Dienstag, 19. Februar 2019

Entrückt und unantastbar – Wilhelm Lehmbrucks „Große Sinnende“


Wilhelm Lehmbruck: Große Sinnende (1913/14, Gips); Stuttgart, Staatsgalerie
Die Große Sinnende, 1913/14 gestaltet, ist die letzte ganzfigurige Frauendarstellung im Werk von Wilhelm Lehmbruck (1881–1919). Danach beschäftigte sich der Bildhauer nur noch mit Fragmenten weiblicher Körper, während Männer- und Jünglingsdarstellungen ganzfigurig blieben.
Die überlebensgroße, schlanke weibliche Aktfigur steht aufrecht auf einem flachen Sockel. Über den eng nebeneinander gestellten Füßen erheben sich die deutlich überlängten Beine: ein linkes Standbein und ein rechtes, sich nur auf die Zehen stützendes und etwas vorragendes Spielbein. Der rechte Arm mit der entspannt geöffneten Hand hängt locker neben dem Körper herab und ist nach hinten gedreht. Ihren linken Arm hat die Figur rechtwinklig gebeugt: Während die Oberarme bis zum Ellbogen parallel verlaufen, wird der linke anders als der rechte Unterarm quer über den Rücken geführt; die Hand umfasst von hinten den anderen Arm, sodass in der Vorderansicht die Finger der linken Hand in der Armbeuge sichtbar werden.
Auf dem langen Hals mit den breiten Schultern sitzt der nach rechts geneigte kleine Kopf. Die Augen sind geöffnet, der Blick scheint träumerisch ins Unbestimmte zu schweifen bzw. nach innen gerichtet zu sein. „Der Vertikalzug der Figur resultiert nicht allein aus der Länge ihrer Einzelglieder, der Zehen, Beine, Arme und Finger, er wird auch vom Kontrapost, der damit einhergehenden leicht angedeuteten Körperdrehung und der senkrechten Linie des herabhängenden Armes unterstützt“ (Ende 2015, S. 194). Der gesenkte Kopf und die Horizontale des angewinkelten Armes unterbrechen die dominierende, ruhig aufsteigende Achse; ebenso beleben der Kontrapost und die den Rumpf einrahmende Armhaltung die symmetrisch-strenge Konstruktion der Skulptur.
In der Rückenansicht bilden Arme, Schulterlinie und Taille beinahe ein Quadrat, dessen Seitenlängen von den Abmessungen der Sockelbreite vorgegeben werden. Trotz der strengen Komposition offenbart die Rückenansicht der Statue eine dezente Bewegung: Aus der Fuß- und Beinstellung ergibt sich die Andeutung einer in die Länge gezogenen S-Linie. „Das etwas nach vorn zeigende Spielbein schneidet den Umriss des Standbeins unten an, so dass die Unterschenkel als geschlossene Form erscheinen“ (Ende 2015, S. 195). Der aufgestellte rechte Fuß, das entsprechend herausstehende Knie, der nach unten weisende Zeigefinger der rechten Hand, der Klammergriff der linken und der gebeugte Kopf betonen die rechte Seite der Gestalt. Zwischen den Beinen ergibt sich ein schmaler länglicher Freiraum, zwischen Hüfte und gestrecktem rechten Arm und der Hand am Ellbogen ein schmaler Spalt.
Während der Körper der Großen Sinnenden von vorn und hinten hoch aufgeschossen und überschlank wirkt, erscheint die Figur im Profil keineswegs hager: Die schweren Formen der Unterschenkel und Knie, das Gesäß, der rundliche Bauch und das starke Schultergelenk verleihen ihr eine in der Frontalansicht nicht ersichtliche, kräftige Plastizität. Die Taille ist als Trennlinie gebildet zwischen dem beinahe kugeligen Becken und dem unvermittelt darauf gesetzten kegelförmigen Rumpf. Dieser ist mit als Halbkugeln gestalteten Brüsten versehen. „Aus diesen geometrischen ,Bauteilen‘ konstruiert Lehmbruck einen hohen, gerüsthaft strengen ,Körperturm‘, der dennoch organisch gewachsen und lebendig erscheint“ (Ende 2015, S. 195). Lehmbruck verzichtet bei seiner Großen Sinnenden darauf, den nackten Körper vordergründig „sinnlich“ zu gestalten, wie es für die Mehrzahl der weiblichen Aktplastiken dieser Zeit charakteristisch ist.
Lehmbruck hat seiner weiblichen Figur kein individuelles Antlitz verliehen, sondern vielmehr den Typus einer melancholisch-nachdenklichen, in sich gekehrten Frau geschaffen. Die hohe Stirn, die weit auseinander stehenden Augen und die Neigung des im Verhältnis zum Körper viel zu kleinen Kopfes verstärken den Eindruck einer von der Welt entrückten, unzugänglichen, in sich verschlossenen Figur: Sie nimmt weder Blickkontakt zum Betrachter auf noch fixiert sie einen bestimmten Punkt. Da Lehmbruck auf alles Anekdotische verzichtet hat, entzieht sich seine Große Sinnende einer eindeutigen Interpretation: Wir haben eine säulenhaft aufragende, unantastbar wirkende, völlig in sich versunkene Gestalt vor uns, „die in einer eigenen Maß- und Vorstellungswelt beheimatet zu sein scheint“ (Ende 2015, S. 204).

Literaturhinweise
Berger, Ursel: Lehmbrucks Stehende weibliche Figur und verwandte Frauendarstellungen seiner Pariser Werkphase. In: In: Martina Rudloff/Dietrich Schubert, Wilhelm Lehmbruck. Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2000, S. 49-69;
Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck. Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015.

