Samstag, 30. Mai 2020

Gelassene Melancholie – Wilhelm Lehmbrucks „Große Stehende“ von 1910

Wilhelm Lehmbruck: Große Stehende (1910); Duisburg,
Lehmbruck Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Große Stehende (auch Stehende weibliche Figur genannt) war Wilhelm Lehmbrucks erste überlebensgroße weibliche Ganzfigur. Sie markiert den Beginn seiner produktiven Pariser Schaffenszeit – Lehmbruck war 1910 von Düsseldorf in die Stadt gezogen, die wie keine andere als das Zentrum avantgardistischer Kunst galt. Entsprechend stolz verweist die Bezeichnung „PARIS“ auf den Entstehungsort der Skulptur. Sie wurde 1910 auf dem Pariser Herbstsalon unter dem Titel Femme präsentiert und löste begeisterte Kritiken aus. Das Material der ausgestellten Version war getönter Gips; diese Fassung befindet sich heute im Duisburger Lehmbruck Museum.
Die 196,5 cm hohe kräftige Frauengestalt erhebt sich ruhig und aufrecht auf einer unregelmäßig gerundeten Standfläche. Bis auf ein um die Beine geschlungenes Tuch ist sie unbekleidet. „Das um die Knie drapierte Tuch umspielt die eng zusammenstehenden Beine, betont die Nacktheit der Figur damit mehr, als dass es sie verhüllt, und erhöht damit ihren sinnlichen Reiz“ (Keilholz-Busch 2019, S. 72). Ihre im vorderen Teil unbedeckten Füße sind nebeneinander platziert, sodass sich die Fersen leicht berühren. Über den schmalen Knöcheln erheben sich die vollen Gliedmaßen, klar gegliedert in durchgedrücktes Standbein links und gebeugtes Spielbein rechts. Die klassische Ponderation setzt sich abgeschwächt in der Gegenbewegung der Hüften und Schultern fort. Das entlastete rechte Bein erhält sein Pendant in dem leicht nach rechts gewendeten Kopf.
Der rechte Arm mit der locker in den Stoff greifenden Hand liegt eng am Körper an und überschneidet in der Frontalansicht leicht Hüfte und Schenkel; der linke hängt gelöst mit leicht gespreizten Fingern an der Seite herab. Die durch Stand- und Spielbein angedeutete Drehung zur linken Seite wird von dem in dieselbe Richtung geneigten Haupt mit den gesenkten Augenlidern wiederholt. Diese Wendung setzt sich von der nach unten hängenden Schulter über den Arm bis in die geöffnete Hand fort. „Dieser Richtungsimpuls, der auch vom nach links abfallenden Tuch unterstützt wird, fordert den Betrachter auf, die Bewegungsrichtung um die Figur herum zu folgen und die Statue zu umschreiten. (...) Nur bei der Rundumschau erschließt sich die volle Körperlichkeit der Figur, ihre zarte Bewegung, die ruhige Linienführung, der rhythmische Wechsel von konkaven und konvexen Formen sowie der Ausgleich von Stütze und Last“ (Ende 2015, S. 122/123).
Die üppige Körperfülle und Sinnlichkeit der Figur stehen im Kontrast zu dem seitlich geneigten Kopf und den gesenkten Augen der Statue. Es gibt keinen Blickkontakt, keine direkte Ansprache des Betrachters. „Indem sie uns nicht wahrnimmt, scheint sich die ansonsten schutzlos den Blicken des Betrachters ausgelieferte Figur auch dessen ,Zugriff‘ zu entziehen“ (Ende 2015, S. 123). Trotz der starken körperlichen Präsenz der Figur liegt das Hauptaugenmerk auf dem Kopf bzw. dem Gesicht: Mit ihren geschlossenen Augen und ihrem Gesichtsausdruck ist die Große Stehende ganz auf sich selbst bezogen, wirkt melancholisch in sich selbst versunken.
Aristide Maillol: Pomona (1910); Paris, Jardin des Tuileries
Aristide Maillol: Flora (um 1910/12); Paris, Jardins des Tuileries
