Samstag, 29. Juni 2024

Was zählt, sind die Taten der Liebe – Caravaggios „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ in Neapel

Caravaggio: Sieben Werke der Barmherzigkeit (1606);
Neapel, Pio Monte della Misericordia
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Am 28. Mai 1606 tötet der italienische Barockmaler Caravaggio (1571–1610) bei einer bewaffneten Auseinandersetzung in Rom einen seiner Kontrahenten namens Ranuccio Tomassoni. Der Künstler flieht, um seiner Bestrafung zu entgehen, auf die Güter Don Marzio Colonnas (dies wegen bestehender älterer Verbindungen: Caravaggios Vater Fermo Merisi hatte einem Zweig der Familie gedient). Anfang Oktober trifft Caravaggio dann in Neapel ein, der damals größten Stadt Italiens. Das erste Bild, das er dort malt, ist ein großformatiges Altargemälde, für das sich die Bezeichnung Sieben Werke der Barmherzigkeit eingebürgert hat. Auftraggeber war die 1602 gegründete Stiftung des Pio Monte della Misericordia, die sich noch heute karitativen Aufgaben widmet. Deren Kirche war Ende 1606 fertiggestellt worden, und für sie wurde das Altarbild bei Caravaggio bestellt.

Die sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit sind zunächst sechs: „den Hungrigen zu essen geben“, „den Durstigen zu trinken geben“, „die Nackten bekleiden“, „die Fremden aufnehmen“, „die Kranken besuchen“, „die Gefangenen trösten“. Im Spätmittelalter kam als siebtes „die Toten begraben“ hinzu. Grundlage sind die Worte Jesu aus Matthäus 25,31-45 (LUT):

 

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.

 

Das Matthäus-Evangelium verbindet die Ausübung der leiblichen Barmherzigkeit mit dem Jüngsten Gericht – das wiederum eng mit dem katholischen Dogma vom Fegefeuer verknüpft war. „Der gegenreformatorischen Rechtfertigungslehre nach konnte der Gläubige diesem nur durch tätige Nächstenliebe entgehen, dadurch aber auch helfen, die Qualen bereits verstorbener Seelen zu verkürzen“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 202). Hierbei half die Fürsprache der Gottesmutter als Madonna della Misericordia, der die neu erbaute Kirche geweiht war. Denn Maria konnte seit dem Mittelalter als barmherzige Gegenmacht zu dem richtenden Christus oder dem strafenden Gottvater auftreten.

Im oberen Teil des Gemäldes sind entsprechend Maria und das Jesuskind in Halbfigur dargestellt, Maria im Hintergrund und im Dreiviertelprofil. „Durch den Kunstgriff abrupter perspektivischer Verkleinerung erscheint der Kopf des Christuskindes größer und ungleich prominenter als der seiner Mutter“ (Preimesberger 2009, S. 78). Beide blicken herab, doch Caravaggio hat offensichtlich die barmherzige Anteilnahme und Zuwendung von Maria auf den kindlichen Jesus übertragen: Mit ihrer linken Hand umfasst Maria die Schulter ihres Sohnes – und betont durch diese Geste dessen intensives Zurück- und Herabblicken und damit seine besondere Anteilnahme am irdischen Geschehen. Getragen werden Mutter und Kind von zwei geflügelten Engeln, die, einander umarmend, in einer dynamisch rotierenden Bewegung in den Bildraum hineinfahren.

Das fast vier Meter hohe Altargemälde in situ

Alle sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit werden im unteren Teil des Gemäldes präsentiert; sie sind in vier Handlungen zusammengefasst, die Caravaggio in die nächtlichen Gassen Neapels verlegt hat. Die Nackten bekleiden und die Kranken besuchen: Ein vornehmer junger Mann im linken Vordergrund, bekleidet mit Mantel, Degen, Federhut und Handschuhen, ist zwei Gestalten zu seinen Füßen zugewandt. Er hat den Degen gezückt und teilt seinen Mantel mit einem der am Boden kauernden Männer – eine deutliche Anspielung auf die St.-Martins-Legende. Die Rückenfigur des nackten Bedürftigen, der den Mantel ergriffen hat, ist von einer antiken Skulptur abgeleitet, nämlich dem berühmten Sterbenden Gallier. Links neben ihr erkennt man im Dunkel eine zweite Gestalt mit gefalteten Händen, zwischen deren Beinen eine Krücke sichtbar ist. Auch ihm, dem Kranken, wendet sich der Jüngling zu, der damit zugleich zwei Werke der leiblichen Barmherzigkeit übt. Direkt hinter dem jungen Mann mit dem Federhut steht eine weitere, fast vollständig verdeckte Figur, deren linkes Ohr im Dunkel aufscheint.

