, vor allem aber der spanischen Malerei zugeschrieben. Der Drehorgelspieler mit einer Fliege aus dem Musée des Beaux-Arts in Nantes begann seine Museumskarriere als Murillo, wechselte zu Velázquez, Ribera, Herrera el Viejo, Juan Bautista Maíno und Juan Rizzi, bevor man ihn definitiv La Tour zuerkannte.
1593 als Sohn eines wohlhabenden Bäckers in dem zum Bistum Metz gehörenden Ort Vic-sur-Seille geboren, ließ sich La Tour mit 27 Jahren in Lunéville nieder, wo er, anders als in der Residenzstadt Nancy, keine örtliche Konkurrenz zu fürchten hatte. 1638, als Lunéville in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges niedergebrannt und ausgeplündert wurde, entschloss er sich, zumindest zeitweise in Paris zu leben, während seine Familie in Nancy untergebracht war. La Tour bekam ein Zimmer im Louvre und wurde zu einem der favorisierten Maler des Hofes. Aber schon 1643 hatte er seinen Wohnsitz wieder in Lunéville – wo er bis zu seinem Tod blieb.
Zu La Tours Ausbildung ist kein einziges Dokument vorhanden. So streitet man sich noch immer, ob er wie die meisten seiner Zeitgenossen in Italien war und dort mit Caravaggios Nachfolgern, etwa Orazio Gentileschi, in Kontakt kam – oder ob er den Caravaggismus, dem sein Werk ohne Zweifel verpflichtet ist, über die Niederländer Gerrit van Honthorst und Hendrik ter Brugghen kennenlernte und möglicherweise selbst in den Niederlanden war.
Das uns heute bekannte Œuvre La Tours umfasst 80 Gemälde, einschließlich derer, die nur durch Kopien oder Dokumente überliefert sind. Die meisten Motive, die sie zeigen, kommen zwei-, drei-, viermal oder noch öfter vor – La Tour war der erste seriell arbeitende Maler der Neuzeit. Den blinden Drehorgelspieler malte er im Stehen, frontal mit halbgeöffnetem Mund und seitlich geneigtem Kahlkopf, einen angeleinten Hund zu seinen Füßen; dann zeigt er ihn noch einmal im Profil, sitzend, mit gekreuzten Beinen, am vorderen Bildrand die abgewetzte Lederhülle seines Instruments; und schließlich ein drittes Mal, jetzt in Dreiviertelansicht, laut singend, das Gesicht zu einer Grimasse des Elends verzogen.
Georges de La Tour: Büßende Magdalena (um 1640); Paris, Louvre
Georges de La Tour: Büßende Magdalena (um 1640);
New York, Metropolitan Museum of Art
Ganz ähnlich verhält es sich mit der büßenden Magdalena, von der mindestens fünf Varianten und etliche Kopien erhalten sind: Sie zeigen, mit einer Ausnahme, immer die gleiche Frau, vielleicht eine von seinen älteren Töchtern, in verschiedenen Stadien der Askese – mit entblößter oder bedeckter Brust, im Seiden- oder Leinenrock, mit oder ohne Spiegel, mit offen brennender oder verdeckter Kerze, mit wechselnden Requisiten und Schattenspielen. Keiner von La Tours Figuren nimmt Blickkontakt mit dem Betrachter auf. „Die einen sind blind, die anderen schielen sich angestrengt durch ihre Betrügereien, die Dritten sind in Meditation versunken“ (Kesser 2016). Die Außenwelt bleibt bei La Tour ausgespart, die Szenen spielen stets in verschatteten, geschlossenen Räumen.
Georges de La Tour: Hieronymus liest einen Brief (1629); Madrid, Prado
La Tours Nähe zur zeitgenössischen spanischen Malerei ist unverkennbar, zumindest in der ersten Werkphase. Es sind nicht nur die ähnlichen Gestalten, die an Ribera, Velázquez oder Zurbarán erinnern, sondern auch die Art ihrer Präsentation und ihre zurückhaltende Farbigkeit: Meist sind sie in unbestimmten dunklen, nahezu monochromen Räumen isoliert.
Georges de La Tour: Das Neugeborene (um 1648); Rennes, Musée des Beaux-Arts
Georges de La Tour: Anbetung der Hirten (um 1645); Paris, Louvre
Zuletzt hat La Tour nur noch Nachstücke mit flackernden Fackeln und Kerzen gemalt, die Figuren und Gegenstände geradezu magisch beleuchten und die Umgebung im Dunkeln versinken lassen – rätselhafte Helldunkelbilder ohne jedes anekdotische Beiwerk. Sie strahlen eine Stille und Intimität aus, deren Intensität in der Kunst des Barock einzigartig ist.

