Montag, 30. Mai 2022

Der korrodierte Christus – das Werdener Kruzifix (um 1060)

Werdener Kruzifix (um 1060); Essen-Werden, Schatzkammer von St. Ludgerus
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Man muss keineswegs immer nach München, Berlin oder Dresden reisen, um bedeutende Kunstwerke zu sehen – manches befindet sich direkt vor der Haustür, wie etwa das Werdener Kruzifix, das heute in der Schatzkammer von St. Ludgerus in Essen-Werden zu bewundern ist. Die gegossene Skulptur mit einer Höhe von 107,5 cm und einer Spannweite von 96 cm zählt zu den markantesten noch erhaltenen Bildwerken des 11. Jahrhunderts. Bei keinem anderen plastischen Großbildwerk dieser Epoche herrscht so viel Einhelligkeit bezüglich der Datierungsfrage: Das Werdener Kruzifix ist um 1060 in einer Werdener Werkstatt angefertigt worden und gehört somit der spätottonischen bzw. frühsalischen Zeit an.

Schmale Proportionen in strenger Symmetrie
Das Werdener Kruzifix zeigt einen weit eher aufrecht stehenden als vom Kreuz herabhängenden Christus. Die schlanken, überlängten Arme sind schwingengleich (Grimme 1985, S. 71) ausgespannt, richten sich aber nur wenig nach oben; das Haupt ist nach vorne auf die Brust gesunken, die plastisch vorgewölbten Augen sind geschlossen. Die Haare des Gekreuzigten liegen in feinen, leicht gewellten Strähnen auf dem Schädel und verlaufen gleichmäßig gescheitelt über die Schultern. Auf beiden Seiten fällt, die Ohren freilassend, jeweils eine gedrehte Haarsträhne herab. Die scharf gezogene Scheitellinie des Haupthaars leitet über die prägnante Vertikalfalte in der Mitte der Stirn unmittelbar hin zu dem schmalen, langgezogenen Nasenbein und von hier zum Brustbein. Die Gestaltung der in feinen Riefen gravierten Haare wiederholt sich am Oberlippen- wie auch am Kinnbart, der mit zungenförmigen Locken versehen ist. Zusammen rahmen sie die zu einem engen Schlitz reduzierten Lippen. Der flache Oberkörper ist durch eine streng symmetrische, grafische Linienführung der Rippenbögen gekennzeichnet. Der Bauch wölbt sich nur leicht vor. Eine Seitenwunde ist nicht vorhanden.

Nur die leichte Neigung des Kopfes durchbricht die strenge Vertikale des Körpers

Cingulum und Lendentuch sind ineinander verschlungen und bilden an der rechten Seite einen filigran gestalteten Knoten aus. Das Lendentuch fällt vorne in langen, nur flach ausgebildeten Schichtfalten bis knapp über die Knie des Gekreuzigten. Gesäumt ist es von einer zweigeteilten Borte, die durch diagonal gekreuzte Schraffierungen eine Stickborte andeutet. Sie findet sich in einfacher Form am oberen Abschluss wieder.

An die Stelle der sich durch den Stoff abzeichnenden Oberschenkel treten lange Faltenbahnen mit Omega-Abschluss. Überlängt wie die übrigen Proportionen sind auch die Unterschenkel. Die Schienbeine Christi sind gratartig gestaltet, die Knie werden durch eingetiefte Bögen markiert. Die symmetrisch geformten Füße fallen unten leicht auseinander. Bestimmend für die Figur ist die langgestreckte Vertikale des streng frontal präsentierten Körpers, durch die ausgestreckten Arme zum Kreuz ergänzt und lediglich durch den leicht geneigten Kopf gemildert. „Die Dominanz der Senkrechten ist im Gesamten  wie in den Einzelheiten nachdrücklich unterstützt: Die Geschlossenheit der Umrisse steigert das Aufwachsen des ohnehin schmal proportionierten Körpers“ (Wundram 2003, S. 11). Insgesamt entsteht der Eindruck von Schwerelosigkeit, in der Christus vor dem Kreuz zu schweben scheint (Grimme 1985, S. 71). Wie das ursprüngliche Kreuz aussah, an dem der Corpus hing, ist nicht bekannt.

