Dienstag, 29. Dezember 2020

Stilles Ehedrama, hell ausgeleuchtet – Edward Hoppers „Zimmer in New York“ (1932)

Edward Hopper: Zimmer in New York (1932; Lincoln (NE), Sheldon Museum of Art
(für die Großansicht einfach anklicken)

Die Gemälde von Edward Hopper (1882–1967) teilen längst das Schicksal von Claude Monets Seerosen, van Goghs Sonnenblumen oder Andy Warhols mehrfarbig gedruckter Marilyn Monroe: Sie hängen in unzähligen Arztpraxen, finden sich immer wieder auf Buchcovern und gehören zum festen Repertoire der alljährlich neu auf den Markt geworfenen Kunstkalender. Hoppers Bilder von der Ostküste, den Strandhäusern, Landtankstellen, Straßenschluchten und vor allem von Innenräumen scheinen vor allem das Alleinsein in den Blick zu rücken. Ob nun düster oder gleißend ausgeleuchtet –  sehr oft entsteht dabei eine Atmosphäre der Einsamkeit, der Melancholie, der Monotonie.

Immer wieder stellt Hopper Menschen dar, die allein in der Eisenbahn oder auf dem Sofa sitzen oder in einem Coffee Shop dumpf vor sich hin brüten. In der Großstadt macht sich ihre Isolation vor allem in Bars, Kinos, Büros, Foyers und Hotelzimmern bemerkbar, in denen sich gewöhnlich nur einzelne Personen aufhalten, die gedankenverloren in ein Buch blicken oder aus dem Fenster starren, obwohl es draußen nichts anderes als pechschwarze Nacht oder die klotzige Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes zu sehen gibt. Wenn Hopper mehrere Personen ins Bild bringt, scheinen sie nichts miteinander gemein zu haben; das Gespräch stockt, jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Frauen stehen im Morgenlicht auf der Schwelle, blicken aus dem Fenster, nackt oder leicht bekleidet, vorbereitet für den neuen Tag, der kommt und der doch enden wird wie alle Tage zuvor. Hopper zeigt uns Szenarien, in denen sich nichts ändert.

Edward Hopper: Intermission (1963); San Francisco, Museum of Modern Art
(für die Großansicht einfach anklicken)
Auf dem Land dagegen sind es die leeren Straßen, unbewohnten Villen, abgelegenen Bahnübergänge, verwaisten Tankstellen und geschlossenen Ladengeschäfte mit ihrer dürftigen Auslage, die dieses Gefühl der Leere und Einsamkeit verbreiten und im kräftigen Sonnenlicht des Tages oder im leuchtenden Rot der Abenddämmerung wie Kulissen einer Bühne wirken, auf der sich nichts abspielt. Bei aller Tristesse enthalten sich Hoppers Bilder aber jeder Anklage. Sie haben nichts Aggressives; im Gegenteil: Über der Banalität und Unentrinnbarkeit seiner freudlosen Alltagsszenen liegt eine geheimnisvolle Poesie. Dabei sind die malerischen Mittel, mit denen Hopper arbeitet, überraschend simpel: Auffällig ist seine Vorliebe für starke Farbkontraste, Schlagschatten und Nachtszenen.

Edward Hopper: Cape Cod Morning (1950); Nashville (TN), Smithsonian American Art Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)

Zu den Hopper-Gemälde, die mich am meisten faszinieren, gehört das stumme Ehedrama, das uns der Künstler in seinem Zimmer in New York (1932) präsentiert. Es erzählt, wie so viele andere Bilder Hoppers, von der Vereinzelung des Menschen und der Entfremdung der Geschlechter. Unser Blick gleitet von außen, aus der Nacht heraus über die Laibung eines großen Fensters in ein hell erleuchtetes Wohnzimmer, dessen Wände durch das künstliche Licht gelblich-grün getönt werden. Es ist ein voyeuristischer, heimlicher Blick aus der Dunkelheit in die Intimität einer Wohnung, den Hopper in vielen seiner Arbeiten einsetzt. Der Kontrast zwischen dem dunklen Außenbereich des Betrachters und dem hellen, stillen Innenraum lässt diesen beinahe wie eine Theaterbühne wirken. Das Paar, das dort beieinandersitzt, nimmt uns nicht wahr. Auffällig ist die Höhe des Zimmers, die aufgrund des schmalen Grundrisses und der Höhe der Tür gesteigert erscheint. Der Raum wirkt eng und trägt zu der bedrückenden Atmosphäre bei, die von Hoppers Bild ausgeht. Er wird „für die Bildfiguren zur Zelle und vermittelt die dumpfe, unterschwellige Spannung zwischen Mann und Frau“ (Beck 1988, S. 176).   

