Dienstag, 19. Oktober 2021

Monumental gekreuzigt – das Slackersche Kruzifix des Veit Stoß in Krakau (1491)

Veit Stoß: Slackersches Kruzifix (um 1491), Krakau, Marienkirche
Der polnische Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) war über Jahrhunderte vor allem wegen seiner Kruzifixe berühmt. Nach den Holzkruzifixen aus den Nürnberger Kirchen St. Lorenz und St. Sebald (siehe meinen Posts „Auf die Trommel gespannt“ und Aufbäumen im Todeskampf) sei nun sein früheres, in Krakau entstandenes steinernes Kruzifix in der dortigen Marienkirche vorgestellt, ein Auftrag des königlichen polnischen Münzmeisters Heinrich Slacker (um 1491). Die Gestalt Christi misst hier gewaltige 2,53 Meter, das Kreuz selbst fast 4 Meter. Der Kruzifixus ist seit dem 17. Jahrhundert in dem heutigen Altar mit vergoldetem Jerusalem-Hintergrund eingefügt. Bis vor Kurzem trug das Haupt Christi eine riesige naturalistische Krone aus echten Dornen – wohl ebenfalls eine barocke Hinzufügung. (In jüngerer Zeit wurde sie durch ein Exemplar aus Metall ersetzt.) Mit diesem überlebensgroßen Werk bewies Veit Stoß, wie virtuos er das Material Stein beherrschte, und schuf das erste seiner von würdevoller Schönheit und großem anatomischen Realismus gekennzeichneten Kruzifixe, auf denen sein Ruhm in der Frühen Neuzeit basierte.

Christus hängt mit völlig waagrecht ausgestreckten Armen am Kreuz. Das leicht zur Seite geneigte Haupt ist nach vorn mit dem Kinn auf die Brust gefallen. Der kurze Vollbart, dessen Strähnen sich an den Enden in einzelnen Locken aufrollen, bedeckt den unteren Teil der Wangen und umrahmt das Kinn auf der Brust. Das Haar ist in der Mitte gescheitelt und liegt in Wellen auf dem Schädel und im Nacken. Rechts fällt es, aus mehreren spiralförmig gedrehten Locken zu einer großen Strähne zusammengefasst, bis über die Achselhöhle auf die Brust herab. Links sind die sorgfältig ausgearbeiteten gewellten Haare in den Nacken und auf den Rücken zurückgeschoben; eine kleine Locke ist über dem Auge abgebrochen. Der gequälte Mund steht offen, sodass die Zahnreihen sichtbar werden. Der Blick ist gebrochen, die Augen sind bis auf einen kleinen Spalt geschlossen: Wir sehen den toten Christus. Die Stirn, die Lider über und unter den Augen sowie die Partien neben den Augen sind von tiefen waagrechten Furchen durchzogen. Einzelne Falten umkreisen in den stark eingefallenen Wangen die Backenknochen von den senkrechten Stirnfalten über die Nase bis zum Bartansatz.

Die Arme sind zwischen den Nägeln so straff ausgespannt, dass das Haupt nicht zwischen die Schultern einsinken kann. Muskeln und Sehnen der Arme sind extremen Zerrungen ausgesetzt. Die linke Schulter Christi wirkt wie ausgekugelt. Der Körper Christi hängt gerade vor dem Kreuzbalken herab. Schulterblätter, Gesäß und Ferse des linken Fußes liegen dem Kreuz unmittelbar auf. Die Knie sind zwar nicht auffallend durchgedrückt, treten aber nicht wie bei den meisten gotischen Kruzifixen nach vorn vor. Die Gestalt ist ganz gerade ausgerichtet, die Hüfte nicht zur Seite herausgedrückt. Der Brustkorb Jesu wölbt sich stark nach vorne – „er wirkt wie zum Einatmen aufgeblasen“ (Kahsnitz 1997, S. 133). Unter der Haut zeichnen sich die Rippen ab, vorn auffallend waagrecht, in der Seitenansicht schräg aufsteigend. Die Haut ist gleichsam unmittelbar über die Rippenknochen gespannt, ohne dass eine Fleisch- oder Muskelschicht dazwischen läge. Der untere Rippenrand tritt deutlich hervor, die Brust ist durch die Medianlinie bis über den Nabel nach unten senkrecht geteilt. Unterhalb der eingezogenen Taille – sichtbar vor allem in der Seitenansicht mit dem Hohlkreuz – ist der klein gebildete Unterbauch markant modelliert, außerdem von einem Geflecht blutgefüllter Adern überzogen. Ähnlich hart wie die Rippen treten die Hüftknochen knöchern über dem Lendenschurz aus dem Fleisch hervor. 