Gefertigt wurde das Kruzifix im Wachsausschmelzverfahren; dabei sind Arme, Beine und Rumpf separat gegossen worden. Die Arme wurden durch Zapfen mit den Schultern verbunden; die Beine sind heute mit modernen Schrauben am Lendentuch befestigt. Alle auf der Vorderseite sichtbaren Gravuren waren bereits im Wachsmodell angelegt.

Die heutige Farbe der Oberfläche ließ den Betrachter bislang annehmen, das Werdener Kruzifix sei ein Bronzeobjekt. Die jüngste Untersuchung des Materials in 2016 ergab allerdings, dass es sich keineswegs um Bronze, sondern um eine hoch kupferhaltige Legierung handelt. Zudem wurde das rötliche Metall nach dem Guss vollständig vergoldet; die originale Vergoldung ist unter der dunklen Schicht aus Kupferkorrossionsprodukten und Verschmutzung noch erhalten. Die dunkle Auflage besteht erst seit etwa 200 Jahren. Ursache für die Korrosion kann, neben Ruß, die Luftverschmutzung seit Beginn des Industriezeitalters sein.

Die metallurgische Untersuchung erfolgte im Rahmen einer Restaurierung des Werdener Kruzifix: 2008 war das Kunstwerk aufgrund eines Brandes im Ostflügel des Werdener Abteigebäudes, in dem die Schatzkammer untergebracht ist, evakuiert. Bei einem Sturz während der Abnahme brach der Mittelfinger der rechten Hand ab, und die rechte Schulter wurde eingedrückt. Weil die Zeichnung der Muskulatur, die an der Brust des Korpus deutlich ausgebildet ist, an den Armen nicht aufgenommen wird, wurde unter Kunsthistorikern immer wieder diskutiert, ob die Arme vielleicht nicht original sind. Die Untersuchung von 2016 konnte hier Klarheit schaffen: Körper, Arme und Beine wurden aus identischem Material gegossen, so dass die Arme als ursprünglich sind.

Eines der insgesamt vier erhaltenen Werdener Steinreliefs (um 1060)
Buchdeckel des Essener Theophanu-Evangeliars (1. Hälfte des 11. Jhs.);
Essen, Domschatzkammer
Kruzifix als Initiale T aus einem Kölner Evangeliar (Anfang des 11. Jhs.);
Freiburg, Universitätsbibliothek
Stilistisch ist das Werdener Kruzifix eng verwandt mit den sogenannten Werdener Steinreliefs, die ebenfalls in der Schatzkammer von St. Ludgerus ausgestellt sind. An den Gewändern der Steinreliefs finden sich die gleichen Schichtfalten wie am Lendentuch und auch die gleichen bortenartigen Verzierungen. Auch die Buchdeckel-Reliefs des Essener Theophanu-Evangeliars sind als Vergleichsobjekte zu nennen. Besonders eng sind die Parallelen zum Kruzifixus aus der Kölner Handschrift Cod. 360a der Universitätsbibliothek Freiburg. Diese Darstellung zeigt die gleichen besonders schlanken Proportionen der Gliedmaßen. Identisch ist auch die unbewegte gerade Haltung des Körpers. Auch in den Einzelformen bestehen Ähnlichkeiten. Anna Pawlik verweist darüber hinaus auf stilistische Ähnlichkeiten zum Benninghauser wie auch zum Dietkircher Kruzifix (Rheinisches Landesmuseum, Bonn). Weil sich beim Werdener Kruzifix nur der Kopf aus der schmalen Reliefschicht des Körpers nach vorne neigt, sieht sich Ernst Günther Grimme wiederum an den Gekreuzigten der Hildesheimer Bronzetür erinnert.