Der Mann hat in einem hellroten Sessel Platz genommen und lesend den Kopf über die Zeitung gebeugt, die er in Händen hält. Die Frau sitzt an der anderen Seite des kleinen Raumes. Sie blickt nach unten auf die Tasten eines vom rechten Bildrand angeschnittenen Klaviers, während sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand einen Ton anschlägt – oder es gerade nicht tut, vielleicht um den Mann bei seiner Lektüre nicht zu stören. Sie hat nicht wirklich vor, auf dem Instrument zu spielen, dazu nimmt sie nicht die passende Haltung ein, sie wirkt viel eher gelangweilt. Hubert Beck sieht die beiden Figuren entsprechend der traditionellen Geschlechtsrollenklischees wiedergegeben: Der Mann wird bei geistiger Tätigkeit gezeigt, die Frau ist „dem musischen, gefühlsbetonten Bereich zugeordnet, seiner Zuwendung harrend“ (Beck 1988, S. 181). 

Auffallend geräuschlos geht es zwischen den beiden zu. Sie könnte ihn bitten, ihr etwas vorzulesen aus den Nachrichten, denkt man. Er könnte sie bitten, ihr etwas vorzuspielen. Beides geschieht wohl schon eine ganze Weile nicht mehr. Obwohl sie am selben Tisch sitzen, sind sie voneinander abgewandt. Trotz der warmen Farbe herrscht emotionale Leere. Der Reglosigkeit der beiden Figuren entspricht die strenge Ausstattung des Raumes in geometrischen Formen. Wie eine unüberwindbare Trennline schiebt sich die hohe ockerfarbene Tür mit der Kassettenstruktur zwischen das Paar. Sie scheint ohne Klinke (auch wenn man sie hinter dem Rücken der Frau vermutet) und verweist damit auf das Bild der Ehe als Gefängnis. „Der Mann und die Frau sind gefangen, festgehalten in einem traurigen Gleichgewicht. Unser Blick fällt auf keinen von beiden, sondern genau in die Mitte zwischen ihnen, direkt auf die Tür, die nicht nur für einen von ihnen, sondern für beide gleichermaßen verschlossen ist“ (Strand 2004, S. 86).  

Auch der Tisch als Gemeinschaftssymbol verbindet Mann und Frau nicht, er ist vielmehr deutlich zwischen die beiden gesetzt, rückt sie auseinander. Hier sind zwei zusammen, und jeder für sich allein. Hier fällt kein einziges Wort, und es wird auch keine Musik erklingen.

 

Literaturhinweise

Beck, Hubert: Der melancholische Blick. Die Großstadt im Werk des amerikanischen Malers Edward Hopper. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1988, S. 174-184;

Schulze, Sabine (Hrsg.): Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov. Verlag Gerd Hatje, Ostfilder-Ruit 1998, S. 380;

Strand, Mark: Über Gemälde von Edward Hopper. Schirmer/Mosel, München 2004, S. 85-86.

Mittwoch, 23. Dezember 2020

Der Weihnachts-Wumms – Rembrandts „Verkündigung an die Hirten“ (1634)

Rembrandt: Verkündigung an die Hirten (1634); Radierung
(für die Großansicht einfach anklicken)
Rembrandt (1606–1669) war 28 Jahre alt, als er in seiner Amsterdamer Frühphase 1634 mit der Verkündigung an die Hirten seine bis dahin ambitionierteste Radierung schuf. Das großformatige Blatt (26,1 x 22 cm) verbildlicht den entsprechenden Bericht aus dem Lukas-Evangelium (Lukas 2,8-14): Auf einer Anhöhe über einem Fluss halten Hirten bei ihren Herden Nachtwache. Plötzlich wird die Dunkelheit blitzartig von einer überirdischen Erscheinung erleuchtet: Der Himmel tut sich auf, und im Zentrum einer Lichtglorie erscheint die Taube als Symbol des Heiligen Geistes, von einem schwebenden Puttenreigen umringt; darunter steht auf einer Wolkenbank die hell leuchtende Gestalt des Erzengels Gabriel und verkündet mit deklamatorischer Geste den Hirten auf dem Felde die Weihnachtsbotschaft von der Geburt des Erlösers.