Die Beine sind lang und schlank, die Kniegelenke deutlich herausgearbeitet. Der vordere rechte Fuß ist über den linken gebogen, die Zehen weichen zum Kreuz zurück. Die Gesamtform der Beine prägen die scharfen, leicht gebogenen und lang sich hinziehenden Schienbeinknochen. Die Fußwunden sind wie die der Hände nicht aufgerissen. Gegenüber dem mächtigen Thorax wirken die langen Beine, schmalen Fesseln und Füße geradezu zierlich. In makelloser Unversehertheit lässt der Körper außer der Annagelung keinerlei Verwundung oder Spuren der erlittenen Passion erkennen, wie sie im Antlitz abzulesen sind. Unter dem rechten Rippenrand klafft freilich die Brustwunde.

Veit Stoß: Holzkruzifix (1520), Nürnberg, St. Sebald
Ein großes, faltenreiches und von tiefschattenden Furchen durchzogenes Lendentuch umhüllt Unterleib und Oberschenkel. Seine Stoffbahnen sind als schmaler Streifen über die Hüftknochen gezogen und oberhalb des linken Beines straff verschlungen. Dort sind sie so gegeneinander gedreht, dass die beiden langen Enden in entgegengesetzter Richtung weiterführen: Das eine wird über dem Unterleib und dem rechten Oberschenkel schräg nach unten geführt, um sich dann in knitterigem Bausch zu einer großen Ohrmuschelform frei im Raum zu entfalten. Das andere ist um das Gesäß und, von hinten zwischen den Beinen hervorkommend, über den linken Oberschenkel geschlagen. In kunstvoller Verschränkung und differenziertem Richtungswechsel wiederholen die ausfahrenden Enden die gegensätzliche Bewegung des geschürzten Tuches vor dem Leib. „Das Lendentuch ist in seiner großformatigen, aber zugleich detailreichen Bildung, in seiner straffen Führung bei weit ausladender Entfaltung ein Formgebilde eigenen Ranges, das zur Monumentalität des Kruzifixus nicht unwesentlich beiträgt“ (Kahsnitz 1997, S. 135).

Rogier van der Weyden: Kreuzigungstriptychon (um 1443/45), Wien, Kunsthistorisches Musum
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Frei im Raum um den Leib Christi schwingende oder waagrecht flatternde Lendentuch-Enden begegnen uns in der Tafelmalerei seit Rogier van der Weyden, und zwar beim Wiener Triptychon von etwa 1440 (siehe meinen Post „Aus eins mach drei“) und bei der späten Kreuzigung in Philadelphia. In der niederländisch geprägten süddeutschen Malerei wird das Motiv dann im weiteren 15. Jahrhundert aufgegriffen. In der Skulptur bildet das Triumphkreuz in der St. Martins-Basilika im belgischen Halle von 1430/40 eines der frühesten Beispiele, bei dem sich der Lendentuchzipfel vom Körper Christi löst und wie vom Wind hochgeweht wird.