Kruzifix (11. Jh.); Benninghausen bei Lippstadt, St. Martin
Dietkircher Kruzifix (11. Jh.), Bonn, Rheinisches Landesmuseum
Gerokreuz (Ende des 10. Jhs.); Köln, Dom

Bernwardtür: Kreuzigung (um 1015); Hildesheim, Dom (für die Großansicht einfach anklicken)

Umstritten ist, ob das Werdener Kruzifix noch einen Reflex auf das ältere Kölner Gerokreuz zeigt (siehe meinen Post „Vom Christus victor zum Christus patiens“), etwa mit dem auf die Brust gesunkenen Haupt, dem leicht vorgewölbten Bauch sowie dem Lendentuch. Allerdings zeigt es – anders als das sehr plastisch ausgearbeitete Kölner Werk – in der Seitenansicht eine sehr flache und bretthafte Modellierung.

 

Glossar

Cingulum: Gürtel

Omega-Falte: eine Drapierungsform in der bildenden Kunst, deren Auslauf in Form eines Omegas (Ω) gestaltet ist.

Wachsausschmelzverfahren: ein Formverfahren für den Metallguss, bei dem das Modell aus Wachs hergestellt wird; im Produktionsverlauf werden sowohl das Modell als auch die Form zerstört.

 

Literaturhinweise

Beer, Manuela: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwicklung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. In: Klaus Gereon Beuckers u.a. (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2006, S. 129-152;

Grimme, Ernst Günther: Bronzebildwerke des Mittelalters. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 71-72;

Kahsnitz, Rainer: Das Bild des toten Heilands am Kreuz in ottonischer Zeit. Künstlerische und theologische Probleme plastischer Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 66 (2012), S. 50-101;

Pawlik, Anna: Das Bildwerk als Reliquiar? Funktionen früher Großplastik im 9. bis 11. Jahrhundert. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2013. S. 212-218;

Wesenberg, Rudolf: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung. Verlag L. Schwann, Düsseldorf 1972, S. 59;

Wundram, Manfred: Der Bronzekruzifixus der Werdener Abteikirche. Klartext Verlag, Essen 2003. 

 

(zuletzt bearbeitet am 26. Juni 2023)