Literaturhinweise
Kesser, Christiane: Tag- und Nachtstücke. In: „Neue Zürcher Zeitung“ vom 14. April 2016 (http://www.nzz.ch/feuilleton/kunst_architektur/georges-de-la-tour-im-prado-madrid-tag-und-nachtstuecke-ld.13571#kommentare; zuletzt aufgerufen am 3. Dezember 2018);
Thuillier, Jacques: Georges de La Tour. Editions Flammarion, Paris und München 2003.

(zuletzt bearbeitet am 13. Juli 2020)

Dienstag, 7. Juni 2016

Dramatischer Stoff – Raffael entwirft Wandteppiche für die Sixtinische Kapelle


Raffael: Der wunderbare Fischzug (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Der wunderbare Fischzug (1517-1519); Rom, Vatikanische Museen
Als Kardinal Giovanni de’Medici am 11. März 1513 als Nachfolger von Julius II. zum Papst gewählt wurde und den Namen Leo X. annahm, verfügte die Sixtinische Kapelle bereits über einen reichen Bildschmuck. 1477 hatte Sixtus IV. die päpstliche Palastkapelle grundlegend erneuern lassen; 1481 war der Neubau vollendet und erhielt von ihm seinen Namen. Mit einer Höhe von 19 Metern und einem Grundriss von 40 x 23 Metern war der Raum von Anfang an für eine großzügige Ausstattung konzipiert. Zunächst wurde die Fensterzone mit Darstellungen der frühen Päpste ausgemalt. Es folgte darunter der ehemals umlaufende, später von Michelanglos Jüngstem Gericht unterbrochene Freskenzyklus mit Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament (1480/81 entstanden). Den vorerst krönenden Abschluss erhielt die Sixtina mit der Deckenbemalung, die Michelangelo im Auftrag von Julius II. in den Jahren 1508 bis 1512 ausführte.
1515 schließlich verpflichtete Leo X. seinen Hofkünstler Raffael (1483–1520), großformatige Entwurfszeichnungen für die Wandteppiche der Sixtinischen Kapelle anzufertigen. Diese Tapisserien sollten unter den umlaufenden Wandfresken aufgehängt werden. Wann genau Raffael mit der Arbeit an den Teppichkartons für die Sixtina begann, lässt sich nicht genau bestimmen. Am 15. Juni 1515 erhielt er eine Vorauszahlung von 300 Dukaten, die letzte nachweisbare Zahlung von 134 Dukaten erfolgte im Dezember 1516. Leo X. ordnete an, dass die Wollteppiche, die nur zu besonderen Anlässen angebracht werden durften, von Seiden-, Silber- und Goldfäden durchwirkt sein sollten. Für die Ausführung der Webarbeiten kamen nur flämische Werkstätten in Frage, da man in Italien in jener Zeit diese komplizierte Technik nicht beherrschte.
Die Gobelins forderten Raffaels ganzen Künstlerstolz heraus, da sie dem direkten Vergleich mit der überwältigenden Wirkung von Michelangelos Decke und dem prächtigen Freskenzyklus aus dem 15. Jahrhundert in den oberen Wandbereichen ausgesetzt waren. Er bereitete die in Gouachemalerei angefertigten Vorlagen in zahllosen Zeichnungen vor. Diese Vorlagen wiederum bestanden aus je ca. 200 dicken, aneinander geklebten Papierblättern, die ihrer Aufgabe gemäß seitenverkehrt angelegt, wurden. Sie mussten die Originalgröße der späteren Teppiche haben und den spezialisierten Webern im fernen Brüssel alle Details sowie die genaue Farbverteilung vermitteln. Die Farbauswahl in den fertigen Teppichen weicht jedoch deutlich von der in den Kartons ab. Einige Unterschiede sind auf das Verblassen oder die Zersetzung der Färbemittel und Pigmente zurückzuführen. Vor allem aber waren Raffaels nuancierte Farben mit ihren feinen Variationen auf Tapisserien nicht reproduzierbar, für die üblicherweise gesättigtere Primärfarben verwendet wurden. Die flämischen Handwerker an ihren Webstühlen „waren es nicht gewöhnt, so präzise und schwer umzusetzende Farbanweisungen wie die Raffaels zu erhalten. Da sie gewöhnlich sich selbst überlassen wurden, folgten die Weber trotz nachdrücklicher Forderungen des Künstlers ihrer üblichen Praxis. Dennoch gelang es ihnen bemerkenswert gut, seine schwierigen Kompositionen umzusetzen“ (Talvacchia 2007, S. 154).
