Mittwoch, 30. Januar 2013

Ganz nackt, ganz Mann – Michelangelos Christus in der Sixtina


Der bartlose Christus – als Gottessohn eigentlich nur an seinen Wundmalen erkennbar
Fünf Jahre, von 1536 bis 1541, hat Michelangelo an seinem Jüngsten Gericht gearbeitet. Auftraggeber für das gewaltige Wandfresko an der Stirnwand der Sixtinischen Kapelle war zunächst Papst Clemens VII., auf dessen Wunsch hin Michelangelo im September 1534 von Florenz nach Rom übersiedelte. Doch schon zwei Tage später starb der Papst. Das Projekt wurde jedoch nicht in Frage gestellt; der Nachfolger Paul III. (im Oktober 1534 gewählt) bestätigte den Auftrag. Zu den Vorbereitungen gehörte auch, bereits vorhandene Fresken an der Altarwand (von Pietro Perugino und Michelangelo selbst) zu zerstören; außerdem wurden zwei Fenster zugemauert. Im Frühjahr 1536 begann der Künstler mit der eigentlichen Freskierung: Auf rund 180 Quadratmeter schuf Michelangelo etwa 390 Einzelfiguren. Am 31. Oktober 1541 wurde das monumentale Gemälde feierlich enthüllt.
Fast 390 Einzelfiguren auf 180 Quadratmeter Wandfläche
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Thema des Freskos ist die Wiederkehr Christi und das damit verbundene Jüngste Gericht, bei dem der Gottessohn als Weltenrichter sein Urteil über Verdammnis und Erlösung sprechen wird. Ich will mich heute nur mit der Gestalt Christi befassen, das Wandgemälde als Ganzes soll zu einem späteren Zeitpunkt noch näher betrachtet werden.
Es ist vor allem der nackte menschliche Körper, der das riesige Wandbild dominiert; selbst die keuschesten Heiligen werden völlig unbekleidet gezeigt. Mit dem Sohn Gottes verhält es sich nicht anders. Michelangelo präsentiert einen überlebensgroßen, eindrucksvoll gestikulierenden, muskulösen Christus. Er ist nicht mit den traditionellen Gesichtszügen ausgestattet – Mittelscheitel, schlankes Gesicht, länglicher Bart. Hätte Michelangelo nicht wenigstens die Wundmale an der Seite sowie an Händen und Füßen angedeutet, so verriete die Figur nichts von ihrer Identität. Die Haltung Christi ist nicht eindeutig zu bestimmen – halb sitzt er, halb erhebt er sich. Sein Unterkörper zitiert spiegelverkehrt den Moses Michelangelos, sein Oberkörper eher dessen Auferstandenen Christus aus Santa Maria sopra Minerva (siehe meinen Post Die Blöße des Erlösers“).
Michelangelo: Moses (1513-1515); Rom, San Pietro in Vincoli
Auch der Leib des Weltenrichters ist so gut wie nackt, nämlich nur um die Lenden und am linken Oberarm von einem dünnen Tuch bedeckt. Das war bis dahin mehr als ungewöhnlich. „Ein solches Wagnis konnte wohl nur Michelangelo, der unbestritten größte Künstler jener Tage, eingehen, und das auch nur deshalb, weil die bartlose Aktfigur direkt an eine antike Idealität des Nackten anschloss, wie sie die berühmteste Figur des Altertums verkörperte, der Apoll von Belvedere“ (Zöllner 2007, S. 262).
Apoll vom Belvedere; Vatikanische Museen, Rom
Aber es gab in der Renaissance wohl auch theologische Gründe, Christus nackt darzustellen: Den Körper des Erlösers in seiner ganzen Natürlichkeit zu zeigen, sollte belegen, dass Christus wirklich Mensch und wahrhaft Mann gewesen ist. Seine Nacktheit galt als Ausweis seiner humanitas. Gerade in der ostentatio genitalium offenbart sich das Geheimnis der Inkarnation. Da Christus ohne Erbsünde ist, kennt er keine Scham. Im Gegenteil, die Bedeckung des Schambereichs hätte den jungfräulichen Gottessohn vielmehr zum Sünder erklärt.
Bereits vor der Enthüllung des Freskos am Vorabend zum Allerheiligenfest 1541war Kritik an Michelangelo laut geworden. Anlässlich eines gemeinsamen Besuchs mit Papst Paul III., wahrscheinlich als der obere Teil der Altarwand vollendet war, missbilligte der Zeremonienmeister Biago Martinelli die Darstellung derart vieler nackter Gestalten an einem so heiligen Ort als Verstoß gegen die Schicklichkeit – so berichtet es Giorgio Vasari in seiner Michelangelo-Biografie. Neben überschwenglichem Lob für das Fresko wurde in den unmittelbaren Jahren und Jahrzehnten nach der Enthüllung die harsche Kritik an dem Bild immer lauter, und zwar hauptsächlich wegen der vielen Aktdarstellungen. Am 3. Dezember 1563 hatte das Konzil von Trient erklärt, dass im Hause Gottes „nichts Unordentliches, nichts in verkehrter oder übereilter Weise Angeordnetes, nichts Profanes und nichts Unanständiges in Erscheinung treten“ dürfe. Nach dem Tod Michelangelos am 18. Februar 1564 wurde Daniele Volterra, dem verstorbenen Künstler als Schüler nahestehend, beauftragt, die Blößen der Aktfiguren durch Tücher zu verhüllen. Das trug ihm den Spottnamen „braghettone“ (Hosenmaler) ein. Neu freskiert wurde von ihm allerdings nur die als besonders anstößig betrachtete Hl. Katharina.
Diese Übermalungen wurden auch bei der jüngsten umfangreichen Restaurierung der Sixtina (1980-1994), die allgemein großes Lob erhielt, nicht entfernt. Der ursprüngliche Zustand des Freskos mit den auch im Genitalbereich nackten Figuren ist jedoch durch zeitgenössische Kopien gut belegt. Für Michelangelo selbst jedenfalls hatten die heftigen Reaktionen auf das Jüngste Gericht noch keine Konsequenzen, denn sie hielten Papst Paul III. nicht davon ab, schon bald nach Abschluss des Wandbildes in der Sixtina bei dem inzwischen 66-jährigen Künstler die Ausmalung der Cappella Paolina in Auftrag zu geben (siehe meinen Post „Michelangelos letzte Fresken“).