Sterbender Gallier, röm. Marmorkopie eines hell. Bronzeoriginals; Rom, Musei Capitolini

Am linken Bildrand wird ein Pilger, erkennbar an der an seinem Hut befestigten Jakobsmuschel und einem Pilgerstab, von einem korpulenten Gastwirt aufgenommen; hinter dem Wirt ist die alttestamentliche Figur des Simson abgebildet, der aus der Eselskinnbacke trinkt (Richter 15,15-19). Die Szene steht für das Aufnehmen der Fremden und das Tränken der Durstigen. Ein Toter wird mit den Füßen voran um die Ecke getragen. Der Priester im Rochett, das Birett auf dem Kopf, die Doppelkerze in der Rechten, singt und macht „aus dem stummen ein lautes Bild“ (Preimesberger 2005, S. 79). Das Werk der leiblichen Barmherzigkeit selbst vollbringt jedoch ein Laie, dessen Gefährte unsichtbar bleibt. Die Figurengruppe auf der rechten Seite des Gemäldes veranschaulicht in einer einzigen Handlung nicht weniger als drei Werke der leiblichen Barmherzigkeit: „den Hungrigen zu essen geben“, „den Durstigen zu trinken geben“ und „die Gefangenen besuchen“. Dabei greift Caravaggio auf eine berühmte Erzählung aus der heidnischen Antike zurück: Pero, die Tochter des zum Hungertod im Kerker verurteilten Athener Bürgers Cimon, besucht ihren greisen Vater im Gefängnis und nährt ihn, von den Wächtern unbemerkt, wie ein Kind an der eigenen Brust. Damit rettet sie ihm nicht nur das Leben, sondern erwirkt dem alten Mann auch Begnadigung und Freiheit.

Die nackte Brust ist für ein Altargemälde durchaus gewagt
Michelangelo: Bekehrung des Paulus (1542-1545); Rom, Cappella Paolina

Auffallend ist der linke niederstürzende Engel mit seiner pathetischen Gebärde: Als einzige der vier überirdischen Gestalten betrachtet sie nicht nur, sondern zeigt eine heftige Reaktion. Sie gilt der rechten unteren Ecke des Bildes. Ihr ist der Engel zugewendet; sein dorthin gerichteter Blick, die schräg nach rechts führende Achse, die dieser Blick durch das Gemälde legt, und die ausfahrende Geste beider Arme lenken auch den Blick des Betrachters auf die junge Frau, die dem eingekerkerten Alten ihre Brust reicht. Die extrem verkürzte Figur des Engels hat ein bedeutendes Vorbild: Sie ist von Michelangelos herbeifliegendem Christus in der Bekehrung des Paulus in der Cappella Paolina im Vatikan abgeleitet (siehe meinen Post „Michelangelos letzte Fresken“). Physiognomie und Lockenpracht sind allerdings Caravaggios Engel aus seinem Matthäus-Gemälde in der römischen Contarelli-Kapelle verwandt, das 1602 entstanden ist (siehe meinen Post Matthäus, der Analphabet“).

Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1602), Rom, San Luigi dei Francesi

Caravaggio hat das Engelspaar differenziert in einen muskulösen, männlich-aktiven und einen androgyn wirkenden Engel, der ihn umschlingt. Dessen Blick ist zur linken Hälfte des Gemäldes gerichtet. Er sieht, wie der Nackte bekleidet und die Fremden aufgenommen werden. Er reagiert nicht heftig, sondern sieht ruhig herab. Jutta Held vermutet, dass das Jesuskind zunächst ebenfalls einen Engel darstellen sollte und Caravaggio die Madonna auf Wunsch seiner Auftraggeber hinzufügte. Denn Maria wird von den Figuren der unteren Sphäre nicht wahrgenommen, niemand blickt zu ihr auf. „Es fehlt die unterwürfige Religiosität, die wenig später die hochbarocken Bilder demonstrieren werden, auf denen die irdischen Personen mit Gesten der Unterwerfung und des Gehorsams emporblickend auf den Anruf einer Himmelsmacht reagierten“ (Held 2006, S. 165/166).

Held vor allem hat auf einige Inkonsequenzen in Caravaggios Bilderfindung hingewiesen: Dem biblischen Simson werde nicht durch menschliche Nächstenliebe geholfen, sondern durch ein Wunder, und für den Kranken am Boden sei keine Hilfe in Sicht. „Es fehlt bei diesen beiden Beispielen das deutliche exemplum virtutis und beim Samson darüber hinaus der klare moralische Appell, der beispielsweise bei der Totenbestattung oder der Kleidung des Frierenden gegeben ist“ (Held 2006, S. 163). Außerdem seien die kleinen Szenen in der unteren Bildhälfte in einer fast raumlosen Komposition zusammengepfercht, ohne jedoch Bezug aufeinander zu nehmen. „Die einzelnen Gestalten bedrängen und verunklären einander gegenseitig“ (Held 2006, S. 164). Der Handlungsradius einer jeden Person ist gering bemessen und werde durch den einer benachbarten Gestalt regelrecht durchkreuzt; die korrekte Zuordnung der Beine und Arme stelle fast schon die Lösung eines Puzzles dar.

Himmliche Anteilnahme am irdischen Geschehen

Caravaggio hat mit diesem fast vier Meter hohen Altarbild (390 x 260 cm) eine vielfigurige, zentrumsfreie Komposition ohne dominanten narrativen Fokus geschaffen. Es wundert daher nicht, dass später zwar einzelne Motive seines Gemäldes nachgeahmt wurden, nicht aber die Komposition in ihrer Ganzheit. Es ist die Madonna mit ihrem Sohn, durch die die verschiedenen Figurengruppen gedanklich zusammengeschlossen werden. Und es ist die Umarmung der beiden Engel, die darauf verweist, was Mutter und Kind bewegt: die alles umfassende Liebe.