Wichtigste Anregung für Lehmbrucks Große Stehende dürften die Plastiken Aristide Maillols (1861–1944) gewesen sein: Seine Skulpturen zeichnen sich durch sinnliche Fülle und Rundheit aus; körperliche Bewegung, Affekte und Emotionen sind minimiert, die Figuren präsentieren sich als große geschlossene Form, narrative Elemente und naturalistische Details fehlen. Von der Auseinandersetzung mit Maillol hat Lehmbruck ganz offensichtlich die beruhigte Form, die Körperpräsenz und den Verzicht auf individuelle Züge übernommen. Aber während Maillols Figuren wie die Pomona oder die Flora einen selbstbewusst nach vorn gerichteten, über dem Hals gerade aufsteigenden Kopf tragen, hat Lehmbruck seine Frauenfiguren mit sanft geneigten Köpfen und reduzierten Gesichtern versehen, was der ganzen Gestalt einen verhaltenen, passiven Ausdruck verleiht. Für das Motiv der um die Oberschenkel gerafften Draperie mit sich mittig bauschenden Falten und der greifenden Hand könnte die berühmte Aphrodite von Knidos des antiken Bildhauers Praxiteles aus dem 4. Jahrhundert v.Chr. als Vorbild gedient haben (siehe meinen Post „Aphrodite – knidisch oder  kapitolinisch“). Die damals noch mit einem Zinkschurz ausgestattete Marmorkopie dürfte Lehmbruck während seiner Italien-Reise 1905 in den Vatikanischen Museen gesehen haben. Diese Anregung ist umso wahrscheinlicher, als die Statue des Praxiteles als erste großformatige weibliche Aktfigur der europäischen Plastik galt. „Damit musste sie dem ehrgeizigen Künstler als geeignete Folie für die eigenen Ambitionen erscheinen“ (Ende 2015, S. 138). Auch die gegen Ende des 2. Jahrhunderts v.Chr. entstandene, 1820 aufgefundene Venus von Milo ist als Anregung genannt worden – Lehmbruck dürfte sie bei seinen Louvre-Besuchen sicherlich immer wieder in Augenschein genommen haben.
Aphrodite von Knidos mit
hinzugefügtem Zinkschurz
Venus von Milo (2. Jh.v.Chr.); Paris, Louvre
Anita Lehmbruck stand ihrem Mann sowohl für die Große Stehende wie auch für die berühmte Kniende von 1911 Modell (siehe meinen Post
Wilhelm Lehmbrucks ,gigantische Gliederpuppe). Ihre Züge sind dabei stets mehr oder weniger deutlich erkennbar, doch geht es nicht um Porträtähnlichkeit. „Individuelle Merkmale und modische Elemente, etwa bei der Frisur, werden zugunsten der Darstellung eines idealen beziehungsweise stilisierten Frauentyps zurückgenommen“ (Ende 2015, S. 131). Zwar kommt die Große Stehende ohne narrative Bezüge aus, doch die Körperformen sowie das Tuch schlagen eine Brücke zu tradierten Darstellungen des nackten weiblichen Idealkörpers, wie etwa von Badenden oder mythologischen Frauengestalten. 
Wilhelm Lehmbruck: Torso der großen Stehenden (1910);
München, Pinakothek der Moderne
Von der Großen Stehenden hat Lehmbruck seine ersten Torsi geschaffen – ein Zweig seiner plastischen Kunst, die in seinem weiteren Werk eine immer größere Bedeutung gewinnen sollte. Zusammen mit der Vollendung der Großen Stehenden ging Lehmbruck in Paris noch vor 1911 daran, seine Figur zu zerteilen: Als Torso entstanden sowohl der Kopf wie der Rumpf, beide ließ er je in Bronze und Steinguss fertigen.
In Marmor mehr Gesicht
Im Herbst 1912 vollendete
Lehmbruck darüber hinaus noch eine Marmorfassung der Großen Stehenden, zu der ihn die Stadt Duisburg beauftragt hatte. Diese Version der Statue ist mit einem präziser durchgestalteten Gesicht versehen; außerdem greift die recht Hand „nicht mehr ganz so leblos wie bisher in das um die Beine gewundene Tuch; der linke Arm wirkt weniger starr“ (Berger 2000, S. 61), und die Plinthe nähert sich einem perfekten Kreis an. 1954 wurde sie im Stadttheater Duisburg aufgestellt, wo sie sich noch heute befindet.