Literaturhinweise
Mösenender, Karl: Michelangelos „Jüngstes Gericht“. Über die Schwierigkeit des Disegno und die Freiheit der Kunst. In: Karl Möseneder (Hg.), Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 95-118;
Steinberg, Leo: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion. The University of Chicago Press, Chicago und London 21996;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999, S. 173-174;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007.

(zuletzt bearbeitet am 27. April 2020)

Samstag, 12. Januar 2013

Ein Schauspiel für die ganze Welt – „Die Anbetung der Hirten“ von Hugo van der Goes

Hugo van der Goes: Anbetung der Hirten (um 1480); Berlin, Gemäldegalerie
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Kehren wir noch einmal zu den Vorhängen zurück, genauer: zu Hugo van der Goes’ Anbetung der Hirten aus der Berliner Gemäldegalerie mit seinem ungewöhnlich in die Breite gezogenen Format (245 x 97 cm). Der Bildraum ist hier im wörtlichen Sinn eine Bühne, denn vor dem Stall in Bethlehem werden gemalte halbdurchsichtige Vorhänge aufgezogen, als beginne in diesem Moment ein Theaterstück. Vor der Bühne stehen zwei lebensgroß wirkende Personen, die an der Aufführung nicht teilnehmen, sondern wie Ansager auftreten. Der Stall wirkt wie eine
 Kulisse und nicht wie ein realer Ort; er ist „wie eine enge Bühne aufgebaut, auf der sich das Wunder der Weihnacht jetzt, da wir vor dieser Bühne stehen, noch einmal ereignet“ (Belting 1994, S. 117). Das Bild besitzt die Realität eines Schauspiels, in dem aber keine Schauspieler auftreten, sondern die echten Personen der Weihnachtsgeschichte. Das Gemälde von van der Goes zeigt jedoch keine zeitgenössische Bühne und auch keine zeitgenössische Aufführung, sondern wählt die Bühne als Metapher.
Die beiden älteren Männer vor der Bühne ziehen für uns die an einer Stange befestigten Vorhänge auf. Im mittelalterlichen geistlichen Mysterienspiel traten die Propheten, die im Alten Testament das Kommen des Messias geweissagt hatten, sozusagen vor der Bühne als Ansager und Kommentatoren auf, und in unserem Gemälde erfüllen sie eine ähnliche Bühnenrolle. Sie spielen im eigentlichen Stück nicht mit, sondern sprechen mit ihrer Gestik und Mimik zu uns, als wollten sie uns erklären, was im Spiel hinter ihnen zu sehen sein wird. Durch ihre Haltung und die Richtung ihres Blicks gehören sie zur Welt des Betrachters. Die linke Schulter des linken Propheten und die rechte Hand des rechten ragen regelrecht aus dem Bild heraus. Verwechseln lassen sich das Proszenium mit den beiden bärtigen Gestalten und der Bühnenraum nicht, „denn sie haben ganz verschiedenes Bodenniveau, und auch der Figurenmaßstab verändert sich sprunghaft. Nichts macht die verschiedene Distanz der zwei Räume sinnfälliger als der Umstand, daß dieselbe Bildhöhe in dem einen Raum nur für Halbfiguren, im anderen aber für ganze, wenn auch kniende Platz hat“ (Pächt 1994, S. 146).
Der Prophet zur Rechten trägt einen Mantel mit Motiven aus Goldbrokat, der mit Pelz gefüttert und durch einen blauen, mit Goldfäden verzierten Gürtel geschlossen ist. Das rote Tuch, das über seinen Schultern liegt, bildet dazu einen starken Farbkontrast. Der Prophet zur Linken ist in einen kirschroten Samtmantel gehüllt. Goldene Mantelknöpfe glitzern im Licht. Er trägt eine orangefarbene Kopfbedeckung, deren langes, über die Schultern drapiertes Ende ebenso wie der zusammengebundene Gürtel die Wendung seines Körpers betonen. Die eindrückliche Stofflichkeit dieser Gewänder hat die gleiche Funktion wie Vorhang und Stange: Sie sollen den Eindruck vermitteln, als gehörten sie zur Welt des Betrachters.
Nicht nur durch den Vorhang, sondern auch durch die „Inszenierung“ wird der Bühnencharakter des Gemäldes betont. Die beiden Propheten stehen vor der Bühne; die Hirten auf dem Feld empfangen die Botschaft der Engel hinter der Bühne, wohin sich ein Fenster öffnet. Sie umkreisen dann, wie man sich vorstellen muss, den Stall von hinten und betreten auf der anderen Seite im Laufschritt den Schauplatz („Und sie kamen eilend“; Lukas 2,16; LUT). Während der eine in gespannter Erwartung gerade eintrifft, kniet der andere bereits vor dem Kind nieder, ohne den Hirtenstab, der in einer kleinen Schaufel endet, aus der Hand zu lassen.