Niclaus Gerhaert: Steinkruzifix (1467); Baden-Baden, Schlosskirche
Das Slackersche Kruzifix spiegelt ohne Frage Veit Stoß’ Auseinandersetzung mit dem steinernen Gekreuzigten von Niclaus Gerhart in Baden-Baden aus dem Jahr 1467 (siehe meinen Post „,Ich kann alle meine Gebeine zählen‘“). Von Niclaus Gerhaert stammt auch die Holzskulptur von St. Georg in Nördlingen aus dem Jahr 1462. Bei beiden Kruzifixen hängt der Leib Christi wie bei dem in Krakau gerade vor dem Holzbalken, ohne seitliches Ausbiegen und Abknicken der Knie nach vorn, jedoch mit deutlicher erhobenen Armen. Ganz nah kommt das Stoßsche Werk dem Baden-Badener Kruzifix wie dem verwandten Nördlinger auch in der Wiedergabe der Haut, die sich über die Knochen spannt, und der Adern, im Wechselspiel von angespannten und eingefallenen Muskelteilen, in der präzisen Charakterisierung des menschlichen Leibes, wie es sie bisher in der mittelalterlichen Kunst nicht gegeben hatte.


Literaturhinweise

Eser, Thomas: Veit Stoß. Ein polnischer Schwabe wird Nürnberger. In: Brigitte Korn u.a. (Hrsg.), Von Nah und Fern. Zuwanderer in die Reichsstadt Nürnberg. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 85-90;
Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-179:

Kammel, Frank, Matthias: Künstler, Spekulant, Urkundenfälscher. Aufstieg und Fall des Veit Stoß. In: Frank Matthias Kammel (Hrsg.), Kunst & Kapitalverbrechen. Veit Stoß, Tilman Riemenschneider und der Münnerstädter Altar. Hirmer Verlag, München 2002, S. 51-90.