Dem in statuarisch-würdevoller Ruhe und übergroßem Figurenmaßstab präsentierten Engel stellt Rembrandt antithetisch den kleinteiligen Tumult gegenüber, den der gleißende Lichtschein auslöst. Die Reaktionen der Männer reichen von ungläubigem Erstaunen bis hin zu panischem Schrecken, der sie reglos erstarren oder Hals über Kopf die Flucht ergreifen lässt. Nur ein in die Knie gesunkener Hirte, der in seiner Furcht und wie von Scheinwerferlicht geblendet abwehrend die Hände erhoben hat, scheint den Engel wahrgenommen zu haben. Am rechten Bildrand sind noch zwei weitere Hirten zu erkennen, die wohl aus einer Höhle emporsteigen, um nachzusehen,was sich hier ereignet, der vordere hält eine Laterne in seiner Rechten. Unterschiedlich verhalten sich auch die Tiere: Im Schlaf überrascht, sind manche der Hirtenhunde, Schafe und Rinder kaum erst aufgewacht, blicken verstört auf, während andere schon in Todesangst davongaloppieren.

Die Vordergrundzone steigt nach rechts in einem schmalen Streifen an; rechts wird das von kleinen Pflanzen bewachsene, sonst hingegen freie Felsplateau zum Hintergrund hin durch einen dichten, bis zum Himmel aufragenden Bewuchs an Büschen und Bäumen abgeschlossen. Dabei sind neben heimischen Eichen auch Palmen zu erkennen. Die erleuchteten Zonen des Blattes werden durch eine dunklen Mittelstreifen getrennt, der das Bildfeld diagonal von links unten nach rechts oben durchzieht. Auf der rechten Seite wird dieser Streifen von den Bäumen durchbrochen, auf deren Blattwerk das Himmelslicht flimmert. Links fällt das Areal des Vordergrunds nach einer Bodenwelle steil in die Tiefe. Hier dehnt sich eine weite, von einem Fluss durchzogene Landschaft aus. Am Horizont tauchen die letzten Strahlen der untergegangenen Sonne das Gelände in ein dämmriges Licht. Eine mächtige Steinbrücke führt über den Fluss hinweg, auch eine Stadtsilhouette lässt sich ausmachen. Nur zu erahnen sind einige Figuren vor einem Lagerfeuer am jenseitigen Ufer, das sich im Wasser spiegelt.

Rembrandt hat seiner Darstellung durch Licht- und Schattenpartien noch eine zweite Diagonale eingeschrieben: Während die eine den himmlischen vom irdischen Bereich trennt, verläuft die andere Diagonale von links oben nach rechts unten und stellt somit eine Verbindung zwischen Heiligem Geist, Engel und Hirten her. Dabei korrespondiert das Getümmel auf Erden formal mit dem Engelsgewimmel im Himmel und verknüpft auf diese Weise die beiden Bereiche. Mit den um die Taube kreisenden Putti gelingt Rembrandt ein Bravourstück an variantenreich bewegten und verkürzt dargestellten Leibern. Um die extreme Helligkeit zu verdeutlichen, hat er mit Freilassungen gearbeitet und sowohl die Taube als auch einige der Engel mit nur wenigen Strichen ausgeführt. Deren Körperkonturen werden vom Licht regelrecht verschluckt. Je weiter die Putten vom Heiligen Geist entfernt sind, desto stärker hat Rembrandt sie modelliert und mit Schattenpartien versehen. Es scheint ihn bei der Ausarbeitung nicht gestört zu haben, dass seine Darstellung im Druck spiegelverkehrt erscheinen wird: So wendet sich der Engel (ähnlich wie auch Jesus in Rembrandts Radierung Auferweckung des Lazarus) entgegen der Bildkonvention mit der erhobenen Linken an sein Publikum.

Rembrandt: Auferweckung des Lazarus (1632); Radierung
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der Kontrast zwischen der tiefschwarzen Nacht auf Erden und der blendenden Helligkeit am Himmel ist aber nicht nur ein gelungener dramatischer Effekt, sondern hat auch eine bedeutsame theologische Komponente: Rembrandt führt uns auf diese Weise die Finsternis der menschlichen Welt vor Augen, die durch Christi Geburt vom Licht der göttlichen Gnade erleuchtet wird.

