Sonntag, 26. Mai 2013

Im Ring mit Dürer – Rembrandts Radierung „Der Sündenfall“

Rembrandt: Der Sündenfall (1638); Radierung
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Mehr als 70 Radierungen hat Rembrandt für den holländischen Markt angefertigt. Sie waren dazu gedacht, der persönlichen Bibel an der jeweiligen Stelle beigefügt zu werden. 1638 entstand Der Sündenfall (16,3 x 11,7 cm) – eine Grafik, die besonders durch die naturalistisch dargestellten Körper von Adam und Eva ins Auge sticht. „Compared with virtually all their predecessors in the Renaissance tradition, his Adam and Eve are unusually old and uncommonly ugly, with sagging flesh and awkward, graceless movements and gestures. Naturalism here is unmistakably a consciously antiheroic style“ (Smith 1987, S. 496).
Mit der linken Hand hält Eva eine Frucht „des Baumes mitten im Garten“ (1. Mose 3,3; LUT) in Brusthöhe. Auch die Finger der rechten Hand berühren die Frucht. Sie ist der deutlich fokussierte Lichtpunkt, wie andererseits Evas Geschlecht die zentrale dunkle Stelle der Radierung bildet. Adam jedoch ist der aktivere Teil: Seine Rechte ist warnend erhoben, der Zeigefinger weist nach oben und damit auf das göttliche Verbot, nicht davon zu essen. Die linke Hand hat Adam zwischen den Apfel und Evas Mund geschoben; sie ist flach ausgestreckt – er will also, entgegen der Bildtradition, nicht nach der Frucht greifen. Vielmehr hindert er Eva daran, in den Apfel zu beißen. Eva, von Adams Eingreifen überrascht, wendet ihm den Kopf zu. Für ein derartiges direktes Einschreiten Adams gibt es in der Bildtradition keine Parallele. Rembrandt stellt also nicht die „Verführung“ Adams durch Eva dar, sondern den Augenblick vor dem Sündenfall. Die Stammeltern sind sich daher ihrer Nacktheit noch nicht bewusst, die sie dem Betrachter ganz unbefangen präsentieren. Erst nach dem Sündenfall wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze(1. Mose 3,7; LUT).
Beinahe vertikal über Eva und der Frucht, die sie in Händen hält, taucht der Kopf eines geflügelten Drachen auf. In 1. Mose 3 ist allerdings von der Schlange die Rede und nicht von einem Drachen. Wie immer man sich dieses Wesen vorzustellen hat – zum Kriechtier mutiert es durch Gottes Fluch erst nach dem Sündenfall: „Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang“ (1. Mose 3,14; LUT). Daher ist Rembrandts Darstellung durchaus stimmig.
Die Werke Rembrandts aus den 1630er Jahren sind vielfach durch den Wettbewerb, die aemulatio mit den berühmtesten Künstlern der Vergangenheit und Gegenwart gekennzeichnet. Das gilt auch für die Sündenfall-Radierung, bei der Rembrandt mit der bis dahin bedeutendsten Sündenfall-Darstellung auf dem Gebiet der Druckgrafik in Wettstreit tritt: Albrecht Dürers Kupferstich von 1504 (siehe meinen Post Aus Göttern werden Menschen). Dabei meint aemulatio sowohl Nachahmung eines verehrten Vorbilds als auch Präsentation eines Gegenentwurfs.
Den Künstlern der Renaissance wie des Barock kannten die Thesen des antiken Rhetoriklehrers Quintillian zur künstlerischen Nachahmung aus dem X. Buch seiner Institutio oratoria. Es handelt sich um den locus classicus zu diesem Thema. So redet Quintillian über die Notwendigkeit, Vorbilder nachzuahmen, gleichzeitig aber auch darüber, dass es damit nicht sein Bewenden haben dürfe. Nachahmung müsse zu Wettbewerb, imitatio zu aemulatio werden. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Maler, Grafiker und Bildhauer der Frühen Neuzeit ihre Vorbilder nie sklavisch nachgeahmt haben. Es handelt sich vielmehr um den Prozess kreativer Aneignung, der immer künstlerische Eigenständigkeit voraussetzt.
Albrecht Dürer: Adam und Eva (1504); Kupferstich
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Auf den ersten Blick scheint es keine Verbindung zu geben zwischen Dürers Kupferstich und Rembrandts Radierung – die am klassischen Schönheitsideal der Antike ausgerichteten Akte des Nürnberger Meisters haben so gar nichts gemein mit den naturalistisch gestalteten Körpern bei Rembrandt. Diese Naturnähe hatte Rembrandt zuvor am lebenden Modell – wohl seiner schwangeren Frau Saskia – erprobt: Die Rötelzeichnung eines zumeist als „Cleopatra“ bezeichneten Frauenaktes (ebenfalls 1638 entstanden) wird oft mit der Sündenfall-Radierung in Verbindung gebracht, wobei die Eva der Radierung stärker in die Vorderansicht gedreht ist.
Rembrandt van Rijn: Saskia als Cleopatra (1638, Rötelzeichnung); Malibu, J. Paul Getty Museum
Voraussetzung für die aemulatio ist, dass sich die Bildquelle, mit der sich der Künstler auseinandersetzt, erkennen lässt. Und das ist bei Rembrandts Radierung auch der Fall: Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass er das Standmotiv der Eva aus dem Stich Dürers übernommen hat. Vor allem die Stellung der Füße weist deutlich darauf hin. Auch die Differenzierung zwischen männlichem und weiblichem Körper erinnert an Dürer. Rembrandt verweist noch durch ein zusätzliches Motivzitat auf den deutschen Künstler, an dem er seine Version des Sündenfall-Themas gemessen sehen will: Die Schlange, von der in 1. Mose 3 die Rede ist, wird bei ihm zu einem Drachen, der Symbolfigur Satans (Offenbarung 12). Dieser Drache ist Albrecht Dürers berühmter Kupferstichpassion entnommen, und zwar dem Blatt Christus in der Vorhölle (1512). Rembrandt hatte den kompletten Kupferstich-Zyklus 1638 erworben. Auch der Baumstamm und die überhängenden Äste erinnern in ihrer rahmenden Funktion an den halbrunden Torbogen in Dürers Kupferstich.
