Édouard Manet: Toter Christus mit Engeln (1864); New York, Metropolitan Museum of Art (für die Großansicht einfach anklicken) |
Andrea Mantegna: Engelspietà (um 1495/1500); Kopenhagen, Statens Museum for Kunst (für die Großansicht einfach anklicken) |
Mit seiner Christusdarstellung folgte Manet der
Tradition der sogenannten „Engelspietà“. Dabei handelt es sich um ein
Andachtsbild, das den toten
Christus halb- oder ganzfigurig mit den Nägelmalen und der Seitenwunde zeigt,
aber nicht am Kreuz hängend, sondern von einem oder mehreren Engeln gehalten
und betrauert oder angebetet. Manets kunsthistorisches Vorbild dürfte die
Engelspietà Andrea Mantegnas (um 1495/1500) gewesen sein, die sich heute in
Kopenhagen befindet. Die Aufrichtung des Oberkörpers, die Beinstellung mit dem
stärker angewinkelten und leicht nach innen gestellten linken Bein, die Armhaltung
– all das ist in Mantegnas Engelspietà vorformuliert. Allerdings weicht Manets
Schmerzensmann an einigen Stellen auffallend von seinem Renaissance-Vorbild ab.
Mantegnas Christus hat die Augen geöffnet – er lebt. Wir sehen nicht nur den
Gekreuzigten, sondern auch den auferstandenen Erlöser. Manets Christus hat
ebenfalls die Augen offen, aber der Blick ist gebrochen. Sein Christus ist
ein toter Christus. Trotz der begleitenden Engel haben wir also einen sehr
irdischen Leichnam vor uns. Emily A. Beeny rückt Manets Gemälde deswegen auch in die Nähe von Hans Holbeins berühmtem Christus im Grabe (1521/22; siehe auch meinen Post „Ganz Mensch, ganz tot“).
Der erschlaffte, aber noch immer muskulöse Körper des breitschultrigen Jesus wird uns frontal und halb liegend präsentiert. Einer der beiden Engel stützt mit seiner Rechten Nacken und Kopf des Toten. Die untere Gesichtshälfte wird von einem Bart bedeckt, die Lippen sind leicht geöffnet. Die Dornenkrone hat einige Blutflecken auf der Stirn hinterlassen; die Haut verfärbt sich gelblich, die Wunden haben ein krustiges Braun und Schwarz angenommen. An der linken Hand Christi fehlt der Daumen, die Finger- und Zehennägel sind nicht ausgeführt – weswegen manche Kunstkritiker das Bild als „unfertig“ bezeichneten.
Hans Holbein: Der tote Christus im Grab (1521/22); Basel, Kunstmuseum |
Mit Befremden
wurde von den Zeitgenossen Manets auch aufgenommen, dass die Seitenwunde Christi
links platziert ist. Von den vier Evangelisten erwähnt nur Johannes die
Seitenwunde (Johannes 19,34), aber ohne Angabe, welche Seite von der Lanze des
Soldaten durchbohrt wurde. In der Tradition der christlichen Kunst ist die Seitenwunde
fast ausnahmslos rechts zu sehen – denn die rechte Seite ist positiv besetzt,
sie ist die „Ehrenseite“ (siehe z. B. Markus 16,19). Es dürfte sich aber kaum
um ein Versehen Manets gehandelt haben.
Manets Bild hält
noch weitere Irritationen bereit. „Ich werde einen toten Christus mit Engeln
malen“, schrieb der Künstler im November 1863 an den Abbé Hurel. „Es soll eine
Variante der von Johannes geschilderten Szene mit Magdalena im Grab werden.“
Aber Magdalena ist gar nicht dargestellt, und in der Grabesszene, die der Evangelist
Johannes beschreibt, ist Christus bereits von den Toten auferstanden. Einer der
beiden Steine am unteren Bildrand verweist dennoch auf die entsprechende
Passage im Johannes-Evangelium: „Maria aber stand draußen vor dem Grab und
weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab und sieht zwei Engel in
weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie
den Leichnam Jesu hingelegt hatten. Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst
du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht,
wo sie ihn hingelegt haben“ (Johannes 20,11-13; LUT). Zu dieser von Manet selbst im
Bild notierten Bibelstelle steht das Gemälde in merkwürdigem Widerspruch.
Manets realistische Darstellung des Leichnams
Christi stieß die meisten Kunstkritiker ab. Der Schriftsteller Théophile
Gautier merkte an, dieser Christus sei so schmutzig, dass „ihn nicht einmal die
Auferstehung wieder reinigen kann“, und in der Zeitschrift La Vie Parisienne wurde gescherzt, das Gemälde wolle in
Wirklichkeit wohl „den armen Bergmann nach seiner Rettung aus der Kohlengrube“
abbilden. Es sehe aus, so der Kritiker von La
Vie Parisienne, als sei das Bild speziell „für Monsieur Renan gemalt“
worden.