Hendrick Goudt: Flucht nach Ägypten (1613); Kupferstich nach dem Gemälde von Adam Elsheimer
Zur Verkündigung an die Hirten existieren keine Vorzeichnungen, statt dessen zwei Probeabzüge, die nahelegen, dass der Künstler ohne vorbereitende Hilfsmittel direkt auf die Platte radiert hat. Es handelt sich um die erste der „dunklen“ Radierungen Rembrandts, zugleich um seine erste druckgrafisch realisierte Nachtszene. Unverkennbar ist der Einfluss Hendrick Goudts (1583–1648) und seiner Stiche nach Hauptwerken von Adam Elsheimer (1578–1610). Dessen nur in geringer Zahl erhaltene Bilder fanden in Goudt einen Bewunderer, der die Werke des Malers sammelte, reproduzierte und so für eine möglichst weite Verbreitung sorgte. So erinnert z. B. das Lagerfeuer am Fluss an Elsheimers berühmte Flucht nach Ägypten (1609) aus der Münchner Pinakothek und den entsprechenden Nachstich von Goudt. 

Rembrandt: Himmelfahrt Christi (1636); München, Alte Pinakothek
(für die Großansicht einfach anklicken)
Die Verkündigung an die Hirten wurde zur kompositorischen Grundlage für Rembrandts Himmelfahrt Christi – eines der Gemälde des 1636 an Prinz Frederik Hendrik von Oranien gelieferten Bilderzyklus zur Passion Christi, der sich heute in der Münchner Pinakothek befindet.

 

Literaturhinweise

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen.  Schirmer/Mosel, München 1991, S. 190;

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik. SMB DuMont, Köln und Berlin 2006, S. 62;

Gatomski, Juliane: Die Verkündigung an die Hirten. In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 150;

Kreutzer, Maria: Rembrandt und die Bibel. Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003, S. 86;

Riether, Achim: Schwarzweiß im Goldenen Zeitalter. Niederländische Druckgraphik des 16 und 17. Jahrhunderts aus der Sammlung Christoph Müller. Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen/Berlin 1995, S. 26;

Unverfehrt, Gerd (Hrsg.): Rembrandt schwarz – weiß. Meisterwerke der Radierkunst aus der Kunstsammlung der Universität Göttingen. Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Göttingen 1994, S. 159-160.


Sonntag, 13. Dezember 2020

Kunst kommt von Klauen – Gerrit van Honthorsts „Befreiung Petri“

Gerrit van Honthorst: Die Befreiung Petri (um 1616); Berlin, Gemäldegalerie
(für die Großansicht einfach anklicken)
Die innovativen Bilderfindungen des italienischen Barockmalers Caravaggio (1571–1610) wurden von Künstlern aus ganz Europa in solch großem Umfang nachgeahmt, dass eine eigene Bewegung entstand – der „Caravaggismus“. Zu Caravaggios wichtigsten Stilmerkmale gehörten ein flacher Bildraum, nah gesehene Halbfiguren, dramatische Hell-Dunkel-Effekte und eine am Modell orientierte Figurendarstellung (siehe meinen Post „Mit dem Scheinwerfer gemalt“). Gerrit van Honthorst (1592–1656) zählt mit Dirck van Baburen (1595–1624) und Hendrick ter Brugghen (1588–1629) zu den wichtigsten holländischen Caravaggisten. Alle drei waren Abschluss ihrer Lehrjahre in Utrecht nach Rom gereist – hatten aber Caravaggio selbst dort nicht mehr angetroffen. Was sie in Rom allerdings sehen konnten, waren dessen aufsehenerregende Altarbilder und sonstigen Gemälde. Und alle drei kehrten nach Italienaufenthalt nach Utrecht zurück. Nicht nur auf ihre Bilder, sondern insgesamt auf die holländische Gemäldeproduktion zwischen 1615 und 1630 hatten Caravaggios Gestaltungselemente ohne Frage großen Einfluss.

Gerrit van Honthorst: Dornenkrönung Christi (um 1622); Amsterdam, Rijksmuseum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Honthorst traf wahrscheinlich um 1613 in Italien ein. Als „Gherardo delle Notti“ wurde er schon während seiner Zeit in Rom berühmt: Zu erkennen sind seine Nachtstücke an der von Kerzenschein oder einer Fackel erleuchteten Szenerie, wobei die künstliche Lichtquelle oft hinter einem Bildgegenstand oder einer Figur verborgen oder nur teilweise sichtbar ist. Die Flamme selbst bildet auf diese Weise nicht mehr den hellsten Bereich der Komposition, sondern stattdessen der sie umgebende Raum, wodurch eine gleichmäßig erleuchtete intime Bildfläche entsteht. Von allen Werken Honthorsts, die während seines Romaufenthalts bis 1620 entstanden sind, ist Die Befreiung Petri (um 1616) sicherlich dasjenige, das von Caravaggios Malweise und Stilmitteln am meisten beeinflusst ist.