Mittwoch, 6. Oktober 2021

Stoisches Andachtsbild – Rubens porträtiert „Justus Lipsius und seine Schüler“


Peter Paul Rubens: Justus Lipsius und seine Schüler (1611); Florenz, Palazzo Pitti
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Peter Paul Rubens (1577–1640) dürfte sein Gruppenporträt Justus Lipsius und seine Schüler (Palazzo Pitti, Florenz) vermutlich kurz nach dem Tod seines Bruders Philip am 28. August 1611 angefertigt haben. Um genau zu sein: Er hat durch Anstückung und Übermalungen die zweite Version eines ursprünglichen, früheren Gemäldes geschaffen, wie sich anhand einer Infrarot-Reflektografie nachweisen lässt. 
Die Rubens-Brüder standen sich ungewöhnlich nahe und waren beide Anhänger bzw. Schüler des Gelehrten und Philosophen Justus Lipsius (1547–1606), der sich um die Erneuerung der stoischen Philosophie bemüht hatte. Der Maler selbst steht in der heutigen Fassung links hinter den drei Sitzenden, die Rechte in die Hüfte gestemmt, und wendet sich dem Betrachter zu. Sein Blick ist der eines Trauernden. Am Kopf des Tisches, auf dem geöffnete und geschlossene Folianten liegen, präsidiert Justus Lipsius; links sehen wir Philip Rubens, der eine Schreibfeder in der Rechten hält: Über seinem Kopf sprießen Lorbeerzweige empor, die, so Otto von Simson, Philip als berühmten Humanisten ehren. Rechts sitzt Jan Woverius, ein weiterer Schüler und Freund, dem Lipsius die Fürsorge für seine unpublizierten Werke und Briefe anvertraute. Woverius hatte gemeinsam mit Philip Rubens in Löwen dem „contubernium“ angehört, der Lehr- und Lebensgemeinschaft im Haus von Lipsius. Der Maler zeigt Woverius im Profil und mit einem offenen Buch in den Händen; ihm zu Füßen lagert ein Hund, dessen Kopf und eine auf das Bein von Woverius gelegte Pfote sichtbar sind.
In einer Nische rechts über den Sitzenden steht eine Büste des römischen Philosophen Seneca. Sie verweist auf dessen philosophisches Vermächtnis, das alle vier Männer miteinander verband. Im Hintergrund öffnet sich ein Vorhang und gibt den Blick auf die Ruinen des Palatin frei, sicherlich eine Erinnerung an den gemeinsamen römischen Aufenthalt der Brüder. Philip Rubens hatte 1604 in Rom promoviert und war dort zum Bibliothekar des Kardinals Ascania Colonna avanciert. Die Geschwister teilten sich eine Wohnung in der Nähe der Piazza di Spagna und verkehrten in einem intellektuell regen Freundeskreis, der vor allem aus „tedesci“ bestand, aus Deutschen und Niederländern. Peter Paul kehrte im Dezember 1608 nach einem neunjährigen Italienaufenthalt nach Antwerpen zurück; Philip wurde 1609 in ein hohes Amt der Antwerpener Stadtregierung berufen.
Justus Lipsius, bekleidet mit einem Tabbard, dem pelzbesetzten Löwener Professorentalar, scheint eine Textstelle zu kommentieren: Seine rechte Hand ist im typischen Redegestus erhoben; der Zeigefinger seiner Linken liegt auf dem geöffneten Buch vor ihm und verweist auf die Passage, die er gerade auslegt. „Mit der nach oben geöffneten Rechten schafft Rubens Lipsius dabei einen Bezug zwischen dem Text und der antiken Ruinenlandschaft, die über seiner Hand und unmittelbar neben seinen Augen auftaucht“ (Heinen 2010, S. 27). Lipsius versetze sich, so Ulrich Heinen, während seiner Vorlesung im Kreis der Schüler imaginär selbst nach Rom; Rubens’ Bild beschwöre daher „ihre innige Gemeinschaft als geistige Reisegruppe auf ihrem Weg durch Zeit und Raum“ (Heinen 2010, S. 29).  
Alter Fischer/Sterbender Seneca (hellenistisch); Paris Louvre
Den
sprechenden Arm des Lipsius hat Rubens von einer antiken Statue übernommen, die er in Rom gesehen hatte und von der es damals hieß, sie stelle den sterbenden Seneca dar.  Die einknickenden Beine konnten als Zeichen der nachlassenden körperlichen Kräfte verstanden werden, und der ausgestreckte rechte Arm schien die letzte Aktivität des Philosophen zu bezeugen: das Sprechen und Lehren. Inzwischen gilt die Statue allerdings als Darstellung eines afrikanischen Fischers, der in der linken Hand vielleicht einen Eimer und in der rechten eine Angel hielt. Rubens zitiert die antike Skulptur, um auch auf diese Weise die Verbindung zwischen Lipsius und Seneca augenfällig zu machen.