Literaturhinweise
Berger, Ursel: Lehmbrucks Stehende weibliche Figur und verwandte Frauendarstellungen seiner Pariser Werkphase. In: In: Martina Rudloff/Dietrich Schubert, Wilhelm Lehmbruck. Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2000, S. 49-69;
Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck. Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015, S. 119-123;
Frosien-Leinz, Heike/Leinz, Gottlieb: Maillol und Lehmbruck: Gesten der Meditation. In: Städel-Jahrbuch 20 (2009), S. 267-286;
Keilholz-Busch, Jessica: Schönheit, Spiritualität und Seele. In: Söke Dinkla (Hrsg.); Schönheit. Lehmbruck & Rodin. Meister der Moderne. Hirmer Verlag, München 2019, S. 60-88; 
Schubert, Dietrich: Die Kunst Wilhelm Lehmbrucks. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 19902, S. 147-150.
 
(zuletzt bearbeitet am 13. März 2021) 

Mittwoch, 27. Mai 2020

Ein Morden, das nicht stattfand – Rembrandts Radierung „Der Triumph des Mordechai“


Rembrandt: Der Triumph des Mordechai (um 1641); Kaltnadelradierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Das alttestamentliche Buch Esther erzählt vom Schicksal der Juden in ihrem persischen Exil im 5. Jahrhundert vor Christus. Eine der Episoden aus diesem biblischen Buch hat Rembrandt (1606–1669), angeregt durch ein Gemälde seines Lehrers Pieter Lastman (1583–1633), auf seiner Kaltnadelradierung Der Triumph des Mordechai (um 1641) wiedergegeben. König Ahasveros nimmt den Juden Mordechai in seine Dienste, nachdem dieser ein Mordkomplett gegen ihn aufgedeckt und ihm damit das Leben gerettet hat. Als Ahasveros eine neue Frau sucht, fällt seine Wahl auf die verwaiste Esther, Mordechais Pflegetochter, die den König nicht wissen lässt, dass sie Jüdin ist.
Haman, der mächtige erste Minister am Hof, ist ein erbitterter Feind der Juden und erwirkt den königlichen Erlass, Mordechais Landsleute auszurotten. Als er sich in der Gunst des Königspaares wähnt, begibt er sich zum König und will dessen Erlaubnis einholen, Mordechai hinrichten zu dürfen, da er ihm die Huldigung verweigert. Doch bevor Haman sein Anliegen vortragen kann, erinnert sich der König daran, dass Mordechai ihm einst das Leben rettete, und stellt seinem Minister die Frage, wie man einen verdienstvollen Mann am besten ehrt. Haman vermutet, dass der König ihn selbst ehren möchte, und schlägt vor, einen solchen Mann in ein königliches Gewand zu kleiden, auf ein königliches Pferd zu setzen und vom vornehmsten Fürsten am Hof durch die Straßen der Stadt führen zu lassen. Als er dann erfährt, das Mordechai geehrt werden soll, ist er bitter enttäuscht, insbesondere, weil er diesen nun selbst durch die Stadt geleiten soll.
Hoheitlich gewandet mit Hermelin und hohem Hut, ausgestattet mit kostbarer Kette und Zepter sitzt Mordechai auf Rembrandts Grafik hoch zu Ross, überwölbt vom Torbogen des Palasthofes. Eine Menschenmenge umringt den Reiter; einige Menschen knien demütig nieder, andere erweisen ihm durch tiefe Verbeugung die Ehre. Vor dem berittenen Mordechai steht Haman; er wendet sich mit pathetischem Gestus an die Menge und muss die Worte rufen, die er selbst vorgeschlagen hat: „So geschieht dem Mann, den der König Ehre erweisen will“ (Esther 6,11; LUT). Über den Pfeiler hinter Haman und den Torbogen lenkt Rembrandt den Blick des Betrachters auf den König und Esther, die das Ereignis von der Balustrade aus verfolgen. Den gleichen Effekt hat die Diagonale, die, unten links mit der Degenscheide des Knienden beginnend, sich über die erhobene linke Hand Hamans und deren Schattenbahn fortsetzt und von dem markanten Speer im Hintergrund weitergeführt wird – bis hin zu dem Schatten, den das Haupt des Königs auf die Säule zu seiner rechten Seite wirft. „Der Kniende und der König sind also kompositorisch auf eine Linie gebracht, und die Huldigung der Befehlsgewalt ist anschaulich“ (Suthor 2014, S. 72).
Lucas van Leyden: Der Triumph des Mordechai (1515); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Pieter Lastman: Der Triumph des Mordechai (1617); Amsterdam, Museum het Rembrandthuis
Bereits der niederländische Kupferstecher Lucas van Leyden (1494–1533) stellte 1515 Mordechais Triumphzug inmitten einer ehrerbietigen Menge dar, setzte ihn jedoch ins Profil. Pieter Lastman dagegen verzichtete auf die Fülle an Bildpersonal und rückte vor allem den prachtvoll gekleideten Mordechai und sein reich geschmücktes Pferd in den Blick, dem Soldaten und Kinder folgen. Mordechai selbst blickt aus dem Bild zum Betrachter, während Hamann als Pferdeführer den prunkvollen Reiter missgünstig beäugt. Rembrandt kombinierte van Leydens Motiv des bildfüllenden Triumphzugs und Lastmans Konzentration auf die beiden Protagonisten. Von Lastmans Gemälde übernommen hat Rembrandt weiterhin die Position des auf dem Pferd sitzenden Mordechai sowie