 

Literaturhinweise

Bologna, Ferdinando: Caravaggio, the final years (1606-1610). In: Silvia Cassani/Maria Sapio (Hrsg.): Caravaggio. The Final Years. Electa Napoli, Neapel 2005, S. 16-47;

Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 201-202;

Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio in Neapel. Kurz Zeit, große Wirkung. In: Peter Forster u.a. (Hrsg.), Caravaggios Erben. Barock in Neapel. Hirmer Verlag, München 2016, S. 49-65;

Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage), S. 162-166;

Preimesberger, Rudolf. Textfaszination. Caravaggio liest Valerius Maximus. In: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 11 (2009), S. 75-87;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011, S. 186-193

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


Dienstag, 25. Juni 2024

Vollkommenheit schlechthin – der Apoll vom Belvedere

Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden); Rom, Vatikanische Museen
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Johann Joachim Winckelmanns Begeisterung kannte keine Grenzen. Für den ersten großen deutschen Archäologen (1717–1768) war der Apoll vom Belvedere das bedeutendste Kunstwerk überhaupt: „Die Statue des Apollon ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung desselben entgangen sind“, schrieb er 1764 in seinem Hauptwerk, der Geschichte der Kunst des Alterthums. Mit dieser Einschätzung widersprach er offen dem Urteil des antiken Gelehrten Plinius, der dem Laokoon im Palast des Titus den ersten Rang unter allen Werken der Skulptur und Malerei zuerkannt hatte (Nat. Hist. XXXVI, 37). Der makellose nackte Jüngling erschien Winckelmann als die „Vollkommenheit schlechthin“. Entsprechend verärgert war er, als der Papst seiner Nacktheit Grenzen setzte. In einem Brief von 1759 schreibt der Archäologe: „Diese Woche wird man dem Apollo, dem Laoccon und den übrigen Statuen im Belvedere ein Blech vor den Schwanz hängen, vermittelst eines Drats um die Hüften.“
Der italienische Künstlerbiograf Giorgio Vasari hatte 1568 die Werke Raffaels und Michelangelos zur höchsten Entwicklungsstufe der Kunst erklärt. Den Grund dafür sah er darin, dass der Apoll vom Belvedere und der Laokoon mit anderen Statuen jetzt erst ausgegraben und ans Licht getreten seien. Ihre Schönheit stand eben einem Giotto, Masaccio oder Mantegna noch nicht als Modell zur Verfügung.
Die Marmorstatue des Apoll wurde 1489 in Grottaferata auf einem Landgut an der Via Appia entdeckt, das dem Kardinal Giuliano della Rovere gehörte. Als der Kardinal zum Papst gewählt worden war (Julius II., 1503–1513), zog der sensationelle Fund 1511 in den Vatikan ein, und zwar in den dortigen Statuenhof (Cortile) des Belvedere. Der Sonnengott trägt Sandalen und einen Schultermantel, Chlamys genannt, von dessen Falten sich der glatte Körper wirkungsvoll abhebt. An dem Baumstumpf, der die Skulptur stützt, windet sich eine Schlange hoch: Sie verweist darauf, dass Apoll auch der Gott der Heilung ist. Durch die Stellung der Beine in „schwebendem Schritt“, der keine echte Belastung des Standbeines erkennen lässt, bleibt die Bewegung Apolls uneindeutig: „Schreitet der Gott eilend aus oder hält er eher in seinem Vorwärtsdränge inne: die Frage muß und soll wohl auch offen bleiben“ (Vetter 1995, S. 455).
Stich von Marcantonio Raimondi (um 1530)
Die Statue ist eine römisch-kaiserzeitliche Marmorkopie (Höhe 224 cm), die höchstwahrscheinlich eine Bronzestatue des griechischen Bildhauers Leochares wiedergibt. Bekannt wurde das Werk durch einen Stich von Marcantonio Raimondi (um 1530). Er zeigt, dass der rechten Hand die Finger fehlen und seine linke Hand am Unterarm abgebrochen ist. Danach wurde die Skulptur komplettiert. Der Restaurator Giovanni Montorsoli, ein Michelangelo-Schüler, entschloss sich zu einer radikalen Operation: Statt an der rechten Hand nur die Fingerglieder anzustücken, trennte er den Arm bis zum Ellbogen ab. Um den neuen Unterarm anzudübeln, erhöhte er auch den stützenden Baumstumpf (noch deutlich zu sehen, siehe Abbildung ganz oben). Für den linken Arm schuf er eine Hand, die einen Bogengriff umfasst, und somit ein untrügliches Attribut, denn Apoll ist auch der Gott der Bogenschützen. Ein Stich von Hendrik Goltzius aus dem Jahr 1592 zeigt die Skulptur mit den beiden Ergänzungen.
Stich von Hendrik Goltzius (1592)
1924 wurden die Restaurierungen der Renaissance wieder entfernt, 2008 die Hände wiederum aus dem Depot geholt und erneut angefügt. Wir sehen heute den Renaissance-Apoll – was die Kunstliebhaber der Antike sahen, die eine unbeschädigte Figur vor sich hatten, bleibt vorerst ungeklärt.
Von Anfang an beeindruckte und beeinflusste der Apoll vom Belvedere Maler und Bildhauer. Der Kupferstich Apollo und Diana von Jacopo de Barbari (1440–1516) ist um 1500 entstanden und gibt sein Vorbild deutlich zu erkennen.
Jacopo de Barbari: Apollo und Diana (um 1500); Kupferstich