(zuletzt bearbeitet am 13. März 2021) 

Samstag, 9. Februar 2019

Verhaltenes Staunen – Antonello da Messina und seine Marien der Verkündigung


Antonella da Messina: Maria der Verkündigung (um 1475);
Palermo, Museo Nazionale (für die Großansicht einfach anklicken)
Am Beginn des christlichen Heilsgeschehens, von dem die Evangelien des Neuen Testaments berichten, steht die „Verkündigung“: Der Erzengel Gabriel wird von Gott zu der Jungfrau Maria nach Nazareth gesandt, um ihr anzukündigen, dass sie den Sohn Gottes und Erlöser der Welt gebären wird (Lukas 1,26-38). In der Malerei des 15. Jahrhunderts ist dieses Ereignis ein oft gewähltes Thema. Unter all diesen vertrauten Verkündigungsszenen ragen zwei Darstellungen von Antonello da Messina (1430–1479) in besonderer Weise heraus: Sie verzichten scheinbar gänzlich auf den erzählerischen Zusammenhang und konzentrieren sich ausschließlich auf das Antlitz der Madonna. Auf beiden Bildern hinterfängt die als Halbfigur präsentierte Gestalt ein undurchdringliches Schwarz. Von einem blauen Umhang umhüllt, ist Maria dem Betrachter zugewandt, doch meidet sie scheu den Blickkontakt mit ihm.
Auf dem Gemälde im Museo Nazionale von Palermo (um 1475 entstanden) wird Maria bei der Lektüre des Jesaja-Textes gezeigt, der die Jungfrauengeburt des Erlösers verheißt (Jesaja 7,14). Maria wirkt verschlossen und in sich gekehrt, umfangen von ihrem zelthaft-festen Mantel, den sie mit ihrer Linken vor der Brust zusammenhält. Ihr Gesichtsausdruck ist unbewegt und spiegelt dennoch innere Bewegung; „ihre Lippen umspielt gefaßter Ernst und doch kaum merklich auch ein Lächeln“ (Krüger 2001, S. 97). Im Nachsinnen über das Gelesene scheint sie ihr Geschick zu erfassen, ohne dass es der Gegenwart eines Engels bedarf. Antonello macht ihre Erleuchtung durch den Lichtschein sichtbar, der ihr Gesicht erhellt. Die leicht erhobene, verkürzt wiedergegebene Rechte deutet nicht nur das Erschrecken der auserwählten Jungfrau an – sie lässt sich auch als Bescheidenheitsgeste verstehen, mit der Maria die ihr zugedachte Bestimmung von sich weist. Zugleich kann die Hand, die sich dem Betrachter entgegenstreckt, auch als Segensgeste gesehen werden.
Klaus Krüger geht bei seiner Deutung des Gemäldes allerdings davon aus, dass der Engel sehr wohl anwesend ist – aber eben außerhalb des Bildes. Der Maler setze das Sprechen Gabriels in Szene, ohne es zu zeigen. Antonellos Darstellung artikuliere die eigentlich nur akustisch wahrnehmbaren Worte der Verkündigung einzig mit den Mitteln der Malerei, und zwar durch ihren Niederschlag im Antlitz Mariens. Damit bilde er künstlerisch das theologische Mysterium der Fleischwerdung des Wortes nach.
Die Jungfräulichkeit Mariens wird durch den Mantel verbildlicht, der ihr Haupt schleierähnlich bedeckt; verstärkt wird dieses Motiv noch durch die linke Hand, die wie eine Agraffe den Umhang vor ihrer Brust schließt. Das Lesepult ist so nahe an die Betrachtenden herangerückt, dass es wie eine Schranke zwischen uns und der Jungfrau erscheint. Unsere Rolle ist es, Zeugen dieses heilsgeschichtlichen Moments zu sein.
Antonella da Messina: Maria der Verkündigung (um 1473/74);
München, Alte Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken)
Antonellos zweites Marien-Bildnis ist etwas früher entstanden (um 1473/74) und befindet sich heute in der Alten Pinakothek in München. Auch hier fehlt der Engel. Mit leicht geöffnetem Mund sieht Maria nach rechts, wohl dorthin, wo ihr der Engel erschienen ist; aber ihr Blick geht nach innen, sprachlos staunend. Ob sie die Tragweite der Engelsbotschaft erfasst und wie sie darauf reagiert, lässt sich nur an der Gestik und ihrem Blick ablesen.
Zwischen Maria und die Betrachtenden hat Antonello an der unteren Bildkante ebenfalls quasi als Schranke eine Brüstung gesetzt. Darauf liegt aufgeschlagen ein Buch, daneben auf einem Tuch ein zweites, geschlossenes mit rotledernem Einband, das vom linken Bildrand etwa zur Hälfte überschnitten wird. Für Krüger verweist das verschlossenen Exemplar ebensosehr auf die unergründlichen Ratschlüsse des Herrn wie auf die keusch empfangende Jungfrau selbst“ (Krüger 2001, S. 101). Maria ist als Halbfigur von vorne gesehen, wahrscheinlich kniet sie auf einer Gebetsbank. Sie hat den Kopf etwas geneigt und die linke Schulter minimal zurückgenommen. Demütig kreuzt sie die Hände vor der Brust, die bereits wie schützend über den gesegneten Leib gelegt sind; ihr blaues Tuch umhüllt sie „wie ein geometrisches Gebilde, ein einfaches Kegelvolumen“ (Lauts 1940, S. 19). 
Antonello da Messina: Segnender Christus (um 1465); London, National Gallery
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Die schimmernden Lichter auf den Fingern und den Fingernägeln sind in kleinen parallelen Linien ausgeführt – eine Malweise, die Antonello zuvor schon in seinem Segnenden Christus aus der National Gallery in London erprobt hatte.

Literaturhinweise
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, S. 95-102;
Lauts, Jan: Antonello da Messina. Verlag Anton Schroll, Wien 1940;
Lucco, Mauro: Antonello da Messina. Das Gesamtwerk. Belser Verlag, Stuttgart 2006, S. 254;
Pericolo, Lorenzo: The Invisible Presence: Cut-In, Close-Up, and Off-Scene in Antonello da Messina’s Annunciate. In: Representations 107 (2009), S, 1-29;
Schneider, Norbert: Venezianische Malerei der Frührenaissance. Von Jacopo del Fiore bis Carpaccio. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, S. 97-103.