„Und sie kamen eilend ...“  (Lukas 2,16)
Die Bewegung der Hirten führt zu einer „Verzeitlichung der Bilderzählung“, wie es Hans Belting nennt. Damit nicht genug, denn es sind mehrere Zeitebenen, die in der Anbetung der Hirten zusammenfließen: Die Propheten vor dem Bild haben in einer früheren Zeit gelebt, aber sie wenden sich an uns als Zuschauer, die wir in einer späteren Zeit leben. Für uns ziehen sie den Vorhang auf, der einer anderen Zeit angehört, der Zeit des Schauspiels. „Das Stück selbst ist weder Erinnerung noch Gegenwart, sondern gehört der Spielzeit zu, die allein in der Gegenwart des Betrachters liegt“ (Belting 1994, S. 122). Hugo van der Goes’ Gemälde wagt nicht weniger, so Hans Belting, als „den Wettbewerb mit einem geistlichen Drama“.
Maria und Joseph haben sich beiderseits der Krippe niedergelassen, umgeben von flügelschlagenden Engeln, die sich ebenso neugierig wie andächtig zwischen dem heiligen Paar und den Stalltieren drängeln. Die Krippe ist nicht die geometrische Mitte des Bildes, vielmehr markiert Maria dessen Symmetrieachse; sie bildet den ruhenden Pol, zeigt sich unbeeindruckt von dem Bewegungsimpuls, den die beiden Hirten der Komposition vermitteln. Die Krippe ist ganz vorne aufgestelllt, das Jesuskind darin sucht den Augenkontakt mit dem Betrachter. „Unmißverständlich macht uns der Maler klar, daß hier alles für uns gespielt wird und auf unseren Blick eingerichtet ist. Wir sehen etwas, was uns gezeigt wird, damit wir es sehen“ (Belting 1994, S. 120).
Farblich dominieren die Gewänder von Maria und Joseph: Marias Mantel und Kleid haben das gleiche Blau, Joseph trägt ein terrakottafarbenes Gewand und einen roten Mantel sowie ein etwas dunkler kirschfarbenes Tuch über der rechten Schulter. Alle Engel sind in einfache Gewänder gehüllt. Das Jesuskind ist mager und wird gleichmäßig beleuchtet. In seiner rechten Hand hält es ein Pflänzchen, wie es auch vorne links aus den Ritzen einer kleinen Mauer wächst. Es handelt sich um ein Heilkraut, den Schwarzen Nachtschatten, das auf die Erlösung in Christus hinweisen soll, denn dessen Menschwerdung war schon von Augustinus als „Medizin“ bezeichnet worden. „So ist das Kind, das eine irdische Arznei in seinem Händchen hält, selbst eine überirdische Arznei“ (Belting 1994, S. 121).
Vor der Krippe wiederum liegt ein Ährenbündel – es verweist auf das Brot, das aus dem Weizen gebacken wird: Zum einen wird sich Jesus später selbst als „das Brot des Lebens“ bezeichnen (Johannes 6,35; LUT); zum anderen ist das Brot gemeint, das sich in der Eucharistiefeier in den Leib Christi verwandelt. „Hugos grain may also be intended to invoke the association between the Eucharist and the meaning of the word Bethlehem, ‘House of Bread’“ (Lane 1975, S. 479/480).
Der Vorhang wird gelüftet – und nun seht!
Und auch der Vorhang hat eine theologische Bedeutung (siehe meinen Post „Vorhang auf!“). Er bezieht sich auf das Motiv des „Vetus Testamentum velatum, Novum Testamentum revelatum“, eine Metapher, die auf den Apostel Paulus zurückgeht. Im 2. Korintherbrief spricht er davon, das Alte Testament sei wie durch eine Decke verhüllt – verstehen könne es nur, wer in Jesus den dort verheißenen Messias erkennt (Kapitel 3,14-16). Jetzt ziehen die beiden Propheten, die Jesu Geburt vorhergesagt haben, den Vorhang beiseite und öffnen die Bühne für ein welthistorisches Ereignis: „Nun aber schauen wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel“ (2. Korinther 3,18; LUT). Barbara G. Lane deutet die beiden Vorhänge nochmals anders: Die Krippe in van der GoesAnbetung der Hirten sei gleichzeitig auch als Altar gemeint; sein Gemälde werde nur dann verständlich, wenn der eucharistische Hintergrund der Geburt Jesu bedacht wird. In the Berlin Nativity, Hugo’s Christchild lies on a manger that signifies the altar, and the Infant thereby becomes a visual explanation of the consecrated Host. The parted curtains reveal the Child just as altar curtains disclosed the tranformed Host to the congregation(Lane 1975, S. 486).