Honthorst Gemälde bezieht sich auf eine Episode aus der Apostelgeschichte, die sich im Neuen Testament direkt an die Evangelien anschließt. König Herodes Agrippa I. lässt Angehörige der christlichen Gemeinde in Jerusalem verhaften und foltern; der Apostel Jakobus wird enthauptet, Petrus gefangen genommen und scharf bewacht: „So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott. Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen“ (Apostelgeschichte 12,5-7; LUT)

Honthorst reduziert die Bilderzählung auf die beiden Hauptfiguren des biblischen Berichts, er verzichtet sowohl auf die Soldaten wie auch auf die Wachen vor dem Kerker. Selbst die Ketten, die von den Händen Petri fallen sollten, hängen nur an der Wand, um die Szene identifizieren zu können. Petrus weicht erschrocken zurück angesichts des Engels eintretenden Engels und des mit ihm unerwartet einfallenden Lichts. Der Apostel wird regelrecht scheinwerferartig angeleuchtet und die Szene damit in ein Helldunkel getaucht, das so viele Werke Caravaggios kennzeichnet. Petrus sitzt am Boden und fasst sich mit der linken Hand an die faltige Stirn, um sich vor dem hereinflutenden Helligkeit zu schützen. Das durch die geöffnete Tür in die dunkle Zelle eindringende Licht ergießt sich am ausgestreckten Arm des Engels entlang über das Antlitz des alten Mannes; dabei scheint der himmlische Bote soeben die Worte „Steh schnell auf!“ zu sprechen.

Caravaggio: Berufung des Matthäus (1599/1600); Rom, San Luigi dei Francesi
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der ausgestreckte Arm des Engels ist ohne Frage eine Übernahme aus Caravaggios Berufung des Matthäus in der Kirche San Luigi die Francesi (Contarelli-Kapelle; siehe meinen Post „Heimgeleuchtet“), wo Christus mit dem gleichen Zeigegestus dargestellt wird. Auch der Effekt des Lichtstrahls, der das wundersame Ereignis unterstreicht, ist diesem Gemälde Caravaggios entnommen. Als Inspirationsquelle zu nennen wären ebenso Caravaggios Bilder Matthäus mit dem Engel (1599) und Christus im Garten Gethsemane (um 1605), die sich ehemals in Berlin befanden und 1945 bei einem Fliegerangriff zerstört wurden. Honthorst hat den Faltenwurf des rotbraunen Mantels von Petrus ähnlich angelegt wie den von Petrus im Vordergrund des Gethsemane-Gemäldes.

Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1602); Kriegsverlust
Caravaggio: Christus im Garten Gethemane (1605); Kriegsverlust

Auch ter Brugghen hat die Befreiung Petri dargestellt, allerdings in einem hochformatigen Gemälde (1624). Er nutzt ebenfalls das verlorene Altarbild Caravaggios mit dem von einem jugendlich-schönen Engel inspirierten Matthäus als Ausgangspunkt. Dabei drängt sich bei ter Brugghen der jugendliche Engel dem Evangelisten noch näher auf als in Caravaggios Vorlage. Die beiden Gestalten sind als Halbfiguren vor dunklem Hintergrund, das Format fast ausfüllend, nah und groß an den vorderen Bildrand gerückt. Der einfache, alte Fischer ist zutiefst erschrocken über das wundersame Geschehen. Den zahnlosen Mund vor Bestürzung geöffnet, blicken seine weit aufgerissenen Augen verwirrt und fassungslos an dem Engel – nur die Ketten an seinen Handgelenken erinnern daran, dass wir hier den „Apostelfürsten“ vor uns haben. Der Engel berührt Petrus mit seiner Rechten an der Schulter, während die linke Hand nach oben weist – auf Gott, der ihn gesandt hat. Wie Caravaggio betont ter Brugghen die Gegensätzlichkeit der beiden Protagonisten – rechts der greise Apostel mit wettergegerbtem Gesicht und groben Händen, links der knabenhafte Engel mit heller Haut und schmalen Fingern.