(zuletzt bearbeitet am 28. Mai 2021)

Dienstag, 5. Februar 2019

Kunstvoll gestochenes Leiden – Martin Schongauers Passionszyklus (um 1475)

Martin Schongauer: Auferstehung Christi (um 1475); Kupferstich
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Martin Schongauer (um 1440–1491) hat seiner vierteiligen Kupferstich-Folge zum Marienleben (siehe meine Posts „Bis zuletzt rein und unbefleckt“ und „Malen mit dem Grabstichel“) noch einen zweiten Grafik-Zyklus folgen lassen: zwölf Blätter mit Szenen aus der Passion Christi. Diesmal beschränkte sich der Künstler auf ein schmales Hochformat, was die Zahl der dargestellten Figuren von vornherein begrenzte. Schongauer gelang dabei ein enger Zusammenhalt der Einzelszenen, da verschiedene Figuren immer wieder auftauchen, selbst untergeordnete Akteure. In fünf der zwölf Szenen erscheint etwa ein Häscher mit Turban und rüschenbesetzter Kleidung, der den gefangenen Jesus an einem Seil mit sich fortzieht; auf der Geißelung sehen wir bereits den Schergen, der die Dornenkrone flicht; Pilatus erscheint zögernd und widerwillig bei der Dornenkrönung, erhält mit der Handwaschung ein eigenes Blatt und spielt in der Schaustellung Christi nochmals eine klägliche Rolle am äußersten Rand. Sogar Malchus aus der Gefangennahme begleitet das Geschehen und bildet in der Auferstehung mit seiner Laterne den Schlusspunkt der ganzen Serie. Auch Gegenstände wiederholen sich: Petrus greift im ersten Blatt an das Schwert, das er im zweiten aus der Scheide zieht; die Strohfackel aus der Gefangennahme liegt bei dem Blatt Christus vor dem Hohepriester vorne am Boden – sie betont, nun abgebrannt, die verstrichene Zeit. „Die Folge ist also entschieden so konzipiert, daß sie im Zusammenhang betrachtet werden soll, etwa wie man in einem Buch blättert“ (Kemperdick 2004, S. 54/55).
Meister der Karlsruher Passion: Kreuztragung Jesu (um 1450); Karlsruhe,
Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken)
Das Vorbild für eine solche Erzählweise bot am Oberrhein ein herausragendes Werk der vorangegangenen Künstlergeneration: die sogenannte Karlsruher Passion, geschaffen um 1450 von einem Straßburger Meister, wahrscheinlich dem Maler Hans Hirtz (siehe meinen Post „Der unvollständige Leidensweg“). Diese noch aus sieben Tafeln bestehende, ursprünglich aber umfangreichere Folge zeigt die Passionsszenen ebenfalls in einem Hochformat, dessen Höhen- und Breitenverhältnis ziemlich genau dem von Schongauers Stichen entspricht. Schongauer übernimmt von der Karlsruher Passion als Stilmittel nicht nur die Wiederholung von Figuren und Details, er drängt seine Gestalten auch ebenso zusammen wie der ältere Künstler und schildert wie dieser ausführlich die zum Teil fratzenhaften Gesichter und diversen Kostüme der Schergen.
Martin Schongauer: Christus am Ölberg (um 1475); Kupferstich
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Schongauers Erzählzyklus setzt mit dem Passionsgeschehen im engeren Sinn ein; die oft hinzugenommenen vorausgehenden Szenen des Einzugs in Jerusalem und des Abendmahls fehlen. Christus am Ölberg (Matthäus 26,36-56) zeigt im Vordergrund die drei schlafenden Jünger: Jakobus hat sich seinen Mantel über den Kopf gezogen und ihn auf die rechte Hand gestützt; Johannes ist das Haupt auf die über einem Buch gefalteten Hände gesunken; Petrus greift in unruhigem Schlummer nach seinem Schwert, was auf die herannahende Gefahr durch die am rechten Bildrand in den Garten Gethsemane eindringenden Häscher vorausdeutet.
Der betende Christus ist zwar im Mittelgrund platziert, hat aber die Proportion einer Vordergrundsfigur. Er kniet vor einem steil aufragenden Felsen, über dem ein mit langem Gewand bekleideter Engel erscheint, um den zutiefst verzagten Gottessohn zu stärken (Lukas 22,43). Die nach vorne hell beleuchtete, an den Seiten dunkle Felsformation trennt die Hauptfigur von der Gruppe der Schächer. Die mit Lanzen und Knüppeln bewaffneten Männer sind nur für den Betrachter sichtbar; angeführt werden sie von Judas, erkennbar an dem Geldbeutel, den er in der Hand hält – es ist der Lohn für den Verrat, den er begehen wird.
Martin Schongauer: Gefangennahme Christi (um 1475); Kupferstich
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Die Gefangennahme Christi zeigt nicht wie so oft den Judaskuss – der ist bereits erfolgt, denn der gefesselte Jesus wird von den Häschern nach rechts abgeführt, während sich am linken Bildrand Judas mit seinem Geldbeutel in die Gegenrichtung davonmacht. Die gefesselten Hände Christi befinden sich in der Mitte des Bildes und verdeutlichen das Thema des Blattes. Die Schergen des Hohen Rates haben Jesus an den Armen, am Gewand und am Haar gepackt und ziehen ihn an einem um den Hals gelegten Seil voran. Alle Gestalten überragend, das hell beleuchtete Gesicht frontal dem Betrachter zugewandt, ist Christus bildbestimmend auf der Mittelachse platziert.
In den Bildvordergrund gerückt hat Schongauer die Malchus-Episode (Johannes 18,10-11), die gewöhnlich als untergeordnetes Ereignis bei der Gefangennahme Jesu behandelt wird: Petrus attackiert den am Boden liegenden, barfüßigen Malchus, einen Knecht des Hohepriesters, der sich mit einem Knüppel zu wehren versucht. Es wird ihm nichts nutzen – Petrus schlägt ihm im nächsten Moment das rechte Ohr ab. Schongauer hebt die Szene so hervor, um die heftige Reaktion des Jüngers mit der stillen Demut zu kontrastieren, mit der Christus, umringt von der wütenden Häscherschar, seine Gefangennahme hinnimmt. Der Sohn Gottes bildet den einzigen Ruhepunkt des Blattes: „Es ist, als werde nur scheinbar an ihm gerissen und gezerrt, ohne daß eine tatsächliche Kraft- und Gewalteinwirkung ausgedrückt wäre“ (Brown/Dautert 1991, S. 98). Widerstandslos lässt sich Christus, der im Vorwärtsschreiten auf den Angriff des Petrus zurückblickt, von einem Schergen mit Turban in die nächste Szene führen.
Martin Schongauer: Verhör vor dem Hohepriester (um 1475); Kupferstich