Die Köpfe Senecas und seines Herausgebers, Interpreten und Verkünders Lipsius bilden eine Diagonale, die auch die beiden geschlossenen Folianten auf dem Tisch einbezieht. Ein wenig nach unten versetzt betonen die Köpfe der Rubens-Brüder die andere Diagonale, die im Gegensatz zu den anderen beiden Männern aus dem Bild heraus blicken. Woverius und der Maler wiederum rahmen als trauernde Freunde die beiden Abgeschiedenen ein. Im Gegensatz zu den gesunden Gesichtszügen seiner Schüler wird Lipsius von Rubens mit hängenden Augenlidern, pergamenthaft dünner, gelblicher Haut und Anzeichen körperlicher Auszehrung dargestellt. Lipsius Aussehen ist damit dem der Büste Senecas angenähert, dessen Konstitution von Krankheit, harter Arbeit im Weinberg, Askese und den Mühen seiner Studien geprägt gewesen sein soll.
Neben der Büste des Philosophen steht eine durchsichtige Vase mit vier Tulpen, zwei geöffneten und zwei geschlossenen. Sie dürften als Sinnbild der vier Freunde gemeint sein: die beiden geschlossenen für die Verstorbenen, Lipsius und Philip, die zwei blühenden für den Maler und Woverius. Bedeuten die beiden geschlossenen Bücher dann vielleicht das abgeschlossene Leben von Philipp und Lipsius? Sie könnten aber auch den Rubens-Brüdern zugeordnet sein, die sich nach außen wenden, der Gegenwart und ihren politischen Herausforderungen zu. Die elegische Abenddämmerung im Hintergrund kann als Verweis auf die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens verstanden werden; der hinter Philip sich an einer Säule emporrankende Lorbeer wiederum versinnbildlicht als immergrünes Gewächs die „Hoffnung auf Dauer über den Tod hinaus“ (Heinen 2010, S. 49). Bleibt noch der Woverius zugeordnete Hund; Als Symbol der Treue betont er, dass der Schüler sich nach dem Tod des Lipsius als vertrauenswürdiger Testamentsvollstrecker und zuverlässiger Verwalter seines literarisches Nachlasses erweisen wird.
Der Lehrmeister Lipsius sitzt vor einer Säule aus wertvollem farbigem Marmor, die auf den Säulengang der stoischen Schule anspielt und zugleich Standfestigkeit symbolisiert, eine der Kerntugenden der Stoiker. Die Büste daneben belegt nicht nur die Verehrung der vier Männer für den römischen Philosophen – sie ist auch als Ansporn gemeint: Seneca hatte selbst in „De otio“ darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, „sich zu den vortrefflichsten Männern zurückzuziehen und sich ein Vorbild auszuwählen, nach dem man sein Leben ausrichtet“. An Lucilius schreibt Seneca, er solle sich „einen hervorragenden Mann aussuchen und ihn ständig vor Augen haben, um so zu leben, als ob jener zuschaue, und ständig so zu handeln, als ob jener es mit ansehe“. So wie der antike Philosoph die stoische Kunst demonstriert hat, Leid und Tod klaglos und standhaft zu ertragen, und damit zum Leitstern für Lipsius geworden ist, so wird der humanistische Gelehrte seinerseits zum Vorbild für seine Schüler, angesichts der Wechselfälle und Härten des Lebens unerschüttert zu bleiben und schließlich auch das eigene Sterben gleichmütig hinzunehmen. In diesem Zusammenhang kann der Blick des Malers auf den Betrachter als Einladung verstanden werden, sich der Runde und den Lehren ihres großen Meisters Seneca anzuschließen. Diese geistige Zugehörigkeit gilt auch für Rubens selbst, denn er hatte Lipsius nie persönlich kennengelernt.
Sebastiano del Piombo: Porträt des Ferry Carondelet und seiner Sekretäre (1511/12);
Madrid, Museo Thyssen-Bornemsiza
Rembrandt: Die Anatomie des Dr. Tulp (1632); Den Haag, Mauritshuis (für die Großansicht einfach anklicken)
Die gesamte Bildanlage von Rubens’ Gruppenbildnis – Lipsius im schweren pelzbesetzten Gewand, ein Landschaftsausblick, der im Schreiben mit der Feder innehaltende Philip bzw. der vom Studium aufblickende Woverius, beide niedriger sitzend als ihr Lehrer, der von links im Hintergrund hinzutretende und zum Betrachter sich umwendende Peter Paul, der schwere Teppich auf dem Tisch und die Säule hinter dem Porträtierten – orientiert sich sehr wahrscheinlich an einem Bildnis von Sebastiano del Piombo (1458–1547), nämlich dem Porträt des Ferry Carondelet und seiner Sekretäre von 1511/12. Aber auch auch Rubens Gemälde hat in Holland weitergewirkt (ebenso wie die Porträtform seiner Geißblattlaube, dass den Maler mit seiner ersten Ehefrau Isabella Brant zeigt; siehe meinen Post „Trautes Paar im Grünen“): unverkennbar z. B. in Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp von 1632.

