Montag, 17. Juni 2013

Robert Campins „Bildnis eines feisten Mannes“


Robert Campin: Bildnis eines feisten Mannes (um 1425); Berlin, Gemäldegalerie
Die Malerei des Nordens hatte im 14. Jahrhundert aus Italien das Porträt in reiner Profilansicht übernommen, es im Lauf der Zeit aber wieder aufgegeben, um sich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts anderen, ganz eigenen Darstellungsformen zuzuwenden, vor allem dem Porträt in Dreiviertelansicht. Nach der Haltung, insbesondere der Kopfstellung des Dargestellten, unterscheidet man in der Malerei die Frontal-/Vorderansicht oder En-face-Gestaltung und die Seitenansicht, auch Profil genannt. Ein halb von der Seite ausgeführtes Bildnis wird als Halbprofil bezeichnet. Überwiegt eine Kopf- bzw. Körperseite im Profil, so heißt dies Dreiviertelansicht. Dabei ist eine Seite voll, die andere hingegen sehr stark verkürzt wiedergegeben. Bildbeschreibungen orientieren sich dabei in der Regel an der Sicht des Betrachter. Wenn es z. B. bei einem Bildniskopf heißt, „im Profil nach rechts“, so bedeutet dies, dass die rechte Seite des Dargestellten zu sehen ist, mit Blickrichtung nach rechts.
Robert Campins kleinformatiges Bildnis eines feisten Mannes, wie er wenig charmant, aber treffend genannt wird, gilt als das früheste datierbare „Privatporträt“ der Kunstgeschichte. Wir haben hier also eines der ersten autonomen Bildnisse vor uns, bei dem der Dargestellte nicht mehr wie bisher als Stifter im Kontext eines religiösen Gemäldes wiedergegeben wird. Es ist vermutlich um 1425 entstanden und existiert in zwei Fassungen – eine befindet sich in Madrid (Sammlung Thyssen-Bornemisza) und eine in Berlin (Gemäldegalerie). Das Modell konnte sogar identifiziert werden (allerdings nicht ganz unangefochten): Es handelt sich um Robert de Masmines. Er gehörte dem flandrischen Hochadel an, stand seit 1409 im Dienst der burgundischen Herzöge und fiel 1430 in der Schlacht von Bouvines. Zuvor war er zu einem der Ratgeber und zum Kammerherrn des Herzogs Philipp der Gute ernannt worden. Er gehörte zu den Ersten, denen der von Philipp dem Guten im Jahr 1430 gestiftete Orden vom Goldenen Vlies verliehen wurde. De Masmines ist auf seinem Porträt jedoch ohne Ordenskette wiedergegeben – ein wichtiger Hinweis darauf,  dass dieses Bildnis früher entstanden ist. Überhaupt fehlen dem Bildnis Attribute, die auf die Identität oder den Stand des Dargestellten hinweisen würden. „Anscheinend ist der Mann in erster Linie als er selbst wiedergegeben statt als der Inhaber eines Amtes oder einer Würde“ (Kemperdick 2008, S. 265). Das spricht für einen eher privaten Charakter des Porträts, das wohl vornehmlich für die Familie und die Nachkommen gedacht war. Auch die exakte Kopie lässt solche Zusammenhänge vermuten.
„Das wulstige Gesicht des Porträtierten ist mit gleichsam bildhauerischem Gestus modelliert. Der Verismus des Malers geht in dem ja bis in die Poren seines Modells nachspürenden Bildnis sogar so weit, die Häßlichkeit der Person nicht zu verbergen. Ungeschönt, keinem höfischen Ideal der Grazie verpflichtet, erscheint der Dargestellte in seiner ganzen proteingeladenen, diesseitigen Unverwechselbarkeit“ (Beyer 2002, S. 33). Jede Falte, jede Narbe, jedes Barthaar des Dargestellten scheint erfasst. Dabei wird die neuartige Präsenz, Plastizität und Lebendigkeit, die das Porträt ausstrahlt, zunächst und vor allem dadurch erlangt, dass Robert Campin (um 1375–1444) die Dreiviertel- und nicht die Profilansicht gewählt hat. Das massige Gesicht des nach links gewendeten Charakterkopfs mit seinem feisten Doppelkinn, dem weichlichen Mund, der wulstigen Nase und dem ausgeprägten Bartschatten sprengt fast den engen Bildausschnitt. Der Kopf wirkt geradezu monumental, obwohl er tatsächlich deutlich unter der natürlichen Größe bleibt. „Von rechts einfallendes Licht modelliert die fleischigen Gesichtskonturen des Mannes und fängt sich in jeder wie gemeißelt wirkenden Furche und Falte des wächsernen Inkarnats“ (Belting/Kruse 1994, S. 173).
Der in Tournai ansässige Robert Campin war neben Jan van Eyck einer der ersten Künstler in den burgundischen Niederlanden, die mit ihren Werken den Stil der Spätgotik hinter sich ließen und einen völlig neuartigen Realismus in die Malerei einführten. Ein vertiefter, naturgetreuer Bildraum, große Detailgenauigkeit und die plastische Gestaltung der Figuren sind die wichtigsten Elemente dieser neuen Kunst.

Literaturhinweise
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 172-173;
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002;
Kemperdick, Stephan: Bildnis eines feisten Mannes. In: Stephan Kemperdick/Jochen Sander (Hrsg.), Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008, S. 265-271;
Thürlemann, Felix: Robert Campin. Eine Biographie mit Werkkatalog. Prestel Verlag, München 2002, S. 77-78 und 258-259.

(zuletzt bearbeitet am 23. Mai 2020)

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