Ab April 1500 stand Barbari in Nürnberg in Diensten von Maximilian I. – und begegnete dort Albrecht Dürer (1471–1528). Der künstlerische Austausch der beiden mündete unter anderem in Dürers berühmten Kupferstich Adam und Eva (1504), dessen Adam sich ebenfalls eng an den Apoll vom Belvedere anlehnt (siehe meinen PostAus Göttern werden Menschen“). Die antike Gottheit in ihrer ruhigen Balance stand für höchste von Menschenhand zu erreichende Schönheit (...) Die Figur Apolls sehend zu verstehen hieß, die Schönheitsnormen der alten Welt wiederzuerlernen (Rebel 1996, S. 187).
Albrecht Dürer: Adam und Eva (1504); Kupferstich
Der Kopf der antiken Statue diente Michelangelo wiederum als Vorbild für das Haupt des Weltenrichters im Jüngsten Gericht der Sixtinischen Kapelle.
Das idealschöne Haupt des heidnischen Gottes ...
Zum ersten Mal wurde das Bild Christi, vom üblichen Typus abweichend, in einem offiziellen Papstauftrag mit dem Antlitz einer heidnischen Gottheit versehen. Ein solches Wagnis konnte wohl nur Michelangelo, der unbestritten größte Künstler jener Tage, eingehen, und das auch nur deshalb, weil die bartlose Aktfigur direkt an eine antike Idealität des Nackten anschloss, wie sie die berühmteste Figur des Altertum verkörperte, der Apoll von Belvedere (Zöllner 2007, S. 262). Michelangelo zeigt seinen Weltenrichter als jugendlich schönen, strahlend-kraftvollen Apoll – Christus ist zum mythologischen Held geworden.
... dient Michelangelo als Vorbild für den Weltenrichter im Jüngsten Gericht der
Sixtinischen Kapelle
Um 1518 erhielt der italienische Bildhauer Baccio Bandinelli (1488–1560) von Papst Leo X. den Auftrag, die Statue eines nackten Orpheus anzufertigen, der mit Leierschlag und Gesang den Cerberus besänftigt. Die Skulptur steht heute auf einem hohen Sockel im Hof des Palazzo Medici-Riccardi in Florenz. Bandinelli bezieht sich mit seiner Figur deutlich auf den Apoll vom Belvedere, ohne deren Haltung jedoch einfach nur zu wiederholen. Denn es ging ihm nicht darum, das antike Vorbild zu kopieren – er wollte es übertreffen. Wie so oft in der Renaissance tritt der Künstler auch hier in einen Wettstreit, in einen Paragone mit dem vielbewunderten antiken Marmorwerk (siehe meinen Post Im Wettstreit mit der Antike“).
Baccio Bandinelli: Orpheus (um 1518-1520); Florenz, Palazzo Medici-Riccardi
Ebenfalls um einen selbstbewussten Paragone mit der berühmten antiken Skulptur ging es dem italienischen Bildhauer Antonio Canova (1757–1822). Schon seine 1781/82 entstandene Marmorstatuette Apoll krönt sich selbst (84 cm hoch) misst sich an diesem Vorbild. Das Motiv ist Ovids Metamorphosen entnommen: Nachdem sich die von Apoll verfolgte Daphne in einen Lorbeerbaum verwandelt, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, setzt sich der nackte Gott einen Kranz aus Lorbeerblättern auf den Kopf. „Jetzo sagte der Gott: Da du mein als Gattin nicht sein kannst,/sei als Baum du die Meinige! Immer umwind‘ uns/Du das Haar, und die Leier, und du den Köcher, o Lorbeer! (Ovid; 1,557-559). 
Antonio Canova: Apoll krönt sich selbst (1781/82);
Los Angeles, J. Paul Getty Museum
1800/1801 schuf Canova dann seinen Perseus. Der 
Apoll vom Belvedere war von den Franzosen nach dem Vertrag von Tolentino im Februar 1797 konfisziert worden; man hatte ihn zusammen mit dem Laokoon, dem Antinous, dem Torso vom Belvedere, acht Bildern Raffaels und vielen anderen Gemälden nach Paris abtransportiert und dort im „Musée Napoléon“ ausgestellt. Papst Pius VII. erwarb Canovas Perseus und ließ ihn in der Nische des Apoll vom Belvedere aufstellen, um den Verlust des Originals zu kompensieren. 1815 schließlich kehrte der Apoll vom Belvedere zusammen mit den anderen Kunstschätzen aus Paris nach Rom zurück.
Antonio Canova (1800/01): Perseus; Rom, Vatikanische Museen
Vom Apoll vom Belvedere hat Canova für seinen Perseus die Kopfhaltung, den ausgestreckten linken und den gesenkten rechten Arm übernommen; die Oberkörper der beiden Skulpturen sind nahezu identisch durchgebildet. In der linken Hand hält Canovas Held das Haupt der Medusa, abgeschlagen mit dem Schwert in seiner Rechten; auf dem Kopf trägt er die von Pluto gestiftete geflügelte Tarnkappe. Unterschiedlich ist jedoch die Beinstellung: Beim Apoll vom Belvedere ist das rechte das Standbein und das linke zurückgesetzt, der Perseus dagegen tritt mit dem linken Bein nach vorne und zieht das rechte nach.
Bertel Thorvaldsen: Jason (1828 vollendet); Kopenhagen, Thorvaldsens Museum
Im Auftrag der polnischen Gräfin Waleria Tarnowska meißelte Canova von 1804 bis 1806 dann nochmals eine kleinere Wiederholung des Perseus, die sich heute im New Yorker Metropolitan Museum befindet. Doch der Perseus blieb nicht die einzige klassizistische Statue, die am Apoll von Belvedere Maß nahm: Der dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen (1770–1844) schuf mit seinem Jason eine ebenbürtige Marmorskulptur, die um 1803 begonnen, aber erst 1828 vollendet wurde. 
Jean-Marie Bonnassieux: David (1877), Troyes, Musée Saint-Loup
Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb der Apoll vom Belvedere noch bewundertes Vorbild für so manchen Bildhauer, wie ich bei einem Besuch im französischen Troyes festestellen konnte: Dort findet sich Garten des Musée Saint-Loup die Bronzestatue eines David (1877) von Jean-Marie Bonnassieux (1810–1892), das dem antiken Meisterwerk unverkennbar seine Reverenz erweist.