Hendrick ter Brugghen: Die Befreiung Petri (1624); Den Haag, Mauritshuis
(für die Großansicht einfach anklicken)
Hendrick ter Brugghen: Die Befreiung Petri (1629); Schwerin, Staatliches Museum

Jusepe de Ribera (Befreiung Petri (1613/14); Rom, Galleria Borghese

1629 hat ter Brugghen dann noch eine Befreiung Petri mit Ganzfiguren geschaffen, die sich heute in Schwerin befindet: Durch die Berührung der Schulter hat der sich von rechts nähernde Engel den am Boden liegenden Petrus aufgeweckt, worauf sich der Apostel erschrocken zu ihm umwendet. An seinen Handgelenken sind die Ketten sichtbar, die Fußfesseln liegen neben ihm. Die beiden Schlüssel links im Vordergrund sind die Attribute Petri und stellen für den Betrachter sicher, um welche Szene es sich handelt. Die verkürzte Wiedergabe des Apostels beschert uns ein lupenreines caravaggeskes Bildmotiv: die nah an uns herangerückten schmutzigen Fußsohlen des alten Mannes. Auch der spanische Maler Jusepe de Ribera (1591–1652) hat in seiner Befreiung Petri den Apostel in Verkürzung dargestellt und legt bei dessen Füßen noch eins drauf: Verdreckter als hier sind sie wohl nirgends mehr gezeigt worden.

Gerrit van Honthorst: Anbetung der Hirten (1622); Greifswald, Pommersches Landesmuseum
Gerrit van Honthorst: Bei der Kupplerin (1625); Utrecht, Centraal Museum

Nachdem Honthorst 1620 nach Utrecht zurückgekehrt war, schuf er zunächst noch weitere Gemälde jener Art, mit der er sich in Italien einen Namen gemacht hatte, wie z. B. Anbetung der Hirten (1622) oder Bei der Kupplerin (1625). Er betrieb bald eine große Werkstatt mit zahlreichen Schülern. Honthorsts Figuren sind gegenüber denen Caravaggios erkennbar idealisierter – anders als das große Vorbild verzichtete er auf die Wiedergabe derber Gesichter und schrumpeliger Hautfalten. Sein Bildpersonal ist auch ästhetischer als das von Baburen und ter Brugghen, seine Malweise glatter und feiner, seine Kompositionen weiträumiger angelegt – und das traf den Geschmack der holländischen Aristokratie außergewöhnlich gut. Im Frühjahr 1628 reiste er für einige Monate nach London, wo er Aufträge vom englischen Hof erhielt, und nach 1630 fasste er zudem Fuß am Hof des Statthalters Friedrich Heinrich von Oranien und der Amalie zu Solms-Braunfels in Den Haag. Auch den König von Dänemark und den Kurfürsten von Brandenburg konnte er als Auftraggebern gewinnen. Bei seinem Tod 1656 hinterließ Honthorst mehr als 500 Gemälde, darunter etwa 200 Porträts.

Matthias Stomer: Befreiung Petri (1630/32); Zürich, Kunsthaus (für die Großansicht einfach anklicken)
Von dem niederländische Maler Matthias Stomer (um 1600–nach 1653), wahrscheinlich ein Schüler von Honthorst, kennen wir eine um 1630/32 entstandene Befreiung Petri, die sich deutlich an die Version seines mutmaßlichen Meisters anlehnt. Stomer reduziert das Geschehen ebenfalls auf zwei Figuren und behält auch deren Gestik bei, spiegelt die Komposition allerdings, d. h., der Engel tritt bei ihm von links auf. Übernommen wird auch die Lichtführung, also der durch die geöffnete Tür einfallende Lichtstrahl. Im Gegensatz zu Honthorsts flüssiger, glatter Malweise trägt Stomer seine Farben aber mit kurzen, pastos gesetzten Pinselstrichen auf, „die insbesondere in den Stoffen zu zackig markierten Faltengraten uns insgesamt zu unruhigen Oberflächen führen (Neumeister 2003, S. 212). Auch die gelblichen Farbwerte, die Honthorsts Nachtstück ihre tonale Harmonie und besondere Stimmung verleihen, werden von Stomer durch ein leuchtendes, stark lokalfarbiges Kolorit ersetzt.