Literaturhinweise
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 119-122;
Franke, Susanne: Raum und Realismus. Hugo van der Goes Bildproduktion als Erkenntnisprozess. Peter Lang, Frankfurt am Main 2012, S. 230-249;
Lane, Barbara G.: “Ecce Panis Angelorum”: The Manger as Altar in Hugo’s Berlin Nativity. In: The Art Bulletin 57 (1975), S. 476-486; 
Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel-Verlag, München 1994, S. 196-199;
Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und ihr Wesen. Band 1. DuMont Buchverlag, Köln 2001 (urspr. 1953), S. 342;
Ridderbos, Bernhard: Die »Geburt Christi« des Hugo van der Goes. Form, Inhalt, Funktion. In: Jahrbuch der Berliner Museen 32 (1990), S. 137-152;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 9. Februar 2023)

Montag, 7. Januar 2013

Aphrodite – knidisch und kapitolinisch


Praxiteles: Aphrodite von Knidos (Vorbild um 350 v.Chr.), römische Marmorkopie nach spätklssischem Original;
Rom, Varikanische Museen
Die erste lebensgroße Skulptur, die einen weiblichen Körper in völliger Nacktheit zeigt, hat der griechische Bildhauer Praxiteles um 350 v.Chr. geschaffen: die aus Marmor gemeißelte Aphrodite von Knidos („Knidische Venus“). Das Original ist nicht mehr erhalten, aber es sind mehr als 50 großformatige Kopien überliefert; die beste davon, Venus Colonna genannt, befindet sich im Gabinetto delle Maschere der Vatikanischen Museen.
Die antike Liebesgöttin, mit 205 cm überlebensgroß, steht im klassischen Kontrapost vor uns. Kontrapost bedeutet nicht nur, dass sich Stand- und Spielbein unterscheiden lassen, vielmehr sind alle Elemente und Kräfte des Körpers kontrapostisch aufeinander bezogen und zugleich voneinander abhängig: „Kein Motiv exponiert sich, ohne in der anderen Richtung zurückgenommen zu werden, kein Nachgeben auf der einen Seite ohne ein Zulegen auf der anderen (Hinz 1998, S. 29). Die Knidische Venus ist unstrittig die erste Statue einer Frau, die alle kontrapostischen Kriterien erfüllt.
Der Künstler hat der Figur einen sanften S-Schwung verliehen, der den Körper vom ganz leicht gesenkten Haupt bis zu den Zehen des mit der Ferse nur wenig gehobenen und zurückgesetzten Fußes langgestreckt durchläuft. Das Becken senkt sich durch den Kontrapost auf der Seite der angehobenen Schulter und wird durch das Standbein nach oben gedrückt, wo sich auf der rechten Seite die Schulter leicht senkt. „Tragen und Lasten, Hebung und Senkung, Anspannung und Entspannung sind sichtbar unterschieden (...) und halten sich vollkommen die Waage. So wird der Körper in seiner Gänze zum Hort des Gleichgewichtes der Gegensätze“ (Hinz 1998, S. 29). 
Der Aphrodite-Rundtempel auf der Insel Knidos, 1967-69 entdeckt und freigelegt
Aphrodite hat mit dem linken Arm ihr Gewand zum Baden abgelegt, und zwar auf ein als Stütze für die Marmorplastik eingefügtes dreihenkliges Wassergefäß, eine Hydria. Aber vielleicht hat Aphrodite das Bad auch schon beendet und nimmt das Gewand gedankenverloren wieder auf, um sich anzukleiden. Aphrodites rechter, herabhängender Arm schwingt sacht vor dem Körper und verdeckt völlig unwillkürlich die Scham. Die Göttin fixiert mit ihrem geradeaus gerichteten Blick nichts und niemand Bestimmtes. Vor allem scheint sie den, der vor ihr steht, also den Betrachter, in keiner Weise zu beachten – er spielt für die Komposition keine Rolle, die Göttin hält sich für unbeobachtet bzw. verhält sich wie unbeobachtet.
Noch ein Detail sei vermerkt: Die männlichen Genitalien und ihre Behaarung werden bei den Skulpturen der griechischen Klassik sehr naturgetreu wiedergegeben. Im Gegensatz dazu fehlen der Knidischen Venus die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane völlig. Prüderie kann der Grund dafür nicht gewesen sein, denn die war der griechischen Lebensart fremd. Berthold Hinz sieht darin vor allem eine ästhetische Entscheidung“ (Hinz 1998, S. 39) – dem mag ich so nicht folgen. Tiefenpsychologisch gesehen, erscheint mir das männliche Genital als Machtinsignie, die der Frau eben nicht zugestanden wird. Jedenfalls blieb die weibliche Skulptur der Griechen nach dem Vorbild der Knidia fortan ohne Vulva – und ebenso erging es im Abendland in den folgenden Jahrhunderten insgesamt dem weiblichen Aktunabhängig von seiner Nationalität und seiner Stillage“ (Hinz 1998, S. 39). Auf dem Feld des Skulptur wurde erst Auguste Rodin in dieser Hinsicht wieder eindeutig, etwa mit seiner Iris (um 1890/91); in der Malerei war es Gustave Courbet mit seinem Bild Der Ursprung der Welt von 1866 (Musée d’Orsay, Paris).
