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Peter Paul Rubens: Justus Lipsius und seine Schüler (1611); Florenz, Palazzo Pitti
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Peter Paul Rubens (1577–1640) dürfte sein Gruppenporträt Justus Lipsius und seine Schüler
(Palazzo Pitti, Florenz) vermutlich kurz nach dem Tod seines Bruders Philip am
28. August 1611 angefertigt haben. Um genau zu sein: Er hat durch Anstückung und Übermalungen die zweite Version eines ursprünglichen, früheren Gemäldes geschaffen, wie sich anhand einer Infrarot-Reflektografie nachweisen lässt.
Die Rubens-Brüder standen sich ungewöhnlich nahe und
waren beide Anhänger bzw. Schüler des Gelehrten und Philosophen Justus Lipsius (1547–1606),
der sich um die Erneuerung der stoischen Philosophie bemüht hatte. Der Maler
selbst steht in der heutigen Fassung links hinter den drei Sitzenden, die Rechte in die Hüfte gestemmt, und wendet sich dem Betrachter zu.
Sein Blick ist der eines Trauernden. Am Kopf des Tisches, auf dem geöffnete und
geschlossene Folianten liegen, präsidiert Justus Lipsius; links sehen wir
Philip Rubens, der eine Schreibfeder in der Rechten hält: Über seinem Kopf sprießen
Lorbeerzweige empor, die, so Otto von Simson, Philip als berühmten Humanisten
ehren. Rechts sitzt Jan Woverius, ein weiterer Schüler und Freund, dem Lipsius
die Fürsorge für seine unpublizierten Werke und Briefe anvertraute. Woverius hatte
gemeinsam mit Philip Rubens in Löwen dem „contubernium“ angehört, der Lehr-
und Lebensgemeinschaft im Haus von Lipsius. Der Maler zeigt Woverius im Profil
und mit einem offenen Buch in den Händen; ihm zu Füßen lagert ein Hund, dessen
Kopf und eine auf das Bein von Woverius gelegte Pfote sichtbar sind.
In einer Nische rechts über den Sitzenden steht
eine Büste des römischen Philosophen Seneca. Sie verweist auf dessen
philosophisches Vermächtnis, das alle vier Männer miteinander verband. Im
Hintergrund öffnet sich ein Vorhang und gibt den Blick auf die Ruinen des
Palatin frei, sicherlich eine Erinnerung an den gemeinsamen römischen Aufenthalt
der Brüder. Philip Rubens hatte 1604
in Rom promoviert und war dort zum Bibliothekar des Kardinals Ascania Colonna
avanciert. Die Geschwister teilten sich eine Wohnung in der Nähe der Piazza di
Spagna und verkehrten in einem intellektuell regen Freundeskreis, der vor allem
aus „tedesci“ bestand, aus Deutschen und Niederländern. Peter Paul kehrte im Dezember 1608 nach einem
neunjährigen Italienaufenthalt nach Antwerpen zurück; Philip wurde 1609 in ein
hohes Amt der Antwerpener Stadtregierung berufen.
Justus Lipsius, bekleidet mit einem Tabbard, dem pelzbesetzten
Löwener Professorentalar, scheint
eine Textstelle zu kommentieren: Seine rechte Hand ist im typischen Redegestus erhoben; der Zeigefinger seiner Linken liegt auf dem
geöffneten Buch vor ihm und verweist auf die Passage, die er gerade auslegt.
„Mit der nach oben geöffneten Rechten schafft Rubens’ Lipsius dabei einen Bezug zwischen dem Text und der antiken Ruinenlandschaft, die über seiner Hand und unmittelbar neben seinen Augen auftaucht“ (Heinen 2010, S. 27). Lipsius versetze sich, so Ulrich Heinen, während seiner Vorlesung im Kreis der Schüler imaginär selbst nach Rom; Rubens’ Bild beschwöre daher „ihre innige Gemeinschaft als geistige Reisegruppe auf ihrem Weg durch Zeit und Raum“ (Heinen 2010, S. 29).
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Alter Fischer/Sterbender Seneca (hellenistisch); Paris Louvre
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Den „sprechenden Arm“ des Lipsius hat Rubens von einer antiken Statue übernommen, die er in Rom gesehen hatte und von der es damals hieß, sie stelle den sterbenden Seneca dar.
Die einknickenden
Beine konnten als Zeichen der nachlassenden körperlichen Kräfte verstanden werden, und
der ausgestreckte rechte Arm schien die letzte Aktivität des Philosophen zu
bezeugen: das Sprechen und Lehren. Inzwischen
gilt die Statue allerdings als Darstellung eines afrikanischen Fischers, der in
der linken Hand vielleicht einen Eimer und in der rechten eine Angel hielt. Rubens zitiert die antike Skulptur, um auch auf diese Weise die Verbindung zwischen Lipsius und Seneca augenfällig zu machen.
Die Köpfe Senecas und seines Herausgebers, Interpreten und Verkünders Lipsius
bilden eine Diagonale, die auch die beiden geschlossenen Folianten auf dem
Tisch einbezieht. Ein wenig nach unten versetzt betonen die Köpfe der
Rubens-Brüder die andere Diagonale, die im Gegensatz zu den anderen beiden Männern
aus dem Bild heraus blicken. Woverius und der Maler wiederum rahmen als
trauernde Freunde die beiden Abgeschiedenen ein. Im Gegensatz zu den gesunden Gesichtszügen seiner Schüler wird Lipsius von Rubens mit hängenden Augenlidern, pergamenthaft dünner, gelblicher Haut und Anzeichen körperlicher Auszehrung dargestellt. Lipsius’ Aussehen ist damit dem der Büste Senecas angenähert, dessen Konstitution von Krankheit, harter Arbeit im Weinberg, Askese und den Mühen seiner Studien geprägt gewesen sein soll.