Literaturhinweise
Brandt, Reinhard: Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte. DuMont Buchverlag, Köln 2000, S. 240-245;
Büttner, Nils: Rubens: Verlag C.H. Beck, München 2007;
Heinen, Ulrich: Stoisch Sterben lernen Rubens Memorialbild auf Justus Lipsius und Philip Rubens. In: Katlijne van der Stighelen u.a. (Hrsg.), Pokerfaced. Flemish and Dutch Baroque Faces Unveiled. Brepols Publishers, Turnhout 2010, S. 25-68;
Sauerländer, Willibald: Der katholische Rubens. Heilige und Märtyrer. Verlag C.H. Beck, München 2011, S. 15-31;
Warnke, Martin: Rubens. Leben und Werk. DuMont Buchverlag, Köln 2011, S. 69-75.

(zuletzt bearbeitet am 7. Oktober 2021)

Dienstag, 5. Oktober 2021

Die schönen Sünder – Tilman Riemenschneiders Würzburger Skulpturen von Adam und Eva

Tilman Riemenschneider: Eva (1492/93);
Würzburg, Mainfränkisches Museum
Tilman Riemenschneider, um 1465 in Heiligenstadt im Eichsfeld geboren, hat nicht nur herausragende Holzaltäre geschaffen, wie seine beiden berühmtesten in Creglingen und Rothenburg ob der Tauber oder auch den Münnerstädter Altar, sondern ebenso zahlreiche Steinbildwerke. Dazu zählen etwa die 1493 entstandenen Portalfiguren von Adam und Eva an der Marienkapelle in Würzburg sowie sein frühestes Werk, das Grabmal des Eberhard von Grumbach mit dem Todesdatum 1487, außerdem das Denkmal des Fürstbischofs Rudolf von Scherenberg von 1499 im Würzburger Dom, das Kaisergrabmal Heinrichs II. im Bamberger Dom (1499-1513) und schließlich das Relief der Beweinung Christi in Maidbronn (1520-1522). Riemenschneiders eigenhändige Arbeiten zeichnen sich dabei in höchstem Maß durch äußerste Präzision in der bildhauerischen Ausführung und der Wiedergabe von Details aus, wie sie von keinem anderen Meister dieser Zeit bekannt ist.

Tilman Riemenschneider: Adam (1492/93); Würzburg, Mainfränkisches Museum
Bereits 1483 kam Riemenschneider als junger Geselle nach Würzburg. 1485 wurde er selbständiger Meister und Bürger der Stadt und gründete seine eigene Werkstatt. In Würzburg blieb Riemenschneider nach einem sehr produktiven Arbeitsleben und vielen Ämtern, die er innehatte, bis zu seinem Tod am 7. Juli 1531. Sein erster archivarisch belegter Auftrag für Würzburg waren die bereits erwähnten überlebensgroßen Steinbildwerke Adams und Evas mit den dazugehörigen Konsolen und Tabernakeln über ihnen, die heute im Mainfränkischen Museum auf der Festung Marienberg ausgestellt sind. Seit 1975 befinden sich am ursprünglichen Aufstellungsort an der Marienkapelle von dem Bildhauer Ernst Singer geschaffene Kopien der Figuren. Riemenschneiders Figurenschmuck für die Marienkapelle ist nahezu der letzte große Auftrag für Kathedralplastik in Deutschland gewesen, die von der frühesten Gotik bis hierher an ihr Ende zu den wichtigsten Aufgaben der Bildhauerei gehörte.

Der 189 cm hohe Adam ist als schlanke, feingliedrige Gestalt mit breiten Schultern, bartlosem Gesicht und beeindruckender Lockenpracht dargestellt. Die schmale Hüfte ist nach links ausgestellt, der Blick aus mandelförmigen Augen leicht nach links oben gewandt. Adams Scham wird von einem Feigenblatt verdeckt. Seine geringelten Locken verdienen besondere Beachtung: Die einzelnen Strähnen sind à jour ausgeführt, sodass der Eindruck entsteht, sie wären aus Holz geschnitzt. Diese Haarbehandlung der tief unterschnittenen und durchbrochen gearbeiteten Locken ist charakteristisch für Riemenschneider.

Die mit 188 cm nur wenig kleinere Eva ist in Standmotiv und Körperhaltung spiegelbildlich zu Adam gestaltet. Gegenüber der beinahe knabenhaften Erscheinung des Mannes sind bei ihr mit nach rechts ausgestelltem Becken, rundem Bauch und kleinen Brüsten deutlich die weiblichen Körperformen betont. Evas Gesicht zeigt sich als fülliges Oval mit weichen Zügen, gerahmt von ihrem lang gewellten Haar, das von den Schultern bis zur Hüfte herabfällt. In der Hand des rechten angewinkelten Arms hält sie einen Apfel, zu ihren Füßen ringelt sich eine Schlange – beides eindeutige Hinweise auf den Sündenfall. Die beiden Gestalten entsprechen ganz dem Schönheitsideal der Spätgotik. Ohne festen Tritt, fast schwebend scheinen sie – einst eingebunden in ein architektonisches Gefüge – über dem knapp bemessenen Sockel zu stehen. Die gut erhaltenen Gesichter zeichnen sich durch zarteste Linien an Mund und Augen aus; selbst die inneren Augenwinkel sind durch kleine Kugeln markiert. Die Skulptur Adams wurde, gemeinsam mit der Figur des Evangelisten Johannes aus der Predella des Münnerstädter Altars, Vorbild für sämtliche Darstellungen jugendlicher Männer im Werk Riemenschneiders. Evas Gesichtstypus wiederum bildete die Vorlage für fast alle jugendlichen weiblichen Gestalten des Würzburger Meisters.