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Das Verhör vor dem Hohepriester (ob es sich um Kaiphas oder Hannas handelt, lässt sich nicht wirklich entscheiden) inszeniert Schongauer in einer rundbogigen, gewölbten Vorhalle. Der oberste Tempelpriester sitzt am rechten Bildrand auf einem durch eine polygonale und eine halbrunde Stufe erhöhten, steinernen Thron mit Baldachin. Als Zeichen seines Richteramts hält er einen langen Stab in der Linken und hat die Beine übereinandergeschlagen. „Diese Pose der Autorität wirkt in der verdrehten Stellung seiner in spitzen Beinlingen steckenden Glieder auf groteske Weise verzerrt“ (Brown/Dautert 1991, S. 98). Er trägt einen kuttenartigen Mantel mit spitzer Kapuze und hält Richtstab und Handschuh in der linken Hand. Mit der Rechten auf den Gefangenen weisend, führt er die Anklage. Ein hinter ihm stehender Schriftgelehrter erwartet mit lauerndem Blick die Antwort Jesu. Doch dieser steht schweigend mit demütig gesenktem Haupt vor dem Richterstuhl. Vor ihm am linken Bildrand holt eine der Rückenfiguren zum Hieb gegen Christus aus. Es ist kein anderer als Malchus, der seine in der Gefangennahme neben ihm niedergefallene Laterne nun in der Hand hält. Obwohl sein Ohr von Jesus geheilt wurde (Lukas 22,50-51), ist er im Begriff, seinen Wohltäter zu misshandeln.
Jesus ist umringt von zornigen Gesichtern und in die Höhe ragenden Waffen; inmitten der neugierig nachdrängenden, an ihm zerrenden, erregt gestikulierenden Menge steht er still zwischen den beiden Häschern, die ihn in der Gefangennahme an den Armen gepackt haben. Trotz des gebeugten Hauptes überragt Christus die feindselige Menschenmenge. Sein helles Antlitz wird von einem stark verschatteten Pfeiler hinterfangen. „Mit diesem größten Kontrast des Bildes erreicht der Künstler, daß das Gesicht des Heilands zu leuchten scheint“ (Brown/Dautert 1991, S. 99). In der Mitte zwischen Jesus und dem Hohepriester steht der turbantragende Scherge mit den gerüschten Rocksäumen, der – nun frontal dem Betrachter zugewandt – auf den von Jesus demütig hingenommenen Angriff des Malchus blickt. Er hält Jesus noch immer am Strick, und so wird er es auch sein, der ihn zur nächsten Szene abführt. Am vorderen Bildrand links liegt die bereits erwähnte verlöschende Fackel, die im Tumult zu Boden gefallen ist.
Rogier van der Weyden: Enthauptung des Johannes, Ausschnitt aus der 3. Tafel des Johannesaltars
(um 1453/55); Berlin, Gemäldegalerie
Die Gestalt des Malchus auf diesem Blatt dürfte einer Rückenfigur Rogier van der Weydens nachgebildet sein, und zwar der des Henkers aus dem Berliner Johannesaltar (siehe meinen Post „,Siehe, ich will meinen Boten senden‘). Auch ein Folterknecht der Geißelung sowie der anführende Scherge in der Handwaschung des Pilatus orientieren sich an diesem niederländischen Figurentypus.
Martin Schongauer: Geißelung Christi (um 1475); Kupferstich
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Die Geißelung Jesu fand nach dem Matthäus- und dem Markus-Evangelium (27,26; 15,15) nach seiner Verurteilung durch den römischen Prokurator Pilatus statt und wurde von diesem verfügt. Sie war Bestandteil der verhängten Todesstrafe und leitete die Kreuzigung ein. Nur nach dem Johannes-Evangelium erfolgten Geißelung und Dornenkrönung noch während der Verhöre vor Pilatus. Schongauer folgt mit seinem Blatt dem Johannesbericht, da Christus in der Handwaschung bereits dornengekrönt vor Pilatus tritt.
Christus steht in der Bildachse vor der Geißelsäule, die als Stütze der tonnengewölbten Decke einer Halle dient. Der an Händen und Füßen an die Säule gefesselte, bis auf ein reich gefälteltes Lendentuch nackte Gottessohn wird von auffällig bekleideten Schergen umringt, die ihn mit Ruten und Geißeln attackieren. „Ihre tänzerisch wirkenden, weit ausholenden Bewegungen scheinen sich in den wild flatternden Gewändern zu wiederholen“ (Brown/Dautert 1991, S. 99). Dem Rutenschläger links, der ein Haarbüschel Christi ergriffen hat, hängt seine Jacke nach hinten herab, wobei sie auf groteske Weise zwei weitere Glieder zu bilden scheint. Der Kreis der um die Martersäule rotierenden Bewegungen wird von einem Knecht hinter Jesus geschlossen, der dessen Hände bindet. Konzentriert und beinahe lustvoll flicht der Scherge am linken Bildrand die Dornenkrone – und hat deswegen seine Geißel an der Säulenbasis abgelegt. Diese Figur dient auch als Überleitung zur nächsten Szene. Trotz der Ruten- und Geißelschläge scheint Jesus körperlich unversehrt. Auch sein Gesicht drückt nicht physischen Schmerz aus, in seinem Antlitz spiegelt sich vor allem seelisches Leid. Wiederum überragt der Sohn Gottes seine Folterknechte.
Martin Schongauer: Dornenkrönung Christi (um 1475); Kupferstich
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Die Dornenkrönung spielt sich in einer weiteren Halle des Richthauses ab. Entgegen den biblischen Berichten (Matthäus 27,27-30; Markus 15,16-19), die das Haus des Hohepriesters von dem des Statthalters trennen, macht die Architektur in Schongauers Stichen den Eindruck eines zusammenhängenden Gebäudekomplexes. Die Schergen aus der Geißelung Christi haben Jesus den „königlichen“ Spottmantel umgelegt und ihn auf eine „Thronbank“ gesetzt, die um eine schmale Stufe mit halbrundem Vorsprung erhöht ist. Die fünf Knechte, die lediglich in diesen beiden Blättern auftreten, sind gegenüber der Geißelung in lockerer Symmetrie angeordnet.
Links im Vordergrund knien die beiden Knechte, die in der Geißelung rechts zu sehen waren; ihre Gesichter sind wie dort eng zusammengefügt. Der vordere – wieder als Rückenfigur gezeigt und den anderen fast verdeckend – zieht höhnisch seinen Hut vor dem Gottessohn und drückt ihm ein Rohrzepter in die Hand. Zwei weitere Schergen, eben noch damit beschäftigt, Christi Fesseln zu straffen und die Dornenkrone zu flechten, pressen diese nun mit Stöcken auf sein Haupt und schlagen auf ihn ein. Der Halbkreis wird rechts von dem linken Rutenschläger mit der Zipfelmütze geschlossen, der Christus nun in den Halsausschnitt des Mantels greift. Vor ihm erscheint erstmals im Passionsgeschehen ein barfüßiger, mit einem Knüppel versehener Junge, der, auf den Fingern pfeifend, in die Verspottung einstimmt.