Neben der Büste des Philosophen steht eine
durchsichtige Vase mit vier Tulpen, zwei geöffneten und zwei geschlossenen. Sie
dürften als Sinnbild der vier Freunde gemeint sein: die beiden geschlossenen
für die Verstorbenen, Lipsius und Philip, die zwei blühenden für den Maler und
Woverius. Bedeuten die beiden geschlossenen Bücher dann vielleicht das
abgeschlossene Leben von Philipp und Lipsius? Sie könnten aber auch den
Rubens-Brüdern zugeordnet sein, die sich nach außen wenden, der Gegenwart und
ihren politischen Herausforderungen zu. Die elegische Abenddämmerung im Hintergrund kann als Verweis auf die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens verstanden werden; der hinter Philip sich an einer Säule emporrankende Lorbeer wiederum versinnbildlicht als immergrünes Gewächs die „Hoffnung auf Dauer über den Tod hinaus“ (Heinen 2010, S. 49). Bleibt noch der Woverius zugeordnete Hund; Als Symbol der Treue betont er, dass der Schüler sich nach dem Tod des Lipsius als vertrauenswürdiger Testamentsvollstrecker und zuverlässiger Verwalter seines literarisches Nachlasses erweisen wird.
Der Lehrmeister Lipsius sitzt vor einer Säule aus wertvollem farbigem Marmor, die
auf den Säulengang der stoischen Schule anspielt und zugleich Standfestigkeit
symbolisiert, eine der Kerntugenden der Stoiker. Die Büste daneben belegt nicht
nur die Verehrung der vier Männer für den römischen Philosophen – sie ist auch
als Ansporn gemeint: Seneca hatte selbst in „De otio“ darauf hingewiesen, wie wichtig
es sei, „sich zu den vortrefflichsten Männern zurückzuziehen und sich ein
Vorbild auszuwählen, nach dem man sein Leben ausrichtet“. An Lucilius schreibt Seneca,
er solle sich „einen hervorragenden Mann aussuchen und ihn ständig vor Augen
haben, um so zu leben, als ob jener zuschaue, und ständig so zu handeln, als ob
jener es mit ansehe“. So wie der antike Philosoph die stoische Kunst demonstriert hat, Leid und Tod klaglos und standhaft zu ertragen, und damit zum Leitstern für Lipsius geworden ist, so wird der humanistische Gelehrte seinerseits zum Vorbild für seine Schüler, angesichts der Wechselfälle und Härten des Lebens unerschüttert zu bleiben und schließlich auch das eigene Sterben gleichmütig hinzunehmen. In diesem Zusammenhang kann der Blick des Malers auf den Betrachter als
Einladung verstanden werden, sich der Runde und den Lehren ihres großen Meisters
Seneca anzuschließen. Diese geistige Zugehörigkeit gilt auch für Rubens selbst, denn er hatte Lipsius nie persönlich kennengelernt.
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Sebastiano del Piombo: Porträt des Ferry Carondelet und seiner Sekretäre (1511/12);
Madrid, Museo Thyssen-Bornemsiza |
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Rembrandt: Die Anatomie des Dr. Tulp (1632); Den Haag, Mauritshuis (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die gesamte Bildanlage von Rubens’ Gruppenbildnis – Lipsius im schweren pelzbesetzten Gewand, ein Landschaftsausblick, der im Schreiben mit der Feder innehaltende Philip bzw. der vom Studium aufblickende Woverius, beide niedriger sitzend als ihr Lehrer, der von links im Hintergrund hinzutretende und zum Betrachter sich umwendende Peter Paul, der schwere Teppich auf dem Tisch und die Säule hinter dem Porträtierten – orientiert sich sehr wahrscheinlich an einem Bildnis von Sebastiano del Piombo (1458–1547), nämlich dem Porträt des Ferry Carondelet und seiner Sekretäre von 1511/12. Aber auch auch Rubens’ Gemälde hat in Holland weitergewirkt (ebenso wie die Porträtform
seiner Geißblattlaube, dass den Maler mit seiner ersten Ehefrau Isabella
Brant zeigt; siehe meinen Post „Trautes Paar im Grünen“): unverkennbar z. B. in Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp von
1632.
Literaturhinweise
Brandt, Reinhard: Philosophie in Bildern. Von
Giorgione bis Magritte. DuMont Buchverlag, Köln 2000, S. 240-245;
Büttner, Nils: Rubens: Verlag C.H. Beck, München
2007;
Heinen, Ulrich: Stoisch Sterben lernen – Rubens’ Memorialbild auf Justus Lipsius und Philip Rubens. In: Katlijne van der Stighelen u.a. (Hrsg.), Pokerfaced. Flemish and Dutch Baroque Faces Unveiled. Brepols Publishers, Turnhout 2010, S. 25-68;
Sauerländer, Willibald: Der katholische Rubens.
Heilige und Märtyrer. Verlag C.H. Beck, München 2011, S. 15-31;
Warnke, Martin: Rubens. Leben und Werk. DuMont
Buchverlag, Köln 2011, S. 69-75.
(zuletzt bearbeitet am 7. Oktober 2021)