Guercino: Die Heimkehr des verlorenen Sohnes (1619); Wien, Kunsthstorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Rechts, vom Bildrand angeschnitten, ist ein Knecht mit Gewand und Schuhen herbeigeeilt; der Vater nimmt ihm sogleich das kostbare Kleid vom Arm, um es dem Sohn überzustreifen. Der zieht derweil sein zerlumptes Hemd aus, sodass sein nackter, durchaus nicht ausgemergelter Oberkörper zu sehen ist, den der Maler durch das Spiel von Licht und Schatten besonders effektvoll hervorhebt. Die Dreiviertelfiguren sind nah an den Bildrand herangerückt; Zentrum des Bildes, wenn auch nicht die geometrische Mitte, sind ihre Hände und das, was sie tun. Sie sind in einem lebhaft-erregten Hin und her von Geben und Nehmen, Ent- und Bekleiden hell beleuchtet, während die Gesichter der drei Personen im Halbdunkel liegen. Guercinos Gemälde gehört zu seinen Frühwerken, die gekennzeichnet sind durch asymmetrische Kompositionen, heftig bewegte, sich überschneidende Figuren,
unruhiges Licht, das die Formen fragmentiert, und durch eine tiefe dunkle Farbigkeit.
Das Abstreifen der Kleider kann als moralische Häutung oder auch seelische Verjüngung verstanden werden, als Zeichen für den Beginn eines neuen Lebens, das der Bußfertige durch den verzeihenden Vater erlangt. Das frische Weiß des neuen Hemdes steht für die durch Reue und Vergebung bewirkte innere Reinigung. Die Wiederaufnahme des Sohnes erfolgt ohne mahnende Worte des Vaters; sein blau-goldenes Gewand „bringt ihn in die Nähe eines gottväterlichen Habitus“ (Uchtmann 2019, S. 133).
Der Theologe Karl Heinrich Rengstorf hat sich mit dem Gewand, das für den zurückgekehrten Sohn herbeigeholt wird, eingehender beschäftigt. Die meisten Ausleger gehen davon aus, dass es sich um das wertvollste Kleidungsstück handelt, das im Haus des Vaters zu finden ist. Als solches dient es dazu, dem reuigen Sohn besondere Ehre zu erweisen (Lukas 15,22). Rengstorf hingegen sieht in diesem Gewand kein anderes als das Kleid, „das er zurückließ, als er das Haus verließ, in dem er Sohnesstellung und Sohnesrecht besaß“ (Rengstorf 1966, S. 42). Er musste es zurücklassen, weil es ihn sonst weiter als ,Sohn‘, und zwar als Erbsohn, ausgewiesen hätte, während er doch nach der Trennung vom Vaterhaus kein ,Sohn‘ mehr war. Dieses Kleid ist nämlich nicht an eine Person gebunden, so Rengstorf, „sondern an das Haus und den Status des Sohns in ihm“ (Rengstorf 1966, S. 44).
Deshalb kann es auch bei seiner Rückkehr bereitliegen. Das Gewand erhält in diesem Zusammenhang den Charakter eines förmlichen Insigniums. Indem der Vater dem Heimgekehrten seine frühere, sicherlich ebenso edle wie respektvolle Bekleidung übergibt, die ihn als Sohn mit allen entsprechenden Vollmachten auswies, erneuert er seinen Status und setzt ihn wieder als Erben ein.
Rengstorf weist außerdem darauf hin, dass die Schuhe, mit denen der Vater seinen Sohn neu ausstatten lässt, eine ähnliche symbolische Bedeutung haben wie das Gewand: Mit ihnen wird ein Besitzanspruch auf Grund und Boden bekundet, der mit entsprechender Verfügungsgewalt verbunden ist. Im Orient war es nicht nur üblich, dass Sklaven ihren Dienst im Haus barfuß taten, sondern man entledigte sich auch des Schuhwerks, wenn man als Gast ein fremdes Haus betrat.
Auch der im Bibeltext erwähnte Ring findet sich in Guercinos Gemälde – und zwar deutlich sichtbar am Zeigefinger der väterlichen linken Hand. Auch die Übergabe des Rings steht kurz bevor – wobei es sich auch hier nicht um ein kostbares Schmuckstück als wertvolles Geschenk, besondere Auszeichnung oder Ausdruck der Verbundenheit handelt. Mit diesem Ring wird vielmehr Macht übertragen: Der zurückgekommene Sohn erhält mit ihm Anteil an der väterlichen Befehlsgewalt und kann somit nun selbst Befehle erteilen. Durch die Ausstattung mit Gewand, Schuhen und Ring wird der Sohn wieder endgültig der Sohn eines begüterten Hauses neben und unter seinem Vater, mit all seinen einstigen Rechten, erneut seinem älteren Bruder völlig gleichgestellt. Auch dem jüngeren gilt, was der Vater dem älteren tröstend zuruft: „Alles, was mein ist, das ist dein!“ (Lukas 15, 31; LUT). Auf diese uneingeschränkte Wiederherstellung seiner ursprünglichen Rechte hat der Sohn allerdings – was ihm mehr als bewusst ist – keinen Anspruch: Er wird wieder, was er war, allein weil es der Vater will.
Guercino: Die Heimkehr des verlorenen Sohnes (um 1627/28); Rom, Galleria Borghese (für die Großansicht einfach anklicken) |
(zuleztzt bearbeitet am 6. Juli 2024)