Materialien

1. Beschreibung von Johann Joachim Winckelmann

 

Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind. Der Künstler hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebaut, und er hat nur ebenso viel von der Materie dazu genommen, als nötig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen. Dieser Apollo übertrifft alle andern Bilder desselben so weit, als der Apollo des Homerus den, welchen die folgenden Dichter schildern.

Über die Menschheit erhaben ist seine Gestalt, und seine Stellung zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysium, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend und spielt mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäu seiner Glieder. Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten und versuche ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die menschliche Dürftigkeit erfordert. Keine Adern noch Sehnen erhitzen und erregen diesen Körper, sondern ein himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strom ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllt.

Er hat den Python, gegen den er zuerst seinen Bogen gebrauchte, verfolgt, und sein mächtiger Schritt hat ihn erreicht und erlegt. Von der Höhe seiner Genügsamkeit geht sein erhabener Blick, wie ins Unendliche, weit über seinen Sieg hinaus: Verachtung thront auf seinen Lippen, und der Unmut, welchen er in sich zieht, bläht sich in den Nüstern seiner Nase und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer seligen Stille auf derselben schwebt, bleibt ungestört, und sein Auge ist voll Süßigkeit, wie unter den Musen, die ihn zu umarmen suchen. In allen uns übrigen Bildern des Vaters der Götter, welche die Kunst verehrt, nähert er sich nicht der Größe, in der er sich dem Verstande des göttlichen Dichters offenbarte, wie hier in dem Gesichte des Sohnes, und die einzelnen Schönheiten der übrigen Götter treten hier wie bei der Pandora in Gemeinschaft zusammen.

Eine Stirn des Jupiter, die mit der Göttin der Weisheit schwanger ist, und Augenbrauen, die durch ihr Winken ihren Willen erklären: Augen der Königin der Göttinnen groß gewölbt und ein Mund, der dem geliebten Branchus die Wollüste eingeflößt. Sein weiches Haar spielt, wie die zarten und flüssigen Schlingen edler Weinreben, gleichsam von einer sanften Luft bewegt, um dieses göttliche Haupt: es scheint gesalbt mit dem Öl der Götter und von den Grazien mit holder Pracht auf seinem Scheitel gebunden.

Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerkes der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würde anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu heben wie diejenige, die ich wie vom Geiste der Weissagung aufgeschwellt sehe, und ich fühle mich weggerückt nach Delos und in die lycischen Haine, Orte, die Apollo mit seiner Gegenwart beehrte: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalion Schönheit. Wie ist es möglich, es zu malen und zu beschreiben. Die Kunst selbst müßte mir raten und die Hand leiten, die ersten Züge, welche ich hier entworfen habe, künftig auszuführen. Ich lege den Begriff, welchen ich von diesem Bilde gegeben habe, zu dessen Füßen, wie die Kränze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, welche sie krönen wollten, nicht erreichen konnten.

 

(aus: Geschichte der Kunst des Altertums, 1764)


 

2. Beschreibung von Wilhelm Heinse

 

So wie dieser Jüngling [gemeint ist die Statue des Antinous, ebenfalls im Cortile del Belvedere aufgestellt] am mehrsten an die Menschheit grenzt, so ist hingegen Apollo ganz Gott, und es herrscht eine Erhabenheit durchaus, besonders aber im Kopfe, die niederblitzt; göttliche Schönheit in allem von dem nachlässig sanft gewundnen Haare bis zu den schlanken behenden Schenkeln und Beinen, ihre geistige Blüte, nicht die irdische Fülle. Stand und Blick, und Lippen voll Verachtung geben seine Hoheit zu erkennen. Die Augen sind selig, leicht aufzutun und zu schließen, in weiten Bogen. Sein kurzer schlank und zart geformter Oberleib zu den langen Beinen macht ihn zu einer ganz besondern Art von Wesen und gibt ihm Übermenschliches.

Ein erstaunliches Werk von Erfindung und Phantasie! Das Problem ist aufgelöst: da steht ein Gott, aus der Unsichtbarkeit hergeholt und in weichem Marmor festgehalten für die Melancholischen, die ihr Leben lang nach einem solchen Blicke schmachteten. Es ist der höchste Verstand und die höchste Klugheit mit Zornfeuer und Übermacht gegen Verächtliches; darauf zweckt alle Bildung. Was Apollo hat, ist ihm eigen und läßt sich wenig durch Nachahmen übertragen.

Auch dessen Altertum hat man angetastet und ihn zwar für keine Kopie, doch für ein Werk aus der Kaiser Zeiten halten wollen; weil der Marmor karrarischer zu sein schien, welcher kurz vor dem Plinius entdeckt wurde, und kein parischer, woraus die Griechen ihre mehrsten Bildsäulen verfertigten.