Albrecht Dürer: Christus in der Vorhölle (1512); Kupferstich
Doch die Unterschiede zwischen den beiden Sündenfall-Grafiken sind ebenso augenfällig: Bei Rembrandt wird der klassische Kontrapost von Dürers Eva zu einem „plumpen Stehen“ (Krüger 1993, S. 219); darüber hinaus ersetzt Rembrandt die symmetrische Bildanlage mit dem Baum in der Mitte durch eine  asymmetrische Komposition. Dabei platziert der niederländische Künstler Eva in der Mittelachse seines Blattes, wohl um ihre Rolle als Verführerin zu betonen. Bei Rembrandt steht die Interaktion zwischen Adam und Eva im Vordergrund, während es Dürer vor allem darum geht, einen perfekten männlichen und einen vollkommen proportionierten weiblichen Körper vorzuführen. Nicht zuletzt ist die Lichtregie gegensätzlich: In Dürers Stich agieren die hell beleuchteten Figuren vor der dunklen Folie des Waldes, bei Rembrandt ist es umgekehrt: Er stellt, so Jan Eric Sluijter, dem lichterfüllten Paradies im Hintergrund vorne die dunkle Zukunft des ersten Menschenpaares gegenüber. Dass sich Adam bei Rembrandt an einen Felsen lehnt, geht wiederum auf einen Kupferstich des niederländischen Malers und Grafikers Lucas van Leyden (1494–1533) zurück.
Lucas van Leyden: Der Sündenfall (1530); Kupferstich
Rembrandts Radierung verbildlicht aber nicht nur den Sündenfall, sondern deutet auch schon auf die Erlösung voraus. Denn beim Abstieg in die Hölle (1. Petrus 3,19; 4,6) befreit Christus Adam und Eva aus der Macht des Teufels. Wenn Rembrandt nun in seiner Grafik die Schlange als Drachen darstellt, dann verweist er darauf, dass der Satan selbst Adam und Eva verführt hat, aber durch Christus überwunden ist. Es gibt noch einen zweiten Hinweis auf auf Beginn und Vollendung der göttlichen Heilsgeschichte: Die Armhaltung des Stammvaters, des „ersten Adams“, erinnert an den Weltenrichter aus Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtina, den zweiten Adam“ (1. Korinther 15,45-49).
Michelangelo: Christus der Weltenrichter (1536/41); Rom, Sixtina
Als einziges Tier im Paradies ist bei Rembrandt neben dem Drachen ein Elefant zu sehen – perspektivisch eigentlich zu klein. Das hat sicherlich nichts mit künstlerischem Unvermögen zu tun. Der Elefant wird in der Kunstgeschichte oft als Symbol für Tugend, Standhaftigkeit und Weisheit eingesetzt – entsprechend könnten die Größenverhältnisse der beiden Tiere die Übermacht des Bösen zum Ausdruck bringen. „Die Einbeziehung von Tieren mit einer bestimmten Symbolbedeutung kennzeichnet in der Nachfolge von Dürers Kupferstich die Bildtradition des Sündenfalls im Norden“ (Krüger 1993, S. 224).
Auch im antiken Physiologus ist von der Feindschaft zwischen Elefant und Schlange die Rede. In diesem frühchristlichen Text sind Pflanzen, Steine und Tiere beschrieben, denen eine allegorische Bedeutung im Blick auf das christliche Heilsgeschehen zugewiesen wird. Peter Krüger meint bei Rembrandts Elefanten eine „schwankende Haltung und das Einknicken der Beine“ zu erkennen (Krüger 1993, S. 224), was auf den bevorstehenden „Fall“ hindeute: Während die Schlange/der Drache kompositorisch und bedeutungsmäßig Eva zugeordnet sei, gehöre der Elefant zu dem – noch – standhaften Adam. 
Der kleine Elefant: Symbol für den Erlöser
Ich möchte mich dieser Deutung nicht anschließen, denn der Physiologus berichtet auch, dass „der kleine Elephant, nämlich Christus der Gott“, im Paradies erschienen sei „und richtete auf den Gefallenen vom Boden“ (Physiologus 1995, S. 65). Rembrandt hat also nicht nur den Sündenfall dargestellt, sondern mit dem Elefanten als Symbol des Erlösers das christliche Heilsversprechen mit ins Bild aufgenommen.
Die Anspielung auf Dürers Kupferstich Christus in der Vorhölle und die damit verbundene biblische Heilszusage dürfte allerdings nur ein kleiner Kreis von Kunstkennern verstanden haben. Den calvinistischen Gläubigen, die Rembrandts Grafiken ihrer Bibel beilegten, waren Dürers Kupferstiche wahrscheinlich weniger bekannt als die geistlichen Tierdeutungen des Physiologus: Das im 2. Jahrhundert n.Chr. im Mittelmeeraum verfasste, im 11. und 12. Jahrhundert auch ins Deutsche übersetzte, erlangte im Mittelalter weite Verbreitung und wurde zu einem regelrechten „Volksbuch“. 
Dass der Sündenfall auf Rembrandts Radierung trotz des warnend erhobenen Zeigefingers Adams kurz bevorsteht, sieht Peter Krüger völlig richtig: „Die schon mit den Anzeichen des Verfalls naturalistisch wiedergegebenen Körper und nicht zuletzt die Tatsache, daß sich Adams Hand – wiewohl (noch) nicht danach greifend – in gefährlicher Nähe der verbotenen Frucht befindet, lassen den weiteren Verlauf erahnen“ (Krüger 1993, S. 225/226).
Der deutsche Maler und Grafiker Max Beckmann (1884–1950) hat Rembrandt sehr geschätzt und sich in zahlreichen Werken mit dessen Kunst auseinandergesetzt – so auch mit der Sündenfall-Darstellung des Holländers. Beckmanns Radierung Adam und Eva von 1917 bezieht sich deutlich auf die berühmte Vorlage, am deutlichsten durch die drachenartige Schlange hinter dem ersten Menschenpaar.
Max Beckmann: Adam und Eva (1917); Radierung