Am linken Bildrand steht Pilatus mit spitzem Hut. Schongauer lässt den römischen Statthalter nicht – wie häufig dargestellt –  der Geißelung beiwohnen, sondern der Dornenkrönung, was wiederum direkt zur nächsten Szene überleitet. Der Prokurator lauscht den Worten seines Begleiters, der ihn leicht am Arm berührt: Es ist wahrscheinlich der Bote seiner Frau, die – gewarnt durch einen Traum – Pilatus bitten lässt, Jesus freizugeben (Matthäus 27,19).
Christus selbst wird ebenso wie in der Geißelung betont als Erdulder seiner Leiden gezeigt – erkennbar an seiner niedrigen Sitzposition, den matten, traurigen Gesichtszügen und seinen kraftlosen Gliedern. Dennoch überwiegt der Eindruck von Würde und Erhabenheit des Gemarterten: Durch die klare Symmetrie der Architektur wird Jesus als Bedeutungsmittelpunkt hervorgehoben. Der Gottessohn thront in der Vertikalachse, vom gotischen Gewölbe der Halle wie von einem Baldachin überfangen. Die Kreuzrippen mit dem zentralen Schlussstein und das spitzbogige Fenster überkrönen sein Haupt. Dabei ist der Schlussstein nicht nur ein architektonisches Element, der dem Zusammenhalt des Gewölbes dient und die Vollendung des Bauwerks anzeigt, sondern kann auch als Symbol für Christus verstanden werden, der den Heilsplan Gottes mit seinem Tod und der Auferstehung zum Abschluss bringt.
Martin Schongauer: Ecce Homo (um 1475); Kupferstich
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Nur das Johannes-Evangelium (19,4-5) erwähnt die Vorführung Christi vor dem Volk, durch die Pilatus die Freilassung des geschundenen Angeklagten zu erreichen versucht. In der Ecce Homo genannten Darstellung wird Jesus von Pilatus aus dem Richthaus gebracht, in dem zuvor Geißelung und Dornenkrönung stattgefunden haben. Im Fenster hinter seinem dornengekrönten Haupt ist die Geißelsäule mit Rute und Strick sichtbar, und Christus ist noch in den Spottmantel der Dornenkrönung gehüllt. Die Szene spielt sich auf den Eingangsstufen ab; Pilatus, in der Eingangstür stehend, weist auf den Angeklagten mit den Worten: „Sehet, welch ein Mensch!“ (Johannes 19,5; LUT). Doch die Volksmenge mit den Hohepriestern und Beamten fordert lautstark dessen Kreuzigung.
Schongauer kontrastiert den äußerst gebrechlich und ausgezehrt wirkenden, Mitleid erregenden Christus mit der erbarmungslosen, aufgepeitschten Volksmenge. Wie gebunden sind die Hände Jesu vor seinem Leib übereinander gelegt, doch fehlt die Fessel. Der über der rechten Schulter zurückgeschlagene Mantel gibt den Blick frei auf die kraftlosen, ausgemergelten Beine. Hervorgehoben aus der auf die Treppe vordringenden Meute ist die helle Figur des laut schreienden Anführers, der schon den Hammer zur Kreuzigung bereithält. Unter dem Torbogen drängt die Menge nach, von der nur einige Waffen und ein emporgereckter Arm sichtbar sind.
Von der Handwaschung des Pilatus wird nur im Matthäus-Evangelium berichtet (27,24-25, allerdings vor Geißelung und Dornenkrönung). Sie steht stellvertretend für das Urteil über den Sohn Gottes: Nur Pilatus als römischer Statthalter konnte zur Zeit Jesu die Strafe der Kreuzigung verhängen. Der Urteilsspruch selbst wird im Lukas-Evangelium erwähnt (23,23). Um die denkbar schändlichste und entehrendste Bestrafung zu erreichen, verklagte der Hohe Rat der Juden Jesus als politischen Hochverräter, der angeblich den jüdischen Königsthron zu erlangen versuchte. Pilatus, der ein politisches Vergehen nicht feststellen konnte, verurteilte den Angeklagten schließlich trotz großer Zweifel an seiner Schuld, um einen Aufruhr unter den Juden zu vermeiden. Mit der Handwaschung demonstrierte der Prokurator nach altem jüdischen Brauch seine Unschuld am Tode Jesu.
Martin Schongauer: Handwaschung des Pilatus (um 1475); Kupferstich
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Es lässt sich nicht eindeutig bestimmen, ob Schongauers Handwaschung im Freien oder in einem Innenraum angesiedelt ist. Als Richterstuhl dient Pilatus ein steinerner Thron mit hoher konkaver, von zwei Putten bekrönter Lehne; er ruht auf zwei Stufen mit halbkreis- und dreieckförmigem Vorsprung. Den Kopf leicht in Christi Richtung geneigt, hat Pilatus den Blick gesenkt. Die Worte des Greises rechts neben ihm (vom Betrachter aus gesehen) scheinen ihn kaum zu erreichen; der symbolischen Handwaschung, die ein Diener links von ihm vollzieht, wendet er sich nicht wirklich zu.
Christus steht leicht gebeugt und mit ebenfalls gesenktem Blick auf der ersten Stufe des Richterstuhls; demütig nimmt er seine Verurteilung an, während Schergen noch immer an ihm zerren und hinter ihm bedrohlich ihre Waffen aufrichten. Voller Ungeduld das Ende der Zeremonie erwartend, wendet sich der als Rückenfigur gezeigte Anführer zu Pilatus um: Er hat bereits einen Rockzipfel des Gefangenen gepackt, um ihn erneut am Strick abzuführen.
Martin Schongauer: Kreuztragung Christi (um 1475); Kupferstich
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Die Kreuztragung spielt sich im Gehäuse eines Stadttores ab, dessen vorderer Bogen durch die Bildränder angeschnitten wird. Aus dem Tor tritt, fast im Laufschritt, der Christus am Strick ziehende, laut schreiende Anführer. In der Linken hält er nun schon die Nägel zur Kreuzigung bereit und gibt sich damit als Henker zu erkennen. Jesus, der nach dem Johannesbericht (19,17) sein Kreuz allein zum Richtplatz tragen musste, hat sein Kreuz geschultert. Nach den synoptischen Evangelien (Matthäus 27,32; Markus 15,21; Lukas 23,26) wurde auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte Golgatha Simon von Kyrene gezwungen, das Kreuz für Christus zu tragen. Bei Schongauer hilft Simon beim Tragen der Last. Von ihm sind lediglich Kopf und eine kreuztragende Hand neben der Hellebarde eines Gerüsteten zu sehen. Er wird zu einem Teil der nachfolgenden, in dunklen Tönen gehaltenen Menschenmenge. Die einen Speer kreuzende Hellebarde trennt sie von den vorderen Personen.