 

Literaturhinweise

Dibbits, Taco: Die Utrechter Caravaggisten. In: Ausstellungskatalog Rembrandt – Caravaggio. Rijksmuseum Amsterdam und Van Gogh Museum 24. Februar bis 18. Juni 2006, Belser Verlag, Stuttgart 2006, S. 34-41;

Ebert, Bernd/Helmus, Liesbeth H. (Hrsg.): Utrecht, Caravaggio und Europa. Hirmer Verlag, München 2018, S. 122-129; 

Helmus, Liesbeth M.: Die Utrechter Caravaggisten: Eine Frage der Nachfolge und des Verbesserns. In: Bernd Ebert/Liesbeth H. Helmus (Hrsg.), Utrecht, Caravaggio und Europa. Hirmer Verlag, München 2018, S. 51-62;

Neumeister, Mirjam: Das Nachtstück mit Kunstlicht in der niederländischen Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2003, S. 212-218;

Squarzina, Silvia Danesi: Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie. Electa; Mailand 2001, S. 312-313;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 8. August 2024) 



Samstag, 5. Dezember 2020

Lehmbrucks dürrer Denker – der „Emporsteigende Jüngling“ von 1913/14

Wilhelm Lehmbruck: Emporsteigender Jüngling (1913/14);
Duisburg, Lehmbruck Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der deutsche Bildhauer Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) bezeichnete den Emporsteigenden Jüngling als eines seiner Hauptwerke. Entstanden ist die leicht überlebensgroße Skulptur 1913/14 in Paris, wo der Künstler mit seiner Familie seit 1910 für vier Jahre lebte und arbeitete. Es handelt sich um einen nackten, aufrecht stehenden, hoch aufragenden schlanken Mann mit stark überlängten Gliedmaßen, die sich von den Vorgaben menschlicher Anatomie und harmonischer Proportionen deutlich entfernen. Den Fuß seines stumpf angewinkeltes linken Beins hat er auf einem kleinen Felsbrocken abgestellt, dabei die Abwärtslinie des Oberschenkels weiterführend; der gerade Körper wird wiederum von dem dünnen rechten, nicht enden wollenden Bein getragen, das eine aufstrebende Lotrechte bis zu dem sich zwischen den Schultern erhebenden Kopf bildet.

Der gestreckte Körperbau des Jünglings „drückt kaum angreifbares Gefestigtsein aus“ (Stecker 2012, S. 315). Die weit auseinander gestellten Beine – es handelt sich um regelrechte Beinstelzen – wirken selbstbewusst und stabil in ihrer Statik. Werner Hofmann spricht davon, dass das vorgesetzte Bein „wie ein gotischer Strebepfeiler“ angesetzt sei (Hofmann 1958, S. 70). Der untere trapezförmige Teil der Figur trägt den aufgerichteten Körper mit den schmalen Hüften und kräftigen kantigen Schultern. Der rechte Arm ist, spitz angewinkelt und nach innen gewendet, in einer deklamatorisch-richtungsweisenden Geste erhoben, der linke Arm beinahe trotzig und wehrhaft vor den Oberkörper gelegt. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand weist die Figur hinter sich nach oben. Das Haupt verlässt die Lotrechte von rechtem Bein und aufrechtem Körper: Es ist leicht nach vorne gebeugt; die Gesichtszüge sind die eines sinnenden Denkers. In Verbindung mit dem ausgezehrten, gerüsthaften Körper erscheint er geradezu als „asketischer Grübler“ (Schubert 1990, S. 245). Seine Augen sind geöffnet, doch blicken sie ins Unbestimmte, scheinen ganz nach innen gerichtet zu sein und vermitteln dabei „unirritierbare Introvertiertheit“ (Stecker 2012, S. 315). Der Kopf ist „in einer an Rodin gemahnenden Unruhe geformt, die innere Unruhe ausdrucken soll“ (Schubert 1990, S. 182). Teresa Ende sieht die Figur in souveräner, „ja triumphal-heroischer Pose gezeigt, die an traditionelle Heldendarstellungen und Feldherrenporträts erinnert“ (Ende 2015, S. 269).

Der Emporsteigende Jüngling steigt allerdings nicht körperlich empor. „Die Beine der Gestalt sind weit auseinandergesetzt, aber sie schreiten nicht, sie sind unbeweglich, die Sohlen haften fest am Boden“ (Badt 1920, S. 178). Das linke Bein drückt nicht die notwendige Anspannung aus, um den jungen Mann emporheben zu wollen oder zu können. Auch wirkt der Körper insgesamt nicht so, als würde er im nächsten Moment zu einer sportiven Aktivität ansetzen. Nur der demonstrativ nach oben weisende Zeigegestus – ähnlich dem von Leonardo da Vincis Johannes der Täufer – offenbart seine Absicht zum „Hinauf“ als weiterer Weg oder die Stufen zu höherer Erkenntnis.