Montag, 23. Mai 2022

Versagtes Lebensziel – der „Moses“ des Michelangelo

Michelangelo: Moses (Grabmal Papst Julius II.); Rom, San Pietro in Vincoli
Zum ersten Mal begegnet bin ich ihm in einem Treppenhaus – im Treppenhaus des Mainzer Kunstgeschichtlichen Instituts, Oktober 1981, ein Gipsabguss, aber nicht weniger imposant als das Original, das sich heute in San Pietro in Vincoli (Rom) befindet. Dort steht sie seit 1545. Michelangelo (1475–1564) hatte an der Marmorskulptur vermutlich von 1513 und bis zu seinem Fortgang aus Rom im Juli 1516 gearbeitet; sie ist eine der Statuen für das Grabmal von Papst Julius II. (1443–1513) und war bereits im ersten Entwurf von 1505 vorgesehen. Mein Foto zeigt das Original. Der Moses ist zwar sitzend dargestellt, aber trotzdem größer als ein aufrecht stehender Mensch (2,52 m) – als Standbild wäre er über drei Meter hoch.
Der Kopf der Moses-Statue mit deutlich sichtbaren Hörnern
Auffallend sind auf den ersten Blick die beiden Hörner auf seinem Haupt, die „wie die Fühler einer Schnecke in verschiedene Richtungen zeigen“ (Frommel 2014, S. 55). Was hat es mit ihnen auf sich? Als Moses zum zweiten Mal den Berg Sinai besteigt (nach dem ersten Abstieg zerschmettert er vor Zorn über die Anbetung des Goldenen Kalbs die Gesetzestafeln), bleibt er vierzig Tage dort oben. Gott offenbart ihm seine Majestät und erläutert ihm die Gesetze seines Bundes. Dabei überträgt sich der Glanz Gottes auf Moses, sodass „die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte“ (2. Mose 34,29; LUT).
Bei der Rückkehr zu den Israeliten befällt das Volk wegen seines strahlenden Hauptes Furcht. Als Moses die Israeliten zu sich befiehlt, verhüllen sich die Herantretenden die Augen, weil sie der helle Schein blendet. Wenn Moses in der Folgezeit mit dem Volk spricht, bedeckt er seinen Kopf mit einem Tuch, das er jedoch abnimmt, wenn Gott zu ihm redet (2. Mose 34,33-35). Aufgrund eines Übersetzungsfehlers der lateinischen Vulgata, „quod cornuta esset facies sua“, wurden aus dem strahlenden Antlitz zwei Hörner, denn das hebräische Wort „karan“ kann sowohl „Horn“ wie auch „Ausstrahlung“ oder „nimbusartiges Licht“ heißen.
Michelangelo zeigt Moses also nach seinem zweiten Abstieg, darauf verweisen die beiden Hörner – und zwar während oder kurz nach einer Unterredung mit Gott. Denn auf seinem rechten Bein liegt das Tuch, das Moses bei Ansprachen an das Volk vor das Gesicht und im Dialog mit Gott auf den Schoß legt. Franz-Joachim Verspohl geht davon aus, dass Michelangelo seinen Moses in dem Moment zeigt, als Gott ihm seinen nahenden Tod und damit die Versagung seines Lebenszieles verkündet. Dann entfernt sich Gott wieder; Moses blickt ihm nach, erschüttert darüber, das Gelobte Land nicht betreten zu dürfen (5. Mose 31,2). 
Es sind vor allem die stark kontrahierten Muskeln über den Brauenbögen, die entsetzt blickenden Augen und die fest aufeinander gepressten Lippen mit den heruntergezogenen Mundwinkeln, in denen sich für Verspohl diese Gottesbegegnung spiegelt. Während Moses eben noch mit den Fingern in seinen eindrucksvollen Bartlocken spielte, den rechten Handballen auf die beiden geschlossenen Gesetzestafeln gestützt, hat er seinen Kopf jetzt zur Seite gedreht, sodass sich das Barthaar den Fingern entwindet. Die vernommene Botschaft, so die Deutung Verspohls, habe ihn aus seiner gelassenen Haltung aufgestört und den Griff der linken Hand zum Unterleib ausgelöst. Denn dort befinde sich nach damaligem Verständnis nicht nur der Sitz der Gefühle, sondern auch das Zentrum der vitalen Lebenskraft. Der Blick des Moses sei in eine unbestimmte Ferne und zugleich nach innen gerichtet. Trotz seiner eindrücklichen körperlichen Präsenz wirke er abwesend. Gott lasse Moses mit einer ihm geltenden unheilvollen Botschaft zurück, die seinen Lebensnerv“ trifft.
Augenbrauen und Mundwinkel sprechen eine klare Sprache
Der rechte Fuß des Moses steht sicher auf der Bodenplatte; der linke, zurückgesetzte Fuß drückt sich keineswegs vom Boden ab, wie oft gedeutet wurde, weil sich hier ein Aufspringen der Gestalt vorbereitet – er gleitet vielmehr in psychomotorischer Reaktion von der Plinthe herab. 
„Er vollzieht die gegenläufige Bewegung, zu der sich der Jesaias Raffaels – am dritten Mittelpfeiler der Nordseite im Langhaus von Sant’Agostino in Rom – anschickt, eine Prophetendarstellung, die Michelangelo kannte, weil sie vor Beginn der Arbeit am Moses entstand und selbst wiederum so offensichtlich von seinen Fresken der sixtinischen Decke inspiriert war, dass er nun Anlass fand, auf diese zu antworten“ (Verspohl 2004, S. 58). 
Das Tuch, das zuvor auf beiden Oberschenkeln lag, ist vom linken, zurückgezogenen Bein hinabgeglitten und hängt nun schwer über dem anderen. Die ruhige, stabile Haltung der rechten Körperhälfte entspricht dem freundschaftlichen Gespräch zwischen dem Anführer und dem Gott Israels. Ihr antwortet die erschlaffende linke Partie des Leibes, um deutlich zu machen, dass das Gleichgewicht des Moses erschüttert und gestört ist. 