Eine Radierung ist eine Form des Kupferstichs, bei der eine Kupferplatte mit einer säurefesten Grundierung überzogen wird, in die der Künstler seine Zeichnung mit einer Stahlnadel einritzt. Danach wird die Platte mit Säure übergossen, die sich in das von der Nadel freigelegte Kupfer frisst oder ätzt und Rillen zurücklässt, die wiederum das fertige Bild ergeben, nachdem man die Grundierung entfernt, die Kupferplatte eingefärbt und das Papier durch die Druckerpresse hat laufen lassen.

Literaturhinweise
Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt – Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 195-197;
Krüger, Peter: Rembrandts „Adam und Eva“-Radierung – eine Aemulatio mit Dürer. In: Jahrbuch der Berliner Museen 35 (1993), S. 215-226;
Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 154;
Slatkes, Leonard J.: Rembrandts elephant. In: Simiolus 11 (1980), S. 7-13;
Sluijter, Eric Jan: Rembrandt and the Female Nude. Amsterdam University Press, Amsterdam 2006, S. 285-292; 
Smith, David R.: Raphaels Creation, Rembrandts Fall. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 50 (1987), S. 496-508;
Der Physiologus. Tiere und ihre Symbolik. Übertragen und erläutert von Otto Seel. Artemis & Winkler, Zürich 1995;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 18. Februar 2021)

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