Der bartlose Christus – als Gottessohn eigentlich nur an seinen Wundmalen erkennbar |
Fast 390 Einzelfiguren auf 180 Quadratmeter Wandfläche (für die Großansicht einfach anklicken) |
Thema des Freskos ist die Wiederkehr Christi und
das damit verbundene Jüngste Gericht, bei dem der Gottessohn als Weltenrichter
sein Urteil über Verdammnis und Erlösung sprechen wird. Ich will mich heute nur
mit der Gestalt Christi befassen, das Wandgemälde als Ganzes soll zu einem
späteren Zeitpunkt noch näher betrachtet werden.
Es ist vor allem der nackte menschliche Körper,
der das riesige Wandbild dominiert; selbst die keuschesten Heiligen werden
völlig unbekleidet gezeigt. Mit dem Sohn Gottes verhält es sich nicht anders. Michelangelo
präsentiert einen überlebensgroßen, eindrucksvoll gestikulierenden, muskulösen
Christus. Er ist nicht mit den traditionellen Gesichtszügen ausgestattet –
Mittelscheitel, schlankes Gesicht, länglicher Bart. Hätte Michelangelo nicht
wenigstens die Wundmale an der Seite sowie an Händen und Füßen angedeutet, so
verriete die Figur nichts von ihrer Identität. Die Haltung Christi ist nicht eindeutig zu bestimmen – halb sitzt er, halb erhebt er sich. Sein Unterkörper zitiert spiegelverkehrt den Moses Michelangelos, sein Oberkörper eher dessen Auferstandenen Christus aus Santa Maria sopra Minerva (siehe meinen Post „Die Blöße des Erlösers“).
Auch der Leib des
Weltenrichters ist so gut wie nackt, nämlich nur um die Lenden und am linken Oberarm von einem dünnen Tuch bedeckt. Das war bis dahin mehr als
ungewöhnlich. „Ein solches Wagnis konnte wohl nur Michelangelo, der
unbestritten größte Künstler jener Tage, eingehen, und das auch nur deshalb,
weil die bartlose Aktfigur direkt an eine antike Idealität des Nackten
anschloss, wie sie die berühmteste Figur des Altertums verkörperte, der Apoll von Belvedere“ (Zöllner 2007, S.
262).
Michelangelo: Moses (1513-1515); Rom, San Pietro in Vincoli |
Apoll vom Belvedere; Vatikanische Museen, Rom |
Aber es gab in der Renaissance wohl auch
theologische Gründe, Christus nackt darzustellen: Den Körper des Erlösers in seiner
ganzen Natürlichkeit zu zeigen, sollte belegen, dass Christus wirklich Mensch
und wahrhaft Mann gewesen ist. Seine Nacktheit galt als Ausweis seiner humanitas. Gerade in der ostentatio genitalium offenbart sich das
Geheimnis der Inkarnation. Da Christus ohne Erbsünde ist, kennt er keine Scham.
Im Gegenteil, die Bedeckung des Schambereichs hätte den jungfräulichen Gottessohn
vielmehr zum Sünder erklärt.
Bereits vor der Enthüllung des Freskos am
Vorabend zum Allerheiligenfest 1541war Kritik an Michelangelo laut geworden.
Anlässlich eines gemeinsamen Besuchs mit Papst Paul III., wahrscheinlich als
der obere Teil der Altarwand vollendet war, missbilligte der Zeremonienmeister
Biago Martinelli die Darstellung derart vieler nackter Gestalten an einem so
heiligen Ort als Verstoß gegen die Schicklichkeit – so berichtet es Giorgio
Vasari in seiner Michelangelo-Biografie. Neben überschwenglichem Lob für das
Fresko wurde in den unmittelbaren Jahren und Jahrzehnten nach der Enthüllung
die harsche Kritik an dem Bild immer lauter, und zwar hauptsächlich wegen der vielen Aktdarstellungen. Am 3.
Dezember 1563 hatte das Konzil von Trient erklärt, dass im Hause Gottes „nichts
Unordentliches, nichts in verkehrter oder übereilter Weise Angeordnetes, nichts
Profanes und nichts Unanständiges in Erscheinung treten“ dürfe. Nach dem Tod
Michelangelos am 18. Februar 1564 wurde Daniele Volterra, dem verstorbenen
Künstler als Schüler nahestehend, beauftragt, die Blößen der Aktfiguren durch Tücher zu verhüllen. Das trug ihm den Spottnamen „braghettone“ (Hosenmaler)
ein. Neu freskiert wurde von ihm allerdings nur die als besonders anstößig
betrachtete Hl. Katharina.
Diese Übermalungen wurden auch bei der jüngsten
umfangreichen Restaurierung der Sixtina (1980-1994), die allgemein großes Lob
erhielt, nicht entfernt. Der ursprüngliche Zustand des Freskos mit den auch im
Genitalbereich nackten Figuren ist jedoch durch zeitgenössische Kopien gut
belegt. Für Michelangelo selbst jedenfalls hatten die heftigen Reaktionen auf
das Jüngste Gericht noch keine Konsequenzen, denn sie hielten Papst Paul III.
nicht davon ab, schon bald nach Abschluss des Wandbildes in der Sixtina bei dem
inzwischen 66-jährigen Künstler die Ausmalung der Cappella Paolina in Auftrag
zu geben (siehe meinen Post „Michelangelos letzte Fresken“).
Literaturhinweise
Mösenender, Karl: Michelangelos „Jüngstes
Gericht“. Über die Schwierigkeit des Disegno und die Freiheit der Kunst. In:
Karl Möseneder (Hg.), Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp. Dietrich
Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 95-118;
Steinberg, Leo: The Sexuality of Christ in Renaissance
Art and in Modern Oblivion. The University of Chicago Press, Chicago und London
21996;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999, S. 173-174;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999, S. 173-174;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige
Werk. Taschen Verlag, Köln 2007.
(zuletzt bearbeitet am 27. April 2020)