Leonardo da Vinci: Johannes der Täufer (1513/15); Paris, Louvre
Dietrich Schubert hat die Schriften Friedrich Nietzsches angeführt, um den Emporsteigenden Jüngling zu deuten. Das Gedankengut des deutschen Philosophen war in Künstler- und Intellektuellenkreisen um 1900 omnipräsent. Schubert verweist dabei vor allem auf Nietzsches Also sprach Zarathustra: „Aber es ist mit dem Menschen wie mit dem Baume. Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts in’s Dunkle, Tiefe – in’s Böse“ („Vom  Baum am Berge“). Für Schubert veranschaulicht Lehmbrucks Skulptur „eine dialektische Dynamik von Empor und Hinab, von Aufwärtswillen und Widerstand des Leibes, wie sie im »Zarathustra« dargelegt ist, von Steigen-Wollen und Verhaftet-Sein“ (Schubert 1990, S. 184). Diese Dialektik verdeutliche insbesondere der abwärts zeigende linke Fuß und der zu Boden gerichtete Blick der Augen. In der dünnen, entsinnlichten Figur sei die geistige Anspannung des Jünglings gestaltet, „sein Wille zu geistigem Wachstum und zur Überwindung der Tiefe, aus der er kommt, in die er schaut“ (Schubert 1990, S. 184).

Teresa Ende betont demgegenüber die androgynen Züge des Emporsteigenden Jünglings, der die weiblich konnotierten Attribute des Sinnens und Verharrens und die Charakteristika des Männlichen – Aufsteigen, Denken und Wollen – synthetisiere: „Indem der Emporsteigende Jüngling also Empfindsamkeit und geistige Reflexion, Einhalten oder Zögern und Entwicklung im Gestus des Aufsteigen-Wollens in einem hypermännlichen Leib zusammenführt, gestaltet er einen idealen ,ganzen‘ Mann. (...) Es ist die Inszenierung des holistischen männlichen Subjekts – sei es in Form des Wanderers, Denkers oder Künstlers – , das als geistig-schöpferisches entworfen wird und das sich seiner Vernuft- und Willenskraft bewusst ist. Dieses wird veranschaulicht über ein gleichfalls holistisches Körperbild“, bei dem das männliche Äußere „zugleich übersteigert realistisch und formal-stilisiert“ (Ende 2015, S.273/274) präsentiert werde.

Wilhelm Lehmbruck: Die Kniende (1911); Duisburg, Lehmbruck Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)

In manchen Partien zeigt der Emporsteigende Jüngling noch viel Verwandtschaft mit Lehmbrucks 1911 entstandener Skulptur der Knienden (siehe meine Post „Wilhelm Lehmbrucks ,gigantische Gliederpuppe‘“): im Verhältnis der Beine zum Oberkörper, im Motiv des rechten Armes, in dem zentralen Ausdrucksmoment von Kopf und Hand. Zusammen mit der Knienden markiert der Emporsteigende Jüngling – im Vergleich zur Großen Stehenden von 1910 (siehe meinen Post „Gelassene Melancholie“) – den Stilwandel, mit dem eine neue Phase im Werk Lehmbrucks einsetzte. 

Wilhelm Lehmbruck: Büste des Emporsteigenden (1914);
Duisburg, Lehmbruck Museum


Wilhelm Lehmbruck: Torso eines Denkers (1918);
Chemnitz, Kunstsammmlungen
Nach Vollendung des Emporsteigenden Jünglings veröffentlichte der Bildhauer ab 1914 – wie schön früher – Teile der Skulptur, überwiegend in Terracotta, und zwar als Büste des Emporsteigenden und in ganz wenigen Stücken auch den Kopf ohne Schultern. 1918 griff Lehmbruck nochmals auf den Jünglingskopf zurück, als er den Torso des sogenannten Denkers formte, dessen rudimentäre Hand sich vor der Brust zusammenkrallt

 

Literaturhinweise

Badt, Kurt: Die Plastik Wilhelm Lehmbrucks. In: Zeitschrift für bildende Kunst N.F. 31 (1920), S. 169-182;

Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck. Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015, S. 265-274;

Hofmann, Werner: Die Plastik des 20. Jahrhunderts. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1958, S.

Schubert, Dietrich: Die Kunst Wilhelm Lehmbrucks. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 19902, S. S. 177-190;

Stecker, Raimund: Durch Wilhelm Lehmbruck fällt ein helles Licht auf El Greco – und auch durch Otto Gutfreund. In: Beat Wismer/Michael Scholz-Hänsel (Hrsg.): El Greco und die Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012, S. 314-317.