Mit dem Namen Renan kommt eines der berühmtesten
und umstrittensten Bücher des 19. Jahrhunderts ins Spiel: Das Leben Jesu,
1863 von Ernest Renan (1823–1892) veröffentlicht, erreichte ein Dutzend
Auflagen und rief heftige Proteste hervor. Renans Biografie Jesu ist weder
polemisch noch blasphemisch. Aber sie macht Jesus zu einer historischen Figur.
Renan zeigt Jesus als großen Menschen, aber dennoch ganz gewöhnlichen
Sterblichen – und nicht als Sohn Gottes. Die Wunder Jesu, seine göttliche Natur,
seine Auferstehung von den Toten gehören ins Reich der Legende, so der Autor. 1862 war der
Orientalist Renan zum Professor für semitische Sprachen am Collège de France
ernannt worden. Kurze Zeit nachdem Das Leben Jesu erschienen war, erwirkte
das französische Episkopat, dass ihm seine akademische Stellung wieder entzogen
wurde.
Als Manet sein Bild des toten Christus malte,
war Renans Buch das modernste Werk, das es über das Christentum gab. Manet, der
immer ein „Maler des modernen Lebens“ (Charles Baudelaire) sein wollte, griff
„in die Diskussion ein, die über Renan entbrannte, und lieferte seinerseits
eine moderne Version der Passion Christi“ (Körner 1996, S. 87). Christus ist
nicht auferstanden, lautet die provokante Botschaft des Bildes. Renan legte gesteigerten
Wert auf den von Johannes geschilderten Lanzenstich – für ihn ist er die
amtliche Bestätigung des Todes Jesu. Manet leistet hier seinen Beitrag zur
„Entmythologisierung“: Da das Herz links sitzt, ist die Seitenwunde entgegen
der ikonographischen Tradition, aber unter Rücksicht auf die anatomische und
historische Wahrheit auch dort anzubringen.
Ebenso ist die Angabe der Bibelstelle auf dem Stein
am unteren Bildrand in diesem Zusammenhang zu sehen: „Manet konfrontierte die ›legendäre‹
Version des Johannesevangeliums mit der von ihm vorgetragenen modernen ›wissenschaftlichen‹
Version“ (Körner 1996, S. 87). In Renans Sicht war die Auferstehung nur der
Wunschtraum einer ehemaligen Prostituierten, die vor Kummer halb wahnsinnig
war: „Wir können jedoch sagen, dass die starke Einbildungskraft Marias von
Magdala bei dieser Gelegenheit eine Hauptrolle spielte. Göttliche Gewalt der
Liebe! Heilige
Augenblicke, in
denen die Leidenschaft einer Visionärin der Welt einen auferstandenen Gott
gibt!“ (Renan 1981, S. 205). Wir als aufgeklärte, historisch gebildete
Betrachter nehmen nun die Stelle der fehlenden Maria Magdalena ein, wir blicken
ins Grab und sehen – der Leichnam ist immer noch da, anders als die Bibel in
Johannes 20,11-13 berichtet.Caravaggio: Tod der Jungfrau Maria (um 1606); Paris, Louvre |
Literaturhinweise
Beeny, Emily A.: Christ and the Angels: Manet, the Morgue, and the Death of History Painting? In: Representations 122 (2013), S. 51-82;
King, Ross: Zum Frühstück ins Freie. Manet, Monet und die Usprünge der modernen Malerei. Albrecht Knaus Verlag, München 2007, S. 161-166;
King, Ross: Zum Frühstück ins Freie. Manet, Monet und die Usprünge der modernen Malerei. Albrecht Knaus Verlag, München 2007, S. 161-166;
Körner, Hans: Edouard Manet. Dandy, Flaneur, Maler.
Wilhelm Fink Verlag, München 1996, S. 83-87;
Renan, Ernest: Das Leben Jesu. Diogenes Verlag,
Zürich 1981;
Sheppard, Jennifer M.: The Inscription in Manet’s The Dead Christ, with Angels. In: Metropolitan Museum Journal 16 (1981), S. 199-200;
LUT = Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luther in der revidierten Fassung von 1984. Durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung. © 1984 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 19. Mai 2020)
Sheppard, Jennifer M.: The Inscription in Manet’s The Dead Christ, with Angels. In: Metropolitan Museum Journal 16 (1981), S. 199-200;
LUT = Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luther in der revidierten Fassung von 1984. Durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung. © 1984 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
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