Wenn man dieses beweisen könnte, so wär es wohl ausgemacht wahr; allein daran fehlt viel. Der parische ist nicht durchaus gleich, und man hat sichre neuere Proben kommen lassen, die von dem Marmor des Apollo im Korn nicht unterschieden sind. Und ferner gibt es so zarten karrarischen, daß er mit dem besten parischen übereinkömmt. Und wo ist der übergroße Marmorkenner, der von irgendeinem Stücke sagen will, gerade woher es sei, da dieser Stein in jedem Klima zu finden ist? Apollo hat nicht das gelbliche Alter des Laokoon und andrer griechischen Bildsäulen; vielleicht weil er nicht der Witterung so ausgesetzt war. Er ist augenscheinlich für einen bestimmten Platz gemacht, und das Bild tut nur Wirkung, wenn man es von der linken Seite im gehörigen Standpunkt betrachtet; von der rechten steht er da gerade wie ein Seiltänzer, so gespannt, und sein Kopf sitzt offenbar auf der rechten Schulter, viel zu weit von der Mitte. Wenn man denselben von seiner Richtung zurechtdrehte, so wär es abscheulich. Aber von der linken Seite betrachtet, wohin er schaut, ist es homerischer Apollogang; man sieht ihn fortschreiten, sieht das Gesicht ganz, und der Kopf kömmt in die Mitte. Ein wahrer Gott des Lichts dann und der Musen! Man darf sich ihm nicht viel nähern; er kann keinen Flecken leiden, und man müßte bei ihm immer haarscharf gescheit sein und vernünftig sich aufführen: so erhaben ist er über die Menschheit.

Wenn man dies einmal gefaßt und seine Schönheit im ganzen genossen hat, so mag man sich hernach doch an ihm herumdrehen, wie man will, und er bleibt ein erstaunlich Werk von Vollkommenheit. Er ist zwar lauter Ideal, nichtsdestoweniger hat der Kopf Natur, die man gesehen hat, welches der Ausdruck noch verstärkt. Ein außerordentlicher Jüngling gab gewiß den Stoff dazu her, und der Künstler brachte das Höchste und Äußerste von lebendiger Einheit hinein.

Einige stolze Erdensöhne können dies bewunderte und schier noch angebetete Bild nicht ohne Verdruß und Widerwillen betrachten; und behaupten: ihr Gefühl empöre sich allezeit, sooft sie sich das Gesicht als griechisch denken wollten. Der Kopf des Perikles und auch des Alexander habe schon im bloßen Porträt viel göttlichre Art von Erhabenheit; Apollo sei dagegen eher hager und ärgerlich im ganzen, und es wittre daraus etwas von einem römischen Kaiserprinzen, etwas Neronisches, das nicht auf eigner natürlicher Kraft beruhte; und dies wäre für sie ein andrer Beweis als der von Marmor.

So verschieden sind die Meinungen der Menschen!

Gegen solche Atheisten will ich nicht predigen; ihr eigen Mißvergnügen sei ihnen Strafe, und der Neid an andrer Freude.

Gewiß ist, daß das Bild verliert, weil es kein vollkommen Ganzes ausmacht und man nicht weiß, worüber der Gott zürnt. Hätt er zu einer Gruppe der Niobe gehört, wie er denn in einer erhobnen Arbeit davon in Person auf der einen Seite und seine Schwester Diana auf der andern ihre Pfeile abdrücken, so würden die Unzufriednen mit ihm desto mehr Mitleiden mit der unglücklichen reizenden Familie haben. Doch ist eher wahrscheinlich, daß dem Meister der Apollo des Leontinischen Pythagoras vorschwebte, welcher den Pythischen Drachen erlegte. Und beiden war ohne Zweifel der Homerische, von den Gipfeln des Olymp herunter, das Urbild.

 

(aus: Ardinghello und die glücklichen Inseln, 1787)


Literaturhinweise
Himmelmann, Nikolaus: Apoll vom Belvedere. In: Matthias Winner u. a. (Hrsg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1998, S. 211-225;
Hintzen-Bohlen, Brigitte: Zum Apollon vom Belvedere. »Delphisches« in Pergamon? In: Bazon Brock/Achim Preiß (Hrsg.), Ikonographia. Anleitung zum Lesen von Bildern. Kilinkhardt & Biermann Verlagsbuchhandlung, München 1990, S. 11-26;
Ovid: Metamorphosen. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß.  Insel Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 27;
Rebel, Ernst: Albrecht Dürer. Maler und Humanist. C. Bertelsmann Verlag, München 1996;
Roettgen, Steffi: Begegnungen mit Apollo. Zur Rezeptionsgeschichte des Apollo vom Belvedere im 18. Jahrhundert. In:  In: Matthias Winner u.a. (Hrsg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Verlag Philip von Zabern, Mainz 1998, S. 253-274; 
Vetter, Andreas W.: Zeichen göttlichen Wesens. Überlegungen zum Apollon vom Belvedere. In: Archäologischer Anzeiger 1995, S. 451-456;   
Winner, Matthias: Zum Apoll vom Belvedere. In: Jahrbuch der Berliner Museen 10 (1968), S. 181-199;
Winner, Matthias: Paragone mit dem Belvederischen Apoll. Kleine Wirkungsgeschichte der Statue von Antico bis Canova. In: Matthias Winner u.a. (Hrsg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Verlag Philip von Zabern, Mainz 1998, S. 227-252.