Im Dezember 1519 waren dann erstmals sieben der Teppiche in der Sixtinischen Kapelle öffentlich ausgestellt; drei weitere wurden nachgeliefert. Da die Sixtina an den Schmal- und Längsseiten zusammen sechzehn Wandfelder aufweist, ist wohl ursprünglich für den gesamten Kapellenraum ein sechzehnteiliger Tapisseriebehang vorgesehen gewesen. Das Projekt dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit angesichts der exorbitanten Schulden, die Leo X. in den neun Jahren seines Pontifikats angehäuft hatte, und aufgrund seines Todes am 21. Dezember 1521 nach zehn Teppichen abgebrochen worden sein. Mit den ausgeführten Stücken ließ sich immerhin das Presbyterium der Sixtina innerhalb der Chorschranke ausstatten. 
Allerdings erwies sich die päpstliche Finanzlage als so desaströs, dass sieben der Tapisserien (neben anderen Pretiosen) zunächst verpfändet werden mussten, um die Beerdigung und das neue Konklave finanzieren zu können. Zwar löste der neu gewählte Papst Hadrian VI. die Stücke sofort wieder aus, aber während der Plünderung Roms 1527 („Sacco di Roma“) durch die kaiserlichen Truppen wurden wiederum drei Teppiche gestohlen, die erst zwischen 1544 und 1554 in den Vatikan zurückgelangten. Der Napoleonische Beutezug durch Italien entführte die Tapisserien erneut, der Vatikan konnte sie erst zehn Jahre später zurückkaufen. Heute befinden sie sich in der Vatikanischen Pinakothek. 
Von den Originalkartons für die Teppiche sind noch sieben erhalten – sie wurden offenbar unverzüglich als abgeschlossene autonome Arbeiten angesehen und dienten darüber hinaus als Grundlage für weitere Ausführungen der Gobelinfolge. 1623 wurden Raffaels Vorlagen in Genua für den Prinzen von Wales, den späteren König Karl I., gekauft. Seit 1865 sind sie im Londoner Victoria & Albert Museum ausgestellt, gehören aber nach wie vor dem englischen Königshaus.
Raffael: Die Heilung des Lahmen im Tempel (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Der Tod des Hananias (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Die Bekehrung des Prokonsuls (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Das Opfer in Lystra (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Die Predigt des Paulus auf dem Aeropag (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael hat auf seinen Kartons vier Szenen aus dem Leben des Petrus dargestellt: der wunderbare Fischzug (Lukas 5,1-10); Christi Schlüsselübergabe an Petrus (Matthäus 16,18-19 und Johannes 21,17-17); die Heilung des Lahmen im Tempel (Apostelgeschichte 3,1-8) und der Tod des Hananias (Apostelgeschichte 5,1-5). Dann folgen noch sechs Darstellungen aus dem Leben des Paulus, beginnend mit der Steinigung des Stephanus (Apostelgeschichte 7,54-60), die der junge Saulus als Beobachter verfolgt. Aus diesem Saulus wird dann auf dem Weg nach Damaskus Paulus – verursacht durch ein blendend helles Licht, einen Sturz von seinem Pferd und die Stimme Christi (Apostelgeschichte 9,1-7). Es schließen sich an: die Bekehrung des Prokonsuls (Apostelgeschichte 13,6-12); das Opfer in Lystra (Apostelgeschichte 14,8-18); Paulus im Gefängnis (Apostelgeschichte 16, 23-26) und die Predigt auf dem Aeropag (Apostelgeschichte 17,16-34).
Ausschnitt aus Filaretes Bronzetür in St. Peter (1445 fertiggestellt)
Alle Teppiche weisen als unteren Abschluss einen fiktiven Bronzefries auf, „wobei diese Anordnung von großem Ereignisfeld und schmalen Fries möglicherweise von Filaretes 70 Jahre älterer Bronzetür für das Hauptportal von Alt-St. Peter angeregt wurde“ (Pfisterer 2003, S. 84). Die angefügten Friese zeigen jeweils fünf Episoden aus dem Leben des Paulus bzw. des Auftraggebers Leo X.: So schildert der Fries, der zu dem Teppich mit der Schlüsselübergabe an Petrus gehört, die Plünderung des Florentiner Medici-Palastes bei der Vertreibung der Familie im Jahr 1494, und ganz rechts ist die Flucht des damals noch jungen Giovanni de’Medici dargestellt.