Kephisodotos und Timarchos: Kapitolinische Venus (Vorbild
um 300 v.Chr.); römische Marmorkopie eines hellenistischen
Bronzeoriginals; Rom, Musei Capitolini
Die nach der Knidischen Venus bedeutendste Statue der nackten Aphrodite stammt von den beiden Söhnen des Praxiteles namens Kephisodotos und Timarchos. Sie wird nach der besten erhaltenen Replik in den Kapitolinischen Museen in Rom Kapitolinische Venus genannt. „Man darf sie als eine bewußte Auseinandersetzung mit dem Werk des Vaters begreifen, denn ihre weiblichen Formen sind denen der praxitelischen Göttin ähnlich“ (Andreae 2001, S. 72). Doch handelt es sich bei der Knidia um eine spätklassische Skulptur, so ist die Kapitolinische Venus bereits eine hellenistische Figur.
Aphrodite fühlt sich bei ihrem Bad überrascht, jedoch nicht von ihrem wirklichen Betrachter, den sie so wenig wahrnimmt wie die Knidische Venus. Sie wendet den Kopf vielmehr nach rechts, wo der Voyeur zu vermuten ist. Ihre Schenkel pressen sich zusammen, mit der linken Hand bedeckt sie die Scham und hebt den rechten Arm vor die Brüste. „Es geht wie ein Frösteln durch ihren ganzen Körper, der eher gespannt als in schönem Linienfluß gelockert erscheint wie bei der Knidierin“ (Andreae 2001, S. 72).
So eine Rückseite ist mitten aus dem Leben gegriffen
Ihr Körper ist auch antomisch genauer wiedergegeben als der der früheren Figur: Die Fettpölsterchen am Leib (zum Beispiel am Ansatz der vollen Arme), der unter einer feinen Falte dreieckig eingesetzte und als runde Vertiefung wiedergegebene Nabel, die Grübchen in den Handrücken, besonders aber der durchgestaltete Rücken mit den knappen Glutäen und den eingezogenen Trochantergruben zeugen von der Naturbeobachtung der Künstler. Während sich die Haare der Knidia dicht, mit melonenartigen Rillen um den Kopf legen, werden sie bei der Kapitolinischen Venus zu Schleifen auf dem Kopf aufgetürmt oder fallen in losen Strähnen auf den Rücken. „Sie sind ein Element, das nicht mit, sondern gegen den Körper komponiert und dem eine eigene Stofflichkeit zuerkannt wird“ (Andreae 1998, S. 48). Vor allem aber unterscheiden sich Knidische und Kapitolinische Venus darin, dass in der Darstellung jetzt der Augenblick eine Rolle spielt. Man kann sich nicht vorstellen, daß diese sich beobachtet fühlende Frau länger in der gleichen Haltung verharrt, während die klassische Göttin einfach innehält“ (Andreae 2001, S. 72), unbewusst lässig, in sich selbst versunken, von allem unberührt.
Die Knidische Venus blieb über viele Jahrhunderte eine der Leitfiguren bei der Darstellung des weiblichen Aktes – zu ihren Bewunderern gehörte Auguste Renoir, der die antike Skulptur mit seinen malerischen Mitteln als Baigneuse au griffon sozusagen in Fleisch und Blut verwandelte.
Auguste Renoir: Baigneuse au griffon (1870); Sao Paulo, Museu de Arte
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Literaturhinweise 
Andreae, Bernard: Schönheit des Realismus. Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik. Verlag Phillip von Zabern, Mainz 1998, S. 47-50;
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001;
Bayerische Staatsgemäldesammlungen (Hrsg.): Venus. Bilder einer Göttin. Ausstellungskatalog München 2001;
Hinz, Berthold: Aphrodite. Geschichte einer abendländischen Passion. Carl Hanser Verlag, München 1998;
Liess, Reinhard: Schönheit, Leiden und Vergänglichkeit. Betrachungen antiker Bildwerke. Die Knidische und Die Kapitolinische Venus. In: Reinhard Liess, Streifzüge durch die klassische Kunstgeschichte mit einer Kritik an Picasso. Band III. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2021, S. 1147-1153;
Zanker, Paul: Eine Kunst für die Sinne. Zur Bilderwelt des Dionysos und der Aphrodite. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998.