Sabine Poeschel hat dieser Sicht des Moses als Todgeweihtem deutlich widersprochen. Der gesamten Exodus-Generation (mit Ausnahme Kalebs und Josuas) durfte wegen ihres Ungehorsams gegen Gott nicht in das Gelobte Land einziehen. Moses selbst wurde aufgrund von Glaubensschwächen, die nicht näher ausgeführt werden, der Gang über den Jordan verweigert (5. Mose 20,12); Gott ließ ihn aber vor seinem Tod das Land Kanaan, in das Josua die Israeliten führte, vom Berg Nebo aus noch sehen (5. Mose 32,48-53). Dort starb Moses dann.
Die Androhung dieser Strafe darzustellen wäre für ein Papstdenkmal, so Poeschel, denkbar ungeeignet gewesen. „Dieses Konzept würde nämlich eine Parallele zwischen dem Propheten, den Gott nicht in das Gelobte Land gelangen lässt, und dem Papst, der nicht in den Himmel einzieht, implizieren. (...) Da der Tod des Moses aber direkt mit dem Ausschluß aus dem Gelobten Land verbunden ist, muß jede Anspielung darauf bei der Skulptur ausgeschlossen bleiben. Ein solcher Bezug kann an einem päpstlichen Grabmal auch nicht unterschwellig intendiert gewesen sein“ (Poeschel 2001, S. 62). 
Der wesentliche Aspekt beim Verständnis des Moses sei hingegen, dass er im Gespräch mit Gott gezeigt ist, dessen Stimme er vernimmt: Der Herr aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2. Mose 33,11). Moses hat keine Furcht mehr vor Gott wie bei seiner Berufung, bei der er sein Gesicht verhüllte. In der unmittelbaren Gegenwärt des Höchsten hat der „Freund Gottes“ das Tuch von seinem Haupt genommen. „Der Gedanke der Nähe Gottes paßt zum Grabmal und zum Konzept des Nachlebens des verstorbenen Papstes, nicht aber die Todesahnung des Moses, den Gott für seine Glaubensschwäche straft“ (Poeschel 2001, S. 62). 
Annette Weber wiederum ist der Ansicht, dass Michelangelos Skulptur die Kapitel 33 und 34 aus dem 2. Buch Mose zusammenfasst: Hier wird die Gotteschau beschrieben, die ausschließlich Moses gewährt wurde; kein Mensch ist Gott je näher gekommen. Moses begehrt, die Herrlichkeit Gottes zu sehen, und Gott antwortet ihm: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen“ (2. Mose 33,20-23; LUT). 
Weber sieht in der Kopfdrehung des Moses genau diesen Moment veranschaulicht: „Moses wendet sein Haupt dezidiert zu seiner Linken, richtet es nach oben und blickt in äußerster Anspannung zutiefst aufgewühlt der gerade an ihm vorbeigezogenen Herrlichkeit Gottes in die Ferne nach“ (Weber 2009, S. 242). Die asymmetrisch angebrachten Hörner betonen, so Weber, diese Blickrichtung zusätzlich. „Dabei trägt Moses die gehorsam zuvor vorbereiteten Tafeln noch unter dem Arm und quasi weggesteckt, denn ihre Beschriftung wird erst nach der Gottesschau und dem Bundesschluss erfolgen. Ebenso wird das über das rechte Knie gefaltete Tuch erst nach der Rückkehr seinen Zweck erfüllen und im Wechsel von Ver- und Enthüllen zum eigentlichen Zeichen des beständigen Gottesumgangs“ (Weber 2009, S. 243). Bis 1816 befand sich die Sitzfigur des Moses, wie von Michelangelo geplant, tief in der Mittelnische des Wandgrabes. Weber sieht darin einen zusätzlichen Hinweis auf die in 2. Mose 33,22 erwähnte Felsspalte.
Das nenne ich einen gut definierten Oberarm