So siehts in der Sixtina aus, wenn die Teppiche an der Wand hängen
Zwei der Kartons seien hier beispielhaft kurz besprochen: Die Hauptszene des Wunderbaren Fischzug zeigt den Moment, in dem Petrus Jesus als Sohn Gottes erkennt. Christus sitzt segnend im Kahn des Petrus. Sein ehemals rotes Gewand spiegelt sich noch heute in dieser Farbe im Wasser. Auch auf dem Teppich erscheint das Gewand rot, es wurde jedoch zu einem späteren Zeitpunkt weiß übermalt, warum auch immer. Hinter Petrus breitet sein Bruder Andreas beim Anblick des Erlösers ergriffen die Arme aus. Im zweiten Boot sitzt Zebedäus mit seinen Söhnen Philippus und Jakobus, die damit beschäftigt sind, die gefüllten Netze aus dem Wasser zu ziehen. Im Hintergrund ist am Ufer, wo Jesus zuletzt gepredigt hatte, das Volk zu sehen. Im Mauerzug mit den Rundtürmen erkennt man den westlichen Trakt der Leoninischen Mauer, die sich über den Vatikanischen Hügel erhebt. Raffael gibt damit eine Ansicht der Stadt Rom zu seiner Zeit wieder, die auch die weiteren im Dunst verschwimmenden Gebäude einschließt. „Die Heilige Stadt als Sitz des Papstes wird so in unmittelbaren Zusammenhang mit dem biblischen Geschehen im Heiligen Land gesetzt“ (zur Capellen 2010, S. 81)
Raffael: Schlüsselübergabe an Petrus (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Schlüsselübergabe an Petrus (1517-1519, Wandteppich); Rom, Vatikanische Museen
Inhaltlich folgt dem Wunderbaren Fischzug die Schlüsselübergabe an Petrus (Matthäus 16,13-19). Die Szene gehört zu den Erscheinungen Christi nach seiner Auferstehung, und dementsprechend wird Jesus in einem weißen, im Teppich zudem mit goldenen Sternen geschmückten Gewand dargestellt. Christus gibt Simon hier den Namen Petrus, von lat. petra, der Fels. Auf dem Teppich weist er mit der Linken auf die weidenden Schafe, mit der rechten auf Petrus. Sein Körper ist größer und schlanker als die der Apostel; „sein den Oberkörper und die Unterschenkel unverhüllt lassendes Gewand windet sich spiralförmig um ihn herum und betont so seine hohe Gestalt sowie die Dynamik seiner Bewegung“ (Oberhuber 1999, S. 163).
Die „Schlüsselübergabe“ an Petrus ist bis heute das für das Selbstverständnis der Päpste zentrale Ereignis im Neuen Testament. Raffael konzentriert seine Darstellung auf die beiden Hauptpersonen Christus und Petrus, der auf die Knie gesunken ist. Johannes, mit leuchtend rotem Mantel über grünem Untergewand rechts hinter Petrus, löst sich mit kraftvollem Schritt von der Gruppe der übrigen Jünger. Die wirkt zunächst wie ein geschlossener Block, doch bei genauerem Blick zeigt sich, dass alle Figuren in ihren Gesten, Kopfbewegungen und Blicken auf das eigentliche Geschehen bezogen sind. „Raffael wird hier Anregungen Leonardos gefolgt sein, welcher die sich in Gebärden und Mimik äußernde innere Beteiligung mehrer Personen an einem dramatischen Ereignis in seinem berühmten Abendmahl beispielhaft entwickelt hatte“ (zur Capellen 2010, S. 82).
Bei der Heilung des Lahmen im Tempel und dem Tod des Hananias greift Raffael auf Masaccios Fresken in der Florentiner Branacci-Kapelle zurück (1425-1427), die ebenfalls das Leben Petri zum Thema haben. Raffael hat sich offensichtlich „vom geballten Auftreten der Figuren und ihrer beredten Gestik“ (Talvaccio 2007, S. 155) inspirieren lassen. Vor allem Petrus selbst entspricht demselben Typus mit seinem kompakten Körperbau, kurzem, ergrauten Bart und Haar bis hin zur präzisen Übernahme des blauen Gewandes unter einem voluminösen goldenen Umhang.
Masaccio: Der Zinsgroschen (1425-1427); Florenz, Santa Maria del Carmine/Brancacci-Kapelle
Literaturhinweise
Meyer zur Capellen, Jürg: Raffael. Verlag C.H. Beck, München 2010, S. 79-83;
Oberhuber, Konrad: Raffael. Das malerische Werk. Prestel Verlag, München/London/New York 1999, S. 158-167;
Pfisterer, Ulrich: Die Sixtinsiche Kapelle. Verlag C.H. Beck, München 2013;
Pfisterer, Ulrich: Raffael. Glaube · Liebe · Ruhm. Verlag C.H. Beck, München 2019, S. 238-246;
Pon, Lisa: Raphael’s Acts of the Apostles Tapestries für Leo X: Sight, Sound, and Space in the Sistine Chapel. In: The Art Bulletin 97 (2015), S. 388-408;
Shearman, John: Only Connect … Art and the Spectator in the Italian Renaissance. Princeton University Press, Princeton 1992, S. 202-207; 
Talvacchia, Bette: Raffael. Phaidon Verlag, Berlin 2007, S. 150-155.

(zuletzt bearbeitet am 9. September 2022)