(zuletzt bearbeitet am 12. Januar 2022)

Sonntag, 6. Januar 2013

Dagmar Nick: Dreikönigsritt

Diego Velázquez: Anbetung der Könige (1619), Madrid, Museo del
Prado (für die Großansicht einfach anklicken)


Dreikönigsritt

Die Nächte waren wie versiegelt.
Doch sie durchbrachen sie mit ihrem Ritt
und rissen ganze Völker mit sich mit,
weil sich in ihrem Blick ein Stern gespiegelt;
der stand wie eine Flamme im Zenit.

Und ihnen war, als ritten sie schon Jahre.
Sie schwankten schwer in ihrem goldnen Glast,
getürmt im Sattel ihrer Dromedare.
Der Sand stob ihnen die Haare
unter der Kronen heiße Last.
Die Wüste schrie.
Sie aber, wunderbare Schahs und Scheiche
vergaßen ihre märchenhaften Reiche
und suchten eine neue Dynastie.

Und plötzlich wurde dann der Wind
ganz still. Die Landschaft schien sich zu erweitern.
Und später hörte man von den Begleitern,
ihren Kameltreibern und ihren Reitern:
es war da nur in einem Stall ein Kind,
um ihre Herrscher völlig zu zerscheitern.

Denn diese stürzten wie in einem Zwange
erblindet auf die Knie.
Sie fühlten sich in ihrem Untergange
und waren bange. Und so preßten sie
ihre verstörten Angesichte
fest auf den Boden vor dem großen Lichte
und knieten außer Sinnen, lange. Lange.