Ganzfigurig und kaum überschnitten bilden die drei Hauptpersonen, Jesus, Veronika und der voraneilende Scherge, aufgrund ihrer Helligkeit eine Reliefschicht im Vordergrund. Nur ein zuschlagender Soldat und der barfüßige Knabe mit dem Knüppel aus der Dornenkrönung gehören noch dieser vordersten Bildebene an, jedoch etwas zurückgesetzt. Christus, gebeugt unter der Last des Kreuzes in der Bildmitte schreitend, wendet sich der knienden Veronika zu. „Für einen Moment scheint die Bewegung im Bild in dem Wunder, das sich zwischen den beiden ereignet, zur Ruhe zu kommen“ (Brown/Dautert 1991, S. 103).
Der Legende nach reichte Veronika Jesus auf dem Weg nach Golgatha ein Tuch zum Abtrocknen seines Schweißes, auf dem ein Abbild seines Antlitzes („vera icon“) zurückblieb. Das Tuch zeigt jedoch nicht das dornengekrönte Haupt Christi – Schongauer stellt in seiner Kreuztragung vielmehr das leidende, demütig duldende dem überzeitlichen Angesicht Christi gegenüber. Am linken Bildrand ist die weinende Maria platziert; an ihrer Seite steht Johannes, der Lieblingsjünger Jesu. Ein aufgebrachter Kriegsknecht – wir kennen die Figur aus der Gefangennahme und dem Verhör vor dem Hohepriester – drängt sie ab, während er empört auf ihren Sohn weist. „Marias seelisches Martyrium durch ihr Miterleiden der Passion, ihre »compassio«, wird so in den Zyklus aufgenommen“ (Brown/Dautert 1991, S. 104).
Martin Schongauer: Kreuzigung Christi (um 1475); Kupferstich
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Auf die tumultartige Szene der Kreuztragung folgt die ruhige, betont symmetrische Darstellung der Kreuzigung. Frontal und mit geschlossenen Augen hängt der tote Heiland am Kreuz, das in der Bildmittelachse inmitten einer zerklüfteten Felslandschaft aufragt. Schongauer betont die Zartheit des schmalen, langgestreckten Körpers. Dem entspannten Antlitz Christi ist der Schmerz der Trauernden gegenübergestellt. Unter dem rechten Querbalken des T-Kreuzes steht Johannes mit einem Buch unter den Arm – es weist voraus auf das von ihm geschriebene Evangelium. Die Klage um den toten Erlöser wird in den Reaktionen der fünf Frauen an Christi rechter Seite vielfach variiert. Zu seinen Füßen umfasst Maria Magdalena das Kreuz, während sie ihr kummervolles Gesicht zu dem Gekreuzigten emporrichtet. Ganz links wendet sich eine in Trauer erstarrte, aufrecht stehende Figur dem Betrachter zu, der auf diese Weise aufgefordert wird, sich an der Klage um den toten Heiland zu beteiligen. Maria kniet ergriffen in anbetender Haltung unter dem Kreuz: Das Leiden ihres Sohnes ist beendet, sein Erlösungsopfer vollbracht.
Totenschädel und Kieferknochen an den Bildrändern rechts und links weisen den Ort des Geschehens als den Berg Golgatha aus. Der Schädel neben Johannes ist aber auch ein typologischer Hinweis auf Adam, den Stammvater des Menschengeschlechts, durch dessen Ursünde im Garten Eden Tod und Verdammnis in die Welt kamen. Durch seine Erlösungstat hatte Christus als neuer Adam“ (Römer 5,12-21) die Sühne für diese Ursünde auf sich genommen und die Menschheit wieder mit Gott versöhnt. Der Schädel scheint uns ebenfalls anzublicken – was wohl bedeutet, dass Christus sein Erlösungswerk auch für den auf diese Weise erneut einbezogenen Betrachter vollbracht hat.
Die helle, weiche Hügellandschaft im Hintergrund erscheint als Gegensatz zu den karstigen Felsen vorne: An einem besonnten See liegt eine ummauerte Stadt; auf dem Wasser ist, mit winzigen Strichen angedeutet, ein Schiff erkennbar.
Martin Schongauer: Grablegung Christi (um 1475); Kupferstich
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Am Abend nach der Kreuzigung, so berichten die vier Evangelien (Matthäus 27, 57-61; Markus 15,42-47; Lukas 23,50-55; Johannes 19,38-42), ging Joseph von Arimathäa zu Pilatus und bat ihn um den Leib Jesu, um ihn zu bestatten. Zusammen mit Nikodemus, der nur im Johannes-Evangelium erwähnt wird, wickelte er Christus in ein Leintuch und legte ihn in ein Felsengrab. Die synoptischen Evangelien erwähnen als Beteiligte außerdem die trauernden Frauen. Schongauer verzichtet in seinem Passionszyklus auf Darstellungen der Kreuzabnahme, der Beweinung unter dem Kreuz und der Grabtragung, sondern geht gleich zur Grablegung über. 
In die Bildmitte gerückt, ringt Maria, sich leicht über den Leichnam beugend, die Hände und blickt ihrem Sohn – da sich beide Köpfe auf gleicher Höhe befinden – direkt ins Antlitz. Ganz als Rückenfigur gestaltet, kniet Johannes andächtig vor Christus, während er den rechten Arm um Maria legt, um sie zu stützen und zu trösten. Das Johannes-Evangelium berichtet, Jesus habe, unmittelbar bevor er starb, vom Kreuz herab Maria und den Lieblingsjünger sich gegenseitig als Mutter und Sohn anempfohlen. Ihre Position vor dem Sarkophag und das großflächige Faltenmotiv ihrer beider Gewänder hebt die zwei von hinten bzw. im Profil gesehenen Figuren vor den anderen Beteiligten nachdrücklich hervor. Neben Johannes liegt auf der Basisplatte des Sarkophags sein Evangelienbuch; neben Maria, an das Grab gelehnt, die Dornenkrone, die nicht nur auf die Passion Christi, sondern auch auf die Gottesmutter bezogen erscheint und so nochmals ihre Rolle als Miterleidende betont.
Joseph von Arimathäa und Nikodemus sind im Begriff, den Leichnam Christi in das Grab zu legen. Joseph umfasst den Oberkörper unterhalb der Seitenwunde, während Nikodemus die Füße des Erlösers hält. Ähnlich wie im Bouts-Gemälde scheint der Körper des Gottessohns gleichzeitig zu schweben und zu ruhen. Sein Leib wird in Anspielung auf seine eucharistische Bedeutung der andächtigen Betrachtung dargeboten – „der bildparallel dargestellte Sarkophag erinnert an eine Altarmensa, auf der der tote Körper wie eine Hostie auf dem Altar präsentiert wird“ (Brown/Dautert 1991, S. 106). Die gramgebeugte Maria Magdalena küsst wie zum Abschied noch einmal behutsam die Hand des Herrn. Sein Oberkörper mit den gestreckten Armen erinnert an die Haltung auf Pietà-Darstellungen – „es sind sozusagen Beweinung, Grabtragung und Grablegung in einer einzigen Bildformel verschmolzen“ (Falk 1991, S. 96).