(zuletzt bearbeitet am 19. Juli 2024)

Antonello, im Fieber

Sonntag, 16. Juni 2024

Patron der Pilger, in Holz geschnitzt – Jakobus-Figuren von Tilman Riemenschneider

Tilman Riemenschneider: Jakobus d.Ä. (um 1505);
München, Bayerisches Nationalmuseum

Sie vielen Jahrhunderten gilt dem Apostel Jakobus d.Ä. eine besondere Verehrung. Unter König Herodes Agrippa enthauptet (Apostelgeschichte 12,1-2), soll sein Leichnam der Legende ins spanische Galizien überführt und dort beigesetzt worden sein. Dann geriet das Grab in Vergessenheit. Nach seiner Wiederentdeckung im 9. Jahrhundert wurde darüber eine Kapelle, später eine Kirche und schließlich die Kathedrale errichtet, um die herum sich der Pilgerort Santiago de Compostela entwickelte. Die Wallfahrt zu diesem Grab entwickelte sich im 11. und 12. Jahrhundert zu einer der größten Pilgertraditionen des christlichen Westens. In diesem Zusammenhang änderte sich auch die bildnerische Wiedergabe des Apostels. Als Patron der Pilger verehrt, wurde er nun selbst als Pilger präsentiert; breitkrempiger Hut und Pilgerstab, Tasche und Pilgerflasche zeichnen in nun auf zahllosen Darstellungen aus. Außerdem erhält er postum eine an Hut, Tasche oder Mantel befestigte Kammmuschel als Erkennungszeichen. Aufgrund dieses Attributes wurde die „Jakobsmuschel“ bereits im Mittelalter zum Symbol der Santiago-Pilger.

Von Tilman Riemenschneider (1460–1531) haben sich zwei Jakobus-Darstellungen aus Lindenholz erhalten (gemeint ist im Folgenden immer Jakobus d.Ä.). Die eine befindet sich heute im Bayerischen Nationalmuseum München und die andere im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart. Beide Figuren gehen in ihrer Gewand- und Kopfgestaltung auf Steinskulpturen aus dem zwischen 1500 und 1506 in der Werkstatt Riemenschneiders entstandenen Apostelzyklus für die Würzburger Marienkapelle zurück und werden etwa zeitgleich um 1505 entstanden sein.

Auf beschwerlicher Wanderschaft:
Frontalansicht der Münchner Jakobus-Figur

Die 148 cm hohe Jakobsfigur aus München ist rückseitig ausgehöhlt und war ursprünglich gefasst. Der ältere bärtige Apostel mit schulterlangem Haar und Pilgerhut auf dem Kopf hat seinen rechten Fuß leicht nach vorn gesetzt. Locker liegt sein Umhang über den Schultern, wird von seiner rechten Hand, die den heute nur noch im mittleren Teil erhaltenen Pilgerstab hält, vor dem Körper fixiert, während die Linke den schweren Stoff über die linke Schulter zieht. Durch diese Gewandführung schließen sich Gesicht, Hände und Oberkörper einerseits optisch zu einem Oval zusammen, andererseits gibt der Umhang in weiten Teilen den Blick frei auf das in der Taille gegürtete Pilgergewand, die Pilgertasche mit Umhängeriemen und die nackten Füße.

Riemenschneiders Darstellung wirkt wie eine Momentaufnahme: Mit seinem vorgesetzten rechten Fuß scheint der Pilger nur kurz im Gehen innezuhalten, seinen Umhang vor dem Herunterrutschen zu sichern und Luft holen zu wollen, bevor er seine beschwerliche Wanderschaft fortsetzt. Zum Durchatmen hat er den Mund leicht geöffnet. Die deutlich vortretenden Jochbögen und die zusammengezogenen Brauen geben dem Gesicht einen asketischen und ermüdeten Ausdruck.

Da die halbrund gearbeitete Figur auch einen schrägen Blick auf ihre Seiten zulässt, sich weder zur rechten noch zur linken Seite neigt und frontal ausgerichtet ist, kann man bei ihr eine Aufstellung als Einzelwerk vermuten. Solche separaten Jakobusdarstellungen wurden als Andachtsbilder an jenen Orten aufgestellt, an denen Pilger auf ihrem Wallfahrtsweg rasteten, also vornehmlich an Kirchen und Spitälern.

Tilman Riemenschneider: Jakobus d.Ä. (um 1500/1506);
Würzburg, Museum für Franken
Tilman Riemenschneider: Jakobus d.J. (um 1500/1506);
Würzburg, Museum für Franken

Die Münchner Jakobsfigur findet im Werk Riemenschneiders Parallelen in zwei überlebensgroßen Apostelfiguren aus der Würzburger Marienkapelle. Alle vierzehn Skulpturen der Folge sind aufgrund ihres sehr hohen und beengten Aufstellungsortes in den Nischen der Strebepfeiler recht flach und auf Untersicht gearbeitet. Der Kopf des Würzburger Jakobus weist mit seinen ebenfalls asketischen Gesichtszügen, den betonten Jochbögen und eingefallenen Wangen große Ähnlichkeiten mit dem Antlitz des Münchner Jakobus auf. Bei beiden ist das Haupt leicht nach links geneigt, Haar- und Barttracht sowie die ausgeprägten Augen- und Stirnfalten stimmen weitgehend überein. Allerdings stimmt die Gesamtanlage der Münchner Figur nicht mit der des Würzburger Jakobus überein. Sie folgt vielmehr der des dortigen Jakobus d.J., einer im Gesicht jugendlichen Gestalt, die ihren rechten Fuß vorgesetzt hat, mit der Linken den Umhang über die Schulter zieht, den sie auf der anderen Seite mit der rechten, auf einen Walkerbaum gestützten Hand vor den Körper legt.