Tilman Riemenschneider: Der Evangelist Johannes (1490/92);
Berlin, Bode-Museum

Die Skulpturen sind in weiß-grauem Sandstein von gleichmäßiger, fleckenloser Struktur aus einem Werkblock und vollplastisch ausgearbeitet. Als Folge von Verwitterung ist bei beiden Figuren die ursprüngliche bildhauerische Oberfläche nur noch wenigen Stellen unversehrt; intakt sind – geschützt durch die Baldachine – allein noch die Köpfe, außerdem noch Partien von Adams rechter Schulter bis zum Bauch sowie von Evas linker Brusthälfte bis zum Bauch und linken Oberschenkel. An Adam wurden fast der gesamte rechte Arm und die Beine unterhalb der Knie ergänzt (einschließlich der Standfläche), bei Eva der rechte Arm ab Mitte des Oberarms, die Füße mitsamt der Standfläche sowie die Schlange. Alle sichtbaren Flächen und auch die Rückseiten zeigen in den noch intakten Bereichen eine glatte Oberfläche, die keinerlei Werkzeugspuren erahnen lässt.

Maria Magdalena (Münnerstädter Altar, 1490/92); München,
Bayerisches Nationalmuseum (für die Großansicht einfach anklicken)
In die oberen Teile der Baldachine fügte Riemenschneider über der Adam-Skulptur eine Verkündigungsgruppe und über der Statue der Eva eine Begegnung von Maria Magdalena mit Jesus am Ostermorgen ein, das sogenannte Noli me tangere. Die erhaltenen, stark verwitterten Fragmente wurden ebenfalls ins Mainfränkische Museum von Würzburg überführt. Inhaltlich verweist die Verkündigung darauf, dass die durch den Sündenfall in die Welt gekommene Erbsünde durch die Menschwerdung Christi, den „anderen Adam“, überwunden ist. Gegenüber wurde die bekehrte Sünderin Maria Magdalena in Beziehung zur Eva gesetzt. Parallel zu den Arbeiten für die Marienkapelle hat Riemenschneider die geschnitzte Magdalena des Münnerstädter Altars der steinernen Eva auch formal vergleichbar gestaltet.

Literaturhinweise

Buczynski, Bodo: Der Skulpturenschmuck Riemenschneiders für die Würzburger Marienkapelle. Eine Bestandsaufnahme. In: Claudia Lichte (Hrsg.), Tilmann Riemenschneider – Werke seiner Blütezeit. Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2004, S. 175-193;

Buczynski, Bodo: Oberflächen und Unterzeichnung – technologische Aspekte der Kunst um 1500. Die Steinbildwerke Tilman Riemenschneiders im technologischen Kontext zu Werken Niclaus Gerhaerts von Leyden. In: Tobias Kunz (Hrsg.), Nicht die Bibliothek. sondern das Auge. Westeuropäische Skulptur und Malerei an der Wende zur Neuzeit. Beiträge zu Ehren von Hartmut Krohm. Michael Imhof Verlag 2008, S. 187–206;

Krohm, Hartmut (Hrsg.): Zum Frühwerk Tilman Riemenschneiders. Eine Dokumentation. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1982. S. 86-87

Tilman Riemenschneider: Frühe Werke. Ausstellung im Mainfränkischen Museum Würzburg vom 5. September bis 1. November 1981. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1981;

Vetter, Ewald M.: Tilman Riemenschneiders Adam und Eva und die Restaurierung der Marienkapelle in Würzburg. In: Pantheon 49 (1991), S. 74-87.

(zuletzt bearbeitet am 23. Juni 2024)