Die Figuren in der linken Bildhälfte werden von einem stark verschatteten Felsen hinterfangen, auf dem ein knorriger kahler Baum in den Himmel ragt. Rechts im Hintergrund hat Schongauer mit wenigen Strichen eine helle Landschaft angedeutet: Im Tal ist der Kirchturm einer Stadt sichtbar; auf dem Hügel erkennt man das einsame Kreuz mit der Leiter der Kreuzabnahme.
Dirk Bouts: Grablegung Christi (um 1450); London, National Gallery
Ausschnitt aus Rogier van der Weydens Kreuzabnahme mit Nikodemus und Maria Magdalena
Schongauers Blatt zeigt eine enge Verwandtschaft zu einem gleichnamigen Gemälde von Dirk Bouts (1415–1475) aus der Londoner National Gallery. Insbesondere die vor dem Sarg klagende weibliche Gestalt, die bei Schongauer eindeutig Maria darstellt, ihr im Profil gezeigter, von einem Tuch bedeckter Kopf wie auch der Fall ihres Gewandes bestätigen Schongauers Kenntnis der niederländischen Komposition. 
Ulrike Heinrichs benennt noch ein weiteres mögliches Vorbild: Rogier van der Weydens um 1435/40 entstandene Kreuzabnahme im Prado (siehe meinen Post Die Schönheit der Trauer). Die Haltung von Rogiers Maria Magdalena mit ihrem gekrümmten Körper und den vor der Brust erhobenen und gerungenen Händen erscheint ihr an der Gottesmutter in Schongauers Stich abwandelt. „Schongauer muß Rogiers Gemälde in der Kapelle der Schützengilde in der Kirche St. Marien vor der Mauer in Löwen gesehen haben, wo es bis 1458 als Hauptaltarbild aufgestellt war. Dies ist insofern interessant, als auch Bouts Werkstatt sich in Löwen befand. So scheint die »Grablegung« Eindrücke von ein und derselben Reise zu kombinieren und zu variieren“ (Heinrichs 2007, S. 333).
Martin Schongauer: Abstieg Christi in die Vorhölle (um 1475); Kupferstich
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Schongauers Darstellung vom Abstieg Christi in die Vorhölle kann sich auf keinen Evangelien-Text berufen – dieses Ereignis wird nirgends im Neuen Testament erwähnt. Die Szene geht vielmehr auf das apokryphe Nikodemus-Evangelium aus dem 4. Jahrhundert zurück und wird auch in der Legenda aurea ausführlich beschrieben. Die Vorhölle, auch Limbus genannt, ist als einzelner Raum mit dunkel verschattetem Mauerwerk hinter einem leicht spitzbogigen Tor wiedergegeben; die hölzerne Tür davor ist zerborsten. Siegreich hat Christus seinen durchbohrten rechten Fuß auf ein kläglich auf dem Bauch liegendes Höllenwesen gesetzt. „Scheinbar ganz ohne Kraftanstrengung hat er den Feind niedergeworfen und erscheint nun – in Schrittstellung, mit der in ausholender Bewegung erhobenen Kreuzfahne, dem Zeichen seines Siegs über den Tod – in der Pose des Triumphators auf dem Unterlegenen“ (Brown/Dautert 1991, S. 106). Das Haupt des Heilands ist in dieser Szene zum ersten Mal von einem Kreuznimbus umstrahlt. Sein über die Schulter gelegtes Manteltuch bauscht sich über der Hüfte und lässt die Seitenwunde unbedeckt. Nur die Wundmale weisen noch auf das erlittene Martyrium hin, während aus dem jugendlich ebenmäßigen, leicht rundlichen Gesicht, das deutlich von den vorangegangenen Darstellungen abweicht, alle Züge des Schmerzes und der Leiden gewichen sind.
Der Erlöser hat den langbärtigen Adam bei der Hand ergriffen, dessen Daumen das Wundmal berührt, und zieht ihn von der Eingangsstufe der Vorhölle zu sich empor. An Adams Arm kniet erwartungsvoll Eva mit dem angebissenen Apfel des Sündenfalls in der Linken – sie ist die einzige weibliche Aktfigur in Schongauers gesamtem Kupferstichwerk. Neben dem Stammelternpaar harren vor der geborstenen Höllentür Johannes der Täufer und ein weiterer älterer Mann ihrer Befreiung. Andere Männer und Frauen drängen hinter dem Türflügel nach, während zwei fratzenhaft-dämonische Mischwesen versuchen, sie im Limbus festzuhalten.
Martin Schongauer: Auferstehung Christi (um 1475); Kupferstich
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Die Auferstehung bildet den Abschluss von Schongauers Passionszyklus: Ein Engel hat dem Heiland das Grab geöffnet und den Sarkophagdeckel zur Seite gerückt. Im Schnittpunkt der beiden Bilddiagonalen, der durch den verkürzten Steinsarkophag und die von dem himmlischen Helfer gehaltene Platte gebildet wird, entsteigt der Auferstandene dem Grab. Die Bewegung des frontal gezeigten Christus, dessen Haupt erneut von einem Strahlenkreuznimbus umgeben ist, hält im Aufsetzen des rechten Fußes auf der Basisplatte des Sarkophags inne. Schongauer präsentiert den Auferstandenen in seinem Triumph als Überwinder des Todes, die Rechte segnend erhoben und in der Linken als Siegeszeichen den Kreuzstab haltend. Wie im vorangegangenen Kupferstich betont der Künstler die verklärte Gestalt des Erlösers, an dessen menschliche Leiden lediglich die Wundmale erinnern.
Nach dem Matthäus-Evangelium (27,62-66) baten die Hohepriester und Pharisäer Pilatus, das Grab bewachen zu lassen. Sechs bewaffnete Grabwächter sind auf die vier Seiten des Sarkophags verteilt; nur zwei von ihnen sind aus dem Schlaf erwacht und werden Zeugen des Geschehens: Zwischen den Felsen im Hintergrund und der rückwärtigen Schmalseite des Sarkophags geduckt, beobachtet ein Soldat fassungslos das Ereignis. Im Vordergrund blickt Malchus, verängstigt am Boden hockend und vor Schreck erstarrt, zu Christus auf und hebt in einer Abwehrgeste den linken Arm. Im Hintergrund sind die drei Frauen zu sehen, die sich auf den Weg gemacht haben, um den Leichnam Jesu zu salben (Markus 16,1). Sie sind noch deutlich von der abgezäunten Grabstätte entfernt und können, dem biblischen Bericht entsprechend, das Wunder nicht erblicken.