Dagmar Nick

Donnerstag, 3. Januar 2013

Vorhang auf! – Rembrandts „Heilige Familie“ aus Kassel


Rembrandt van Rijn: Die Heilige Familie mit dem Vorhang (1646); Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
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Auf den ersten Blick scheint Rembrandts kleines Gemälde (46,8 x 68,4 cm) eine häusliche Genreszene zu zeigen. Bei näherem Hinsehen erkennt man jedoch, dass es sich bei den Figuren um Maria und Josef mit ihrem Kind handelt. Maria sitzt links im Vordergrund auf einer Bank. Sie trägt ein dunkelgrünes Kleid, ein weißes Halstuch und ein Häubchen. Die junge Mutter hat ihr rot gekleidetes Kind aus der Wiege genommen und drückt den kleinen Jesus zärtlich an sich. Hinter ihr lässt sich ein Himmelbett ausmachen. Die Behausung, in die Ruinen eines spitzbogigen Gebäudes eingebaut, wird durch das am Boden brennende Feuer und durch links einfallendes Licht erhellt. Neben dem Feuer im Vordergrund steht ein Breischälchen mit einem Löffel darin; daneben sitzt ein Katze, die sich zu wärmen scheint und, wohl hungrig, den Napf fixiert. Rechts im Hintergrund, in einem dunklen Hof, zu dem ein paar Stufen hinabführen, ist schemenhaft Josef zu erkennen: Der Zimmermann und Nährvater Jesu hackt gerade Holz.
Die Szenerie wird von einem gemalten goldenen Rahmen eingefasst, der nach oben hin abgerundet ist. An der linken Seite hat Rembrandt ihn mit einem Pilaster versehen, an der unteren Leiste mit reichen Verzierungen. Davor befindet sich eine ebenfalls gemalte Eisenstange mit einem roten Vorhang. Der ist zurückgezogen und verdeckt einen Teil der rechten Bildhälfte.
Der Raum, die Tracht der Personen, die Ausstattung – alles gehört in Rembrandts Zeit und Lebensraum, nichts deutet zwingend auf jene Familie im Palästina der Zeitenwende, von der im Neuen Testament die Rede ist. Für Rembrandt und seine Zeitgenossen ist die Geschichte von der Geburt Christi nicht Vergangenheit, sondern ein höchst aktuelles Geschehen.
Dass gemalte Vorhänge zur Zeit Rembrandts nicht ungewöhnlich waren, zeigt zum
Beispiel Jan Vermeers Bild Das brieflesende Mädchen aus der Dresdener
Gemäldegalerie (um 1659)
Warum fügt Rembrandt nun aber dieser Szene einen gemalten Vorhang hinzu, der ein Drittel des Bildes verdeckt? In früheren Jahrhunderten wurden tatsächlich Stoffvorhänge benutzt – zum einen, um Gemälde vor Staub und Licht zu schützen, zum anderen, um die Bilder durch ein zeitweises Verhüllen interessanter, kostbarer, geheimnisvoller werden zu lassen. Solche echten Vorhänge sind wohl noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in Gebrauch gewesen. Gemalt machen Vorhang, Stange und Rahmen das Bild zunächst einmal zum optischen Kunststück. Sie bilden ein Trompe-l’œil, mit dem der Besitzer eines solchen Gemäldes seine Besucher zu verblüffen vermag. Oder andersherum: Rembrandt setzt den Augentrug ein, um sein verblüffendes malerisches Können vorzuführen, als Wiederholung jener antiken Künstleranekdote, die Plinius d.Ä. erzählt: Der Maler Parrhasius hatte einen so realistischen Vorhang vor ein Bild gemalt, dass sein Kollege Zeuxis verlangte, man möge diesen endlich beiseite ziehen, um das Bild sehen zu können (Naturalis historiae, Buch 35,65). Gemälde mit gemalten Vorhängen im Bild gab es schon früher, zum Beispiel Raffaels Sixtinische Madonna von 1512/13 – aber Rembrandts Heilige Familie aus Kassel ist das erste mit einem gemalten Vorhang vor einem Bild.