den Durchblick auf ein kuppelbedecktes Gebäude im Hintergrund. Auf seiner Radierung hebt sich Mordechai allerdings auffallend vom hellen Durchblick des großen Rundbogens ab, in dessen Hintergrund sich nur leicht die Umrisse eines ebenfalls kuppelförmigen Baus abzeichnen. Die Drapierung Mordechais und seines Pferdes, besonders der vom Turban über den Rücken fließende Schleier, dürfte ebenfalls von Lastman angeregt sein. Der feiste Mann auf der rechten Seite wiederum, der zum Gruß seine Mütze vom Kopf nimmt, dürfte wiederum als Zitat zu verstehen sein, das auf van Leydens Grafik verweist. Die Rückenfigur einer Frau mit Kind an der Schulter, am rechten Bildrand zu sehen, verweist schließlich auf eine ganz ähnliche Figurengruppe im Markuswunder von Tintoretto (1518–1594). Rembrandt hat das 415 x 541 cm große Gemälde zwar nie vor Ort in Venedig gesehen, aber es dürfte ihm sicherlich durch Reproduktionsstiche bekannt gewesen sein. Auch bei Tintoretto finden sich links und rechts der zentralen Figuren Menschengruppen, im Vordergrund ist ebenfalls eine kniende Gestalt platziert; ein Mann, der sich an einer Säule festhält, um besser sehen zu können, taucht auch hier bereits auf, und Rembrandt greift auch das Motiv der Säulen wieder auf, mit denen er die Loge des Königspaars rahmt, sowie den Ausblick auf eine helle Architektur im Bildhintergrund.
Tintoretto: Das Markuswunder (1547/48); Venedig, Academia (für die Großansicht einfach anklicken)
Bei Rembrandt ist Mordechais Blick sinnend nach innen gekehrt. „A figure of equanimity and modesty, Esthers uncle appears to be unaffected by the adoring figures that crowd rather frenetically about him“ (Perlove 1993, S. 40). Er weiß zwar, mit welch falscher Zunge der Feind seines Volkes hier spricht und wie gedemütigt er sich zugleich fühlen muss. Aber Mordechai kann in diesem Moment noch nicht absehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln werden. Auf Hamans weiteres Schicksal, der bald darauf seinen eigenen Intrigen zum Opfer fallen wird, verweist allerdings die Anwesenheit von Esther und Ahasveros, die dem Triumphzug zuschauen, obwohl dies der Bibeltext nicht erwähnt: Als Esther dem König Hamans Feindschaft gegenüber den Juden offenbart, verurteilt er ihn zum Tod – der König lässt ihn an jenem Mast aufhängen, den Haman für Mordechai vorgesehen hatte (Esther 7,10). Rembrandt fügt das Königspaar als Zeugen hinzu, um auf diese Weise die szenisch vorgeführte Erniedrigung des einstigen Günstlings zu verstärken.
Rembrandt gelingt es in seiner Radierung vor allem, durch das reiche Spektrum an Reaktionen und Emotionen der Menschen ringsumher die Szene gegenüber dem Blatt van Leydens dramatisch deutlich zu steigern. Dabei ist die Menge links und rechts in eine dunkle und in eine blendend helle Zone geteilt; links dominieren schwere Linien und tiefe Schatten, rechts scheinen sich die Körperumrisse im Licht fast aufzulösen. Den Übergang zwischen diesen beiden Bereichen bilden die beiden Hauptfiguren. Diese Zweiteilung könnte bedeuten, dass die Menschen auf der linken, verschatteten Seite unterwürfig vor dem höchsten Minister Haman niederknien, während die Verehrung der Menge auf der hell erleuchteten Seite Mordechai gilt. Dazu passt, dass links ein Beamter das Volk mit seinem Stock traktiert, während rechts Kinder staunend dem Geschehen zuschauen.
Rembrandt: Die Nachtwache (1642); Amsterdam Rijksmuseum
Die übliche Datierung des Blattes um 1641 rückt die Grafik in die Nähe von Rembrandts berühmter Nachtwache, mit der die Komposition einiges gemeinsam  hat: ein figurenreicher Aufzug, dessen beide Hauptakteure aus dem Bild nach vorn dringen und durch viel Licht zur Geltung gebracht werden. Auch das Verhältnis der Figurengruppen zu der sie umfangenden Architektur und zum ganzen Bildformat sind ähnlich.
Das Buch Esther war bei den niederländischen Künstlern des 16. und 17. Jahrhunderts sehr beliebt – ließ sich die alttestamentliche Geschichte doch auf die eigene politische Situation beziehen. Die niederländischen Protestanten sahen in den im persischen Reich verfolgten Juden eine Parallele zu sich selbst als religiöse Minderheit in einer feindlichen katholischen Umgebung. So wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch eine Reihe von politischen Theaterstücken veröffentlicht, in denen der Schurke Haman für den katholischen Herzog von Alba (1507–1582) steht, während der Gute, Mordechai, den Retter des Vaterlandes darstellt, nämlich Wilhelm von Oranien (1533–1584). Rembrandts Kupferstich „anticipates victory over the »papist idolaters« of Spain, whose defeat, suggested by Mordecai’s triumph over Haman, assures the perpetuity of the United Provinces as the New Jerusalem – a place of political and religious freedom, especially to the Dutch Jews“ (Perlove 1993, S. 59/60).