Literaturhinweise
Brown, Angela/Dautert, Ortrun: Die Passion. In: Hartmut Krohm/ Jan Nicolaisen (Hrsg.): Martin Schongauer – Druckgraphik. Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1991, S. 95-111;
Falk, Tilmann: Die Passion Christi. In: Tilman Falk/Thomas Hirthe, Martin Schongauer. Das Kupferstichwerk. Staatliche Graphische Sammlung, München 1991, S. 78-101;
Heinrichs, Ulrike: Martin Schongauer. Maler und Kupferstecher. Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens. Deutscher Kunstverlag, München 2007;
Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Monographie. Michael Imhof Verlag, Petersburg 2004, S. 54-55;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 6. März 2021) 

Freitag, 1. Februar 2019

Rembrandts zorniger Jesus

Rembrandt: Tempelreinigung (1635); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Im Neuen Testament wird eine Szene geschildert, die das bis heute weit verbreitete, aus dem 19. Jahrhundert stammende Klischeebild des sanftmütigen, erhaben-edlen Jesus kräftig gegen den Strich bürstet. In der „Tempelreinigung“ tritt uns kein duldsamer, sondern ein wutentbrannter Heiland entgegen, der nicht „das Gespräch sucht“, sondern mit der Peitsche argumentiert. In Johannes 2,13-16 (LUT) heißt es: „Und das Passafest der Juden war nahe, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Und er fand im Tempel die Händler, die Rinder, Schafe und Tauben verkauften, und die Wechsler, die da saßen. Und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern und schüttete den Wechslern das Geld aus und stieß die Tische um und sprach zu denen, die die Tauben verkauften: Tragt das weg und macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus!“
Rembrandt (1609–1669) hat dieses Ereignis in einer kleinformatigen Radierung (13,7 x 17 cm) von 1635 mit einem besonderen Gespür für Dramatik und einer ausgeprägten Dynamik wiedergegeben. In der Mitte des Blattes steht der aufgebrachte Jesus, mit erhobener linker Hand zum Schlag ausholend; während seine Gesichtszüge im Schatten verschwinden, wird nicht nur sein Kopf, sondern auch die peitschende Linke von einem Nimbus umstrahlt – Jesu Zorn ist ein heiliger Zorn. Die Händler weichen erschrocken vor ihm zurück; ihr Tisch fällt um, Münzen rollen herunter, einer der Geldwechsler versucht seinen Geldbeutel zu retten. Aus der chaotisch davoneilenden Menge auf der linken Bildhälfte sticht ein Mann heraus, der in einem Korb auf seinem Kopf Federvieh in Sicherheit bringen will. Am linken Bildrand wiederum sind verschiedene Gruppen zu sehen, die noch überhaupt nicht bemerkt haben, mit welchem Furor Jesus gleich auch ihre Geschäfte stören wird. 
Offensichtlich hat der Gottessohn bereits zuvor einige Händler mit ihren Waren attackiert, denn rechts unten ist eine vom Bildrand angeschnittene Gestalt zu Boden gegangen, um die Flucht einer Taube zu vereiteln; im Mittelgrund darüber wird ein Mann, der den Strick seines Rindes nicht loslassen will, von dem aufgescheuchten Tier mitgeschleift. Im Hintergrund rechts thronen unter einem Baldachin die Hohepriester, umgeben von Schriftgelehrten, durch Stufen erhöht und eine Mauer von der Gemeinde abgesondert, die hier nur in Gestalt einer demütig knienden Bittstellerin vertreten ist. Während manche der Tempeloberen von dem Getümmel unter ihnen unberührt scheinen, verfolgen andere, wie etwa die Figur rechts am Bildrand, das Geschehen misstrauisch.
Ulrich Keller sieht in dieser Gruppe das eigentliche Thema von Rembrandts Radierung markiert: den heraufziehenden Konflikt zwischen dem Messias, der die herrschende religiöse Elite radikal in Frage stellt, und der Priesterschaft, die den Mann aus Nazareth nicht als den Verheißenen anerkennt – und ihn schließlich zu beseitigen trachtet. Rembrandt habe, so Keller, diese Thematik unübersehbar mit antikatholischer Polemik verquickt: Das Tempeloberhaupt ist mit Tiara und Pluviale ausgestattet, der Priester mit einer Art Bischofsstab. „Die katholischen Kultinstitutionen haben Rembrandt, so ist daraus zu folgern, als konkreter Erfahrungshorizont und historisches Paradigma für die Rekonstruktion des altjüdischen Tempelwesens gedient. Eben darum ist aber in jedem Angriff Rembrandts auf die mosaische Priesterhierarchie zugleich das Papsttum mitgemeint“ (Keller 1979, S. 87).
Albrecht Dürer: Tempelreinigung (um 1508/09; aus der Kleinen Passion), Holzschnitt
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Die Gestalt Christi ist übrigens ein direktes Zitat aus der Tempelreinigung von Albrecht Dürer (1471–1528), den Rembrandt sehr bewunderte.

Literaturhinweise
Keller, Ulrich: Knechtschaft und Freiheit. Ein neutestamentliches Thema bei Rembrandt. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 24 (1979), S. 77-112;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 27. Dezember 2019)