Samstag, 5. Dezember 2020

Lehmbrucks dürrer Denker – der „Emporsteigende Jüngling“ von 1913/14

Wilhelm Lehmbruck: Emporsteigender Jüngling (1913/14);
Duisburg, Lehmbruck Museum
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Der deutsche Bildhauer Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) bezeichnete den Emporsteigenden Jüngling als eines seiner Hauptwerke. Entstanden ist die leicht überlebensgroße Skulptur 1913/14 in Paris, wo der Künstler mit seiner Familie seit 1910 für vier Jahre lebte und arbeitete. Es handelt sich um einen nackten, aufrecht stehenden, hoch aufragenden schlanken Mann mit stark überlängten Gliedmaßen, die sich von den Vorgaben menschlicher Anatomie und harmonischer Proportionen deutlich entfernen. Den Fuß seines stumpf angewinkeltes linken Beins hat er auf einem kleinen Felsbrocken abgestellt, dabei die Abwärtslinie des Oberschenkels weiterführend; der gerade Körper wird wiederum von dem dünnen rechten, nicht enden wollenden Bein getragen, das eine aufstrebende Lotrechte bis zu dem sich zwischen den Schultern erhebenden Kopf bildet.

Der gestreckte Körperbau des Jünglings „drückt kaum angreifbares Gefestigtsein aus“ (Stecker 2012, S. 315). Die weit auseinander gestellten Beine – es handelt sich um regelrechte Beinstelzen – wirken selbstbewusst und stabil in ihrer Statik. Werner Hofmann spricht davon, dass das vorgesetzte Bein „wie ein gotischer Strebepfeiler“ angesetzt sei (Hofmann 1958, S. 70). Der untere trapezförmige Teil der Figur trägt den aufgerichteten Körper mit den schmalen Hüften und kräftigen kantigen Schultern. Der rechte Arm ist, spitz angewinkelt und nach innen gewendet, in einer deklamatorisch-richtungsweisenden Geste erhoben, der linke Arm beinahe trotzig und wehrhaft vor den Oberkörper gelegt. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand weist die Figur hinter sich nach oben. Das Haupt verlässt die Lotrechte von rechtem Bein und aufrechtem Körper: Es ist leicht nach vorne gebeugt; die Gesichtszüge sind die eines sinnenden Denkers. In Verbindung mit dem ausgezehrten, gerüsthaften Körper erscheint er geradezu als „asketischer Grübler“ (Schubert 1990, S. 245). Seine Augen sind geöffnet, doch blicken sie ins Unbestimmte, scheinen ganz nach innen gerichtet zu sein und vermitteln dabei „unirritierbare Introvertiertheit“ (Stecker 2012, S. 315). Der Kopf ist „in einer an Rodin gemahnenden Unruhe geformt, die innere Unruhe ausdrucken soll“ (Schubert 1990, S. 182). Teresa Ende sieht die Figur in souveräner, „ja triumphal-heroischer Pose gezeigt, die an traditionelle Heldendarstellungen und Feldherrenporträts erinnert“ (Ende 2015, S. 269).

Der Emporsteigende Jüngling steigt allerdings nicht körperlich empor. „Die Beine der Gestalt sind weit auseinandergesetzt, aber sie schreiten nicht, sie sind unbeweglich, die Sohlen haften fest am Boden“ (Badt 1920, S. 178). Das linke Bein drückt nicht die notwendige Anspannung aus, um den jungen Mann emporheben zu wollen oder zu können. Auch wirkt der Körper insgesamt nicht so, als würde er im nächsten Moment zu einer sportiven Aktivität ansetzen. Nur der demonstrativ nach oben weisende Zeigegestus – ähnlich dem von Leonardo da Vincis Johannes der Täufer – offenbart seine Absicht zum „Hinauf“ als weiterer Weg oder die Stufen zu höherer Erkenntnis.