Immer wieder wird betont, dass Michelangelos Marmorfigur Ähnlichkeiten mit seinen vier letzten, 1511/12 geschaffenen Propheten und Sibyllen der Sixtinischen Decke aufweist. Wie z. B. sein Jonas trägt Moses ein Gewand, das den Oberkörper nachmodelliert und den Blick auf die muskulösen Arme freigibt. Franz-Joachim Verspohl hält die Kleidung des Moses für „all’antica“: Es handele sich um eine römische Tunika, die bei einem Mann gegürtet wurde und bei älteren Bürgern bis zu den Knöcheln reichen durfte. Das gewaltige Tuch könnte dementsprechend eine Toga oder ein Pallium sein. Auch die Sandalen, die den Fuß mit Oberleder umschließen und nur die Zehen freilassen, sind typisches römisches Schuhwerk. Einzig die Kniebundhosen sowie die gamaschenartigen, unterhalb der Knie durch Bänder gehaltenen Beinkleider weichen von der klassischen kaiserzeitlichen Kleidung des Römers ab. „Michelangelos Detailgenauigkeit belegt, wie sehr er nach einer der römischen Tradition entsprechenden Würdeform für seine Moses-Gestalt sucht und deren Differenz zum Bildnis eines römischen Imperators allein durch die Barttracht und die Beinkleider definiert“ (Verspohl 2004, S. 48).
Michelangelo: Der Prophet Jonas (1511); Rom, Sixtinische Kapelle
Michelangelo: Der Prophet Jeremias (1511); Rom, Sixtinische Kapelle
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Überhaupt ist der Bart ein Glanzstück: Zwei seiner Strähnen fallen von den Seiten der Oberlippe herab und zwei weitere vom Kinn, aus dessen Mitte außerdem eine Locke hervorsprießt. Die fülligste Strähne wächst aus seiner linken Wange und folgt der Bewegung des Kopfes, wird aber von seinem rechten Zeigefinger in der Position gehalten, die sie vor der Drehung des Kopfes einnahm, und legt sich daher diagonal über die anderen Strähnen“ (Frommel 2014, S. 55). Unterhalb des Fingers setzt sich der Bart nicht in gleicher Fülle fort, sondern in zwei relativ dünnen, senkrecht herabfallenden und weniger schaumigen Strähnen. Bereits die Zeitgenossen bewunderten die wallende Marmorpracht uneingeschränkt, allen voran der Künstlerbiograf Giorgio Vasari (1511–1574), weil ausgerechnet die Haare, mit denen die Skulptur doch so große Schwierigkeiten hat, in höchstem Maße weich und fleißend gearbeitet sind, so dass – obwohl es eigentlich unmöglich scheint – der Meißel zum Pinsel geworden ist (Myssok 2022, S. 68). Dabei suggeriert insbesondere der Griff der Hand in diese Masse, die illusionistisch unter dem Druck des Zeigefingers nachzugeben scheint, „optisch deren vorgebliche weiche Konsistenz“ (Myssok 2022, S. 69). Zugleich kontrastiert kontrastiert die spielerisch anmutende Bewegung der Hand deutlich mit den Schwellungen des angespannten rechten Armes.
Raffael: Der Prophet Jesaja (1512); Rom, Sant’Agostino
Joachim Poeschke sieht Parallelen zwischen dem Moses und Michelangelos beiden Louvre-Sklaven, die ursprünglich ebenfalls für das Grabmal von Papst Julius II. vorgesehen waren. Das betrifft vor allem „das starke Herausmodellieren der Schultern und der Knie (Poeschke 1992, S. 99) und darüber hinaus die im Handgelenk abgeknickte Hand des Sterbenden Sklaven. Auch auf die Brutus-Büste im Bargello von Florenz mit ihrer entschiedenen Wendung ins Profil ist hingewiesen worden. Zuletzt hat Christoph Luitpold Frommel betont, wie ähnlich die Statue des Moses Michelangelos Giuliano in der Medici-Kapelle von San Lorenzo (Florenz) sei, und zwar nicht nur im gedrehten Kopf, in den Händen, Armen und Beinen, sondern auch im dünnen Lederhemd, durch das der athletische Körper hindurch scheint (Frommel 2014, S. 55). Moses, der als Einziger mit Gott gesprochen hat und ihm näher steht als jeder andere aus dem Volk Israel, ist darüber hinaus auch dem Gottvater der Sixtinischen Kapelle angenähert. Wie der Schöpfer der Gestirne ist Moses charakaterisiert durch deutliche Körperspannung und Konzentration.
Michelangelo: Sterbender Sklave (1513-1516, Fragment); Paris, Louvre