Raffaels Sixtinische Madonna mit gemaltem Vorhang im Bild (1512/13), Dresden,
Gemäldegalerie Alte Meister
Rembrandt hat die Heilige Familie mehrfach dargestellt. Auf dem großformatigen Bild in der Eremitage in St. Petersburg (1645) sitzt Maria beim Feuer, ein großes Buch auf dem Schoß, in dem sie eben noch gelesen hat, und hebt die Decke über der Wiege an, um ihr schlafendes Kind zu betrachten. Josef bleibt, verschattet, im Hintergrund und bearbeitet mit der Axt ein Holzstück. 
Rembrandt van Rijn: Die Heilige Familie mit den Engeln (1645), St. Petersburg, Eremitage
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Das Kasseler Gemälde wirkt wie eine ein Jahr später entstandene Variante dieses Bildes, denn wir sehen dieselben Figurentypen als Maria und Josef sowie eine große Ähnlichkeit in der Beleuchtung der Szene. Auch das hochformatige Bild der Eremitage ist durch die häusliche Atmosphäre bestimmt – doch die Engel links oben verdeutlichen unmissverständlich, dass wir es mit einer alles anderen als alltäglichen Szene zu tun haben. Mit den Engeln bricht ein himmlisches Licht in den Raum, das uns die heilsgeschichtliche Bedeutung des Geschehens erkennen lässt. Josef schnitzt mit seiner Axt ein Joch – Symbol für die Rolle Jesu als Erlöser. Es verweist auf die Weissagung des Propheten Jesaja aus dem Alten Testament, der Heiland werde das auf Israel lastende Joch zerbrechen (Jesaja 9,1-6). 
Aber auch das gelüftete Tuch hat – wie der gemalte, beiseite geschobene Vorhang auf dem Kasseler Gemälde – symbolische Bedeutung: Es verweist auf das Motiv des „Vetus Testamentum velatum“, eine Metapher, die auf den Apostel Paulus zurückgeht. Im 2. Korintherbrief spricht er davon, das Alte Testament sei wie durch eine Decke verhüllt – verstehen könne es nur, wer in Jesus den dort verheißenen Messias erkennt (2. Korinther 3,14-16). Maria hat soeben noch in den prophetischen Büchern des Alten Testaments gelesen; sich von ihrem Buch abwendend und die Decke anhebend, erblickt sie in ihrem Sohn den Erlöser.
Gary Schwartz ist allerdings anderer Ansicht: Maria habe zuvor genügend Hinweise auf die Göttlichkeit ihres Sohnes erhalten – die Ankündigung der Geburt durch den Engel, die Anbetung der Hirten und Weisen, die Begegnung mit Simeon und Hanna im Tempel. Für ihn ist das Buch, in dem Maria eben noch gelesen hat, eine Anspielung auf die berühmten Eingangsworte des Johannesevangeliums: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Schwartz 2006 S. 319).


Literaturhinweise
Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 332;
Giltaij, Jeroen: Rembrandt Rembrandt. Ausstellungskatalog Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main 2003. Edition Minerva, Wolfratshausen 2003, S. 146-149;
Kemp, Wolfgang: Die Heilige Familie oder die Kunst, einen Vorhang zu lüften. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1986;
Schwartz, Gary: Das Rembrandt-Buch. Leben und Werk eines Genies. Verlag C.H. Beck, München 2006, S. 315-319;
Tümpel, Christian: Rembrandt – Mythos und Methode. Verlag Langewiesche, Königstein i.T. 1986, S. 244-246.

(zuletzt bearbeitet am 6. April 2020)