Leonardo da Vinci: Johannes der Täufer (1513/15); Paris, Louvre
Dietrich Schubert hat die Schriften Friedrich Nietzsches angeführt, um den Emporsteigenden Jüngling zu deuten. Das Gedankengut des deutschen Philosophen war in Künstler- und Intellektuellenkreisen um 1900 omnipräsent. Schubert verweist dabei vor allem auf Nietzsches Also sprach Zarathustra: „Aber es ist mit dem Menschen wie mit dem Baume. Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts in’s Dunkle, Tiefe – in’s Böse“ („Vom  Baum am Berge“). Für Schubert veranschaulicht Lehmbrucks Skulptur „eine dialektische Dynamik von Empor und Hinab, von Aufwärtswillen und Widerstand des Leibes, wie sie im »Zarathustra« dargelegt ist, von Steigen-Wollen und Verhaftet-Sein“ (Schubert 1990, S. 184). Diese Dialektik verdeutliche insbesondere der abwärts zeigende linke Fuß und der zu Boden gerichtete Blick der Augen. In der dünnen, entsinnlichten Figur sei die geistige Anspannung des Jünglings gestaltet, „sein Wille zu geistigem Wachstum und zur Überwindung der Tiefe, aus der er kommt, in die er schaut“ (Schubert 1990, S. 184).

Teresa Ende betont demgegenüber die androgynen Züge des Emporsteigenden Jünglings, der die weiblich konnotierten Attribute des Sinnens und Verharrens und die Charakteristika des Männlichen – Aufsteigen, Denken und Wollen – synthetisiere: „Indem der Emporsteigende Jüngling also Empfindsamkeit und geistige Reflexion, Einhalten oder Zögern und Entwicklung im Gestus des Aufsteigen-Wollens in einem hypermännlichen Leib zusammenführt, gestaltet er einen idealen ,ganzen‘ Mann. (...) Es ist die Inszenierung des holistischen männlichen Subjekts – sei es in Form des Wanderers, Denkers oder Künstlers – , das als geistig-schöpferisches entworfen wird und das sich seiner Vernuft- und Willenskraft bewusst ist. Dieses wird veranschaulicht über ein gleichfalls holistisches Körperbild“, bei dem das männliche Äußere „zugleich übersteigert realistisch und formal-stilisiert“ (Ende 2015, S.273/274) präsentiert werde.

Wilhelm Lehmbruck: Die Kniende (1911); Duisburg, Lehmbruck Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)

In manchen Partien zeigt der Emporsteigende Jüngling noch viel Verwandtschaft mit Lehmbrucks 1911 entstandener Skulptur der Knienden (siehe meine Post „Wilhelm Lehmbrucks ,gigantische Gliederpuppe‘“): im Verhältnis der Beine zum Oberkörper, im Motiv des rechten Armes, in dem zentralen Ausdrucksmoment von Kopf und Hand. Zusammen mit der Knienden markiert der Emporsteigende Jüngling – im Vergleich zur Großen Stehenden von 1910 (siehe meinen Post „Gelassene Melancholie“) – den Stilwandel, mit dem eine neue Phase im Werk Lehmbrucks einsetzte. 

Wilhelm Lehmbruck: Büste des Emporsteigenden (1914);
Duisburg, Lehmbruck Museum


Wilhelm Lehmbruck: Torso eines Denkers (1918);
Chemnitz, Kunstsammmlungen
Nach Vollendung des Emporsteigenden Jünglings veröffentlichte der Bildhauer ab 1914 – wie schön früher – Teile der Skulptur, überwiegend in Terracotta, und zwar als Büste des Emporsteigenden und in ganz wenigen Stücken auch den Kopf ohne Schultern. 1918 griff Lehmbruck nochmals auf den Jünglingskopf zurück, als er den Torso des sogenannten Denkers formte, dessen rudimentäre Hand sich vor der Brust zusammenkrallt

 

Literaturhinweise

Badt, Kurt: Die Plastik Wilhelm Lehmbrucks. In: Zeitschrift für bildende Kunst N.F. 31 (1920), S. 169-182;

Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck. Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015, S. 265-274;

Hofmann, Werner: Die Plastik des 20. Jahrhunderts. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1958, S.

Schubert, Dietrich: Die Kunst Wilhelm Lehmbrucks. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 19902, S. S. 177-190;

Stecker, Raimund: Durch Wilhelm Lehmbruck fällt ein helles Licht auf El Greco – und auch durch Otto Gutfreund. In: Beat Wismer/Michael Scholz-Hänsel (Hrsg.): El Greco und die Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012, S. 314-317.


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