Michelangelo: Brutus (um 1546-48); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Michelangelo: Grabmal des Giuliano de Medici (um 1526-1534); Florenz, San Lorenzo
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Michelangelo: Gottvater erschafft die Gestirne (1511); Rom, Sixtinische Kapelle
Als Vorbild für den M
oses gilt, besonders was das ernste, würdige Haupt betrifft, Donatellos Johannes der Evangelist (1408-1415 entstanden). Die Sitz- und Bewegungshaltung wiederum könnte Michelangelo von dem berühmten Torso vom Belvedere übernommen haben (siehe meinen Post Ruhm und Rätsel“), den der Künstler sehr bewunderte. Sabine Poeschel wiederum sieht in dem englagigen Faltenwurf des Tuchs und dem zurückgesetzten linken Bein einen Rückgriff auf die dynamische Figur des Laokoon im Cortile del Belvedere (Vatikanische Museen). Vor allem aber sei der muskulöse linke Arm dem Laokoon nachgebildet.
Donatello: Johannes der Evangelist (1408-15); Florenz, Opera del Duomo
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Apollonios: Torso vom Belvedere; Rom, Vatikanische Museen
Laokoon-Gruppe; Rom, Vatikanische Museen
Ursprünglich war der Mose, wie eingangs erwähnt, als einer der vier sitzenden Propheten gedacht, die den gewaltigen Grabkomplex Julius II. gedacht; sie sollten an den Ecken des zweiten Geschosses angebracht werden. Michelangelo hat diese erhöhte Platzierung berücksichtigt und den Moses mit einem verlängerten Oberkörper versehen. „Allerdings bemerken nur wenige Betrachter die anatomische Verzerrung, da die sehr kräftigen Arme und der lange, wallende Bart davon ablenken“ (Wallace 1999, S. 81). In der endgültigen Version des Grabes wurde der Moses mittig im unteren Geschoss aufgestellt, wo er heute noch steht. Die Skulptur beherrscht den Gesamteindruck derart, dass Besucher den anderen Elementen der Konstruktion oft nur wenig Beachtung schenken, wie z. B. den Hermenpilastern oder der Figur des liegenden Papstes, die sich ungefähr an der Position befindet, die ursprünglich für den Moses bestimmt war. Die herausgehobene Position des Moses verdankt sich auch einem Eingriff des italienschen Bildhauers Antonio Canova (1757–1822): Er ließ die Skulptur 1816 auf einen höheren Sockel stellen und nach vorne vor die Hermen ziehen. Das Grabmal Julius II. wurde damit zum „Grabmal des Moses“.
Michelangelo: Grabmal für Julius II. (1505-1545); Rom, San Pietro in Vincoli
Valentin de Boulogne: Moses (um 1628); Wien, Kunsthistorisches Museum
An einer kreativen Auseinandersetzung mit Michelangelos Skulptur im Medium der Malerei hat sich um 1628 der französische Künstler Valentin de Boulogne (1591–1632) versucht. Auf seinem Moses, der die Figur ebenfalls sitzend zeigt, ist insbesondere der nackte Arm und das entblößte Knie von der Statue übernommen; darüber hinaus ist auch die Haltung beider Figuren insgesamt nahe verwandt, allerdings hat Valentin sie gespiegelt. Erzählerisch ist der Maler wesentlich eindeutiger als Michelangelo: Wir haben hier Moses als Interpreten der Zehn Gebote vor uns, der freilich in Gedanken versunken zu sein scheint.
„Die Wirkung des Bildes lebt ganz wesentlich vom Gegensatz zwischen dem zwar gealterten, aber kraftvollen Arm, mit dem Moses auf die Schrift deutet, und seinem melancholisch gebrochenen Gesichtsausdruck“ (Swoboda 2022, S. 134). 
Anders als sein skulpturales Vorbild ist Valentins Moses mit einer lacerna bekleidet, einem auf der rechten Schulter mit einer Brosche gehaltenen Mantel, der in der Antike auch von Feldherren und Kaisern getragen wurde. Als „Korrektur“ an Michelangelo ist der Nimbus seiner Figur zu versehen: Wie oben ausgeführt, hatte sich Michelangelo bei seiner Darstellung an den Text der Vulgata gehalten, in der von einem gehörnten statt von einem strahlenden Antlitz die Rede ist. Valentin präsentiert Moses nun mit einem Lichtphänomen hinter seinem Haupt, dass aber immer noch an Hörner und speziell an die Hörner von Michelangelos Figur erinnert.