Tilman Riemenschneider: Jakobus d.Ä. (um 1505);
Stuttgart, Landesmuseum Württemberg;
Bildnachweis: Landesmuseum Württemberg, Bildarchiv

Auch die Stuttgarter Jakobusfigur hat den Apostelzyklus der Würzburger Marienkapelle zum Vorbild. Sie ist 121,6 cm hoch, 40 cm breit und 14 cm tief, ebenfalls rückwärtig ausgehöhlt und ursprünglich gefasst. Der Pilgerhut, die unter dem rechten Arm sichtbare Pilgertasche, die nackten Füße und der heute mit der linken Hand verlorene Pilgerstab weisen das Bildwerk eindeutig als Jakobus aus. „Nicht nur auf Grund ihres geringeren Formates wirkt die Stuttgarter Skulptur gegenüber der Münchner Jakobus-Darstellung graziler und bewegter, denn ihr fehlt der geschlossene, in sich ruhende, monumentale Gesamteindruck, der für die Münchner Figur so charakteristisch ist“ (Lichte 2006, S. 58).

Der Stuttgarter Jakobus hat die Hüfte zu seiner linken Seite ausgestellt, die Schulter neigt sich nach rechts. Sein rechtes Bein ist angewinkelt, sodass sich das Knie unter dem Gewand durchdrückt. Es scheint, als wollte der Apostel gerade zu einem Schritt nach vorn ausholen. Die Gewandführung unterstützt mit ihren betonten Faltengraten und bewegten Nestern den dynamischen Gesamteindruck der Figur. Der in üppiger Stofffülle über den Schultern liegende Umhang wird auf der Brust von einer Agraffe zusammengehalten und fällt zu beiden Seiten der Gestalt herab. Dabei umspielt er faltenreich den angewinkelten linken Arm mit der heute verlorenen Hand und wird vor den Körper gezogen. Der rechte Arm tritt dagegen unter dem Umhang hervor und versucht den Faltenwurf über der linken Schulter zu bändigen, wobei die Hand nach links oben weist. In diese Richtung wendet sich auch der Kopf, dessen jugendliches Gesicht in die Ferne blickt bzw. in sich versunken wirkt. Die jugendliche Physiognomie ist in der des Jakobus d.J. aus der Würzburger Marienkapelle vorgebildet. Von dort sind das ovale, faltenlose Gesicht mit den Jochbögen, das schulterlange Haar sowie der kurze Kinn- und Schnauzbart übernommen. Auch die Gewandanlage des Stuttgarter Jakobus scheint von der des Würzburger Jakobus d.J. inspiriert, ohne ihr direkt zu folgen.

Wahrscheinlich eine Schreinskulptur:
Frontalansicht der Stuttgarter Jakobus-Figur;
Bildnachweis: Landesmuseum Württemberg, Bildarchiv

Mit seiner auffälligen Wendung zur linken Seite sucht die Stuttgarter Jakobusfigur optisch nach einem links stehenden Bildwerk. Diese Ausrichtung wie auch die nicht ausgearbeiteten Seiten sprechen für eine Aufstellung in einem Altarschrein; die Figur ist eher wie ein Relief denn wie eine Skulptur aufgefasst und auf Frontalansicht gearbeitet. Im Schrein eines Flügelaltars galt die Verehrung nicht ausschließlich Jakobus, sondern ebenso den anderen dargestellten Aposteln und Heiligen. Dementsprechend steht bei der Stuttgarter Figur nicht die Darstellung der mühsamen Wanderschaft im Vordergrund. Dagegen ist der Münchner Jakobus ganz durch das Motiv der Wallfahrt charakterisiert: Der erschöpfte Gesichtsausdruck, das kurze Innehalten im gleichzeitigen Voranschreiten erzählen vom langen und ermüdenden Unterwegsssein. Als Einzelfigur war diese Skulptur ganz auf die Verehrung herantretender Pilger ausgerichtet.

Man hat Riemenschneiders Jakobus-Figuren als „vorreformatorisch“ bezeichnet, weil der Künstler gänzlich darauf verzichtet, manche der Jakobus-Legenden mit darzustellen oder auf sie anzuspielen (wie etwa das sogenannte „Hühnerwunder“ oder die Überführung seines Leichnams nach Galizien) Deswegen haben diese Bildwerke wohl auch den frühreformatorischen Bildersturm mit seiner Ablehnung der Heiligenverehrung überstanden. Weil Martin Luther im damaligen Bilderstreit Kunstwerke mit Heiligendarstellungen zu „adiaphora“ erklärte, also zu tolerablen Nebensächlichkeiten, „konnten solche in den Kirchengebäuden der evangelisch-lutherisch gewordenen Gemeinden sogar eher überdauern als in vielen katholischen, wo nicht wenige Kunstschöpfungen des Mittelalters durch solche der Renaissance, des Barock und noch jüngerer Stilformen ersetzt wurden oder gar verschiedenen Purifikationswellen zum Opfer fielen“ (Soder 2006, S. 104).

 

Literaturhinweise

Lichte, Claudia (Hrsg.): Tilman Riemenschneider – Werke seiner Blütezeit. Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2004, S. 325-326;

Lichte, Claudia: Zwei Jakobusfiguren Riemenschneiders aus Münchner und Stuttgarter Museumsbesitz. In: Paul Ludwig Weinacht (Hrsg.), Der heilige Jakobus im Werk von Tilman Riemenschneider. KunstSchätzeVerlag, Gerchsheim 2006, S 52-63;

Soder von Güldenstubbe, Erik: Zum Jakobskult in Zeitalter der Reformation. In: Paul Ludwig Weinacht (Hrsg.), Der heilige Jakobus im Werk von Tilman Riemenschneider. KunstSchätzeVerlag, Gerchsheim 2006, S 98-105.