Literaturhinweise
Armour, Peter: Michelangelos Moses: A Text in Stone. In: Italien Studies 48 (1993), S. 18-43;
Blum, Gerd: Zur Rezeptionsgeschichte von Michelangelos Moses: Vasari, Nietzsche, Freud, Thomas Mann. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 53 (2008), S. 73-106;
Blum, Gerd: „In foramine petrae.“ Michelangelos wörtliche Auslegung der Vulgata und die Hörner seines Moses in San Pietro in Vincoli. In: Vulgata in Dialogue 4 (2020), S. 45-78;
Bredekamp, Horst: Michelangelo. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021, S. 294-305 und 578-579;
Echinger-Maurach, Claudia: Michelangelos Grabmal für Papst Julius II. Hirmer Verlag, München 2009, S. 101-113;
Frommel, Christoph Luitpold: Das Grabmal Julius’ II.: Planung, Rekonstruktion und Deutung. In: Christoph Luitpold Frommel, Michelangelo – Marmor und Geist. Das Grabmal Papst Julius’ II. und seine Statuen. Schnell und Steiner, Regensburg 2014, S. 19-70; 
Myssok, Johannes: Monolith und weiß. Die Oberflächen von Michelangelos Skulpturen. In: Magdalena Bushart/Andreas Huth (Hrsg.), superficies. Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher Neuzeit. Böhlau Verlag, Wien/Köln 2022, S. 57-74;
Poeschel, Sabine: Moses und die Frauen des Jakob. Das Konzept des Julius-Grabes von 1545. In: Sabine Poeschel u.a. (Hrsg.), Heilige und profane Bilder. Kunsthistorische Beiträge aus Anlass des 65. Geburtstages von Herwarth Röttgen. VDG, Weimar 2001, S. 55-78;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2. Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 99-100;
Satzinger, Georg: Michelangelos Grabmal Julius’ II. in S. Pietro in Vincoli. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte  64 (2001), S. 177-222;
Swoboda, Gudrun (Hrsg.): Idole & Rivalen. Künstlerischer Wettstreit in Antike und Früher Neuzeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2022, S. 134-135;
Verspohl, Franz-Joachim: Der Moses des Michelangelo. In: Städel-Jahrbuch 13 (1991), S. 155-176;
Verspohl, Franz-Joachim: Der „Torso“ des Apollonios und der „Moses“ des Michelangelo – Von der Genauigkeit des Künstlers. In: Daidalos 59 (1996), S. 92-97;
Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Julius II. Moses – Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker. Wallstein Verlag, Göttingen 2004;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999;
Weber, Annette: Michelangelos Sitzstatue des Moses und ihre Ikonographie im Vergleich zu biblischen Quellen. Fragen zur Textumsetzung. In: Trumah 18 (2008), S. 238-250;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007, S. 421;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 18. August 2024)
Antonello, noch nicht genesen
 
 

Zum Stendhal-Syndrom

 

„Ich befand mich schon bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer, deren Gräber ich eben gesehen hatte, in einer Art Ekstase. Ich war in die Betrachtung edelster Schönheit versunken, die ich ganz dicht vor mir sah und gleichsam berühren konnte. Meine Erregung war an dem Punkt angelangt, wo sich die himmlischen Gefühle, die uns die Kunst einflößt, mit den menschlichen Leidenschaften vereinen. Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.“

Stendhal (Florenz, 22. Januar 1817)

 (aus: Stendhal, Rom, Neapel und Florenz. Rütten & Loening, Berlin 1985, S. S. 229/230)