Literaturhinweise
Forssman, Erik: Rembrandts Radierung „Der Triumph des Mardochai“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 39 (1976), S. 297-311;
Kayser, Florian: Der Triumphzug des Mordechai. In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 200;
Perlove, Shelley: An Irenic Vision of Utopia: Rembrandt’s Triumph of Mordecai and the New Jerusalem. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 56 (1993); S. 38-60;
Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 296-299;
Sevcik, Anja K. (Hrsg.): Inside Rembrandt 1606 – 1669. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, S. 190-192;
Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014, S. 69-74;
Tümpel, Christian (Hrsg.): Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst. Westfälisches Landesmuseum, Münster 1994, S. 106-110;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 14. Juli 2024) 

Freitag, 22. Mai 2020

Ottonische Großkreuze – das Aschaffenburger Kruzifix aus St. Peter und Alexander

Triumphkreuz (um 980/1000); Aschaffenburg, St. Peter und Alexander
(für die Großansicht einfach anklicken)
Die frühesten hölzernen Großkruzifixe, die sich erhalten haben, stammen aus ottonischer Zeit. Diese Epoche des Frühmittelalters begann 919 mit der Krönung Heinrichs I. zum König von Sachsen und endete historisch 1024 mit dem Tod Heinrichs II. Die Bezeichnung Ottonen geht auf drei ihrer Kaiser zurück: Otto I. Otto II. und Otto III. 1024 wurde dann Konrad II. zum König des ostfränkisch-deutschen Reiches gekrönt – die Herrschaft ging damit auf die Dynastie der Salier über. Die spezifischen Kennzeichen ottonischer Kunst erloschen jedoch nicht parallel zur dynastischen Entwicklung, sodass allgemein bis zum Beginn des letzten Jahrhundertdrittels von ottonischer Kunst gesprochen wird. Die Zahl der noch vorhandenen ottonischen Großplastiken ist äußerst gering. Neben den wenigen überlebensgroßen Kruzifixen haben vor allem Marienfiguren im Typus der Sedes Sapientiae überdauert (siehe meinen Post „Christus auf dem Thron der Weisheit“).
Die Erinnerung an den Erlösertod Christi steht bei den ottonischen Kruzifixen im Vordergrund; die Aufforderung, mitfühlend das Leiden des Gekreuzigten nachzuempfinden („compassio“), setzt sich erst bei späteren Bildwerken durch. Betont wird der Sieg Christi am Kreuz, und zwar auch dann, wenn Christus als tot dargestellt ist. Das wichtigste ottonische Großkruzifix ist sicherlich das Ende des 10. Jahrhunderts entstandene Gerokreuz im Kölner Dom, das in diesem Blog bereits vorgestellt wurde (siehe meinen Post „Vom Christus victor zum Christus patiens“). Ein weiteres bedeutendes ottonisches Großkreuz, das in die letzten beiden Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts datiert wird, hat sich in Aschaffenburg erhalten; es befindet sich noch heute in der dortigen Stiftskirche St. Peter und Alexander und soll hier eingehender betrachtet werden.
Die Gestalt Christi steht mit ausgebreiteten Armen in aufrechter Haltung und mit nebeneinander genagelten Füßen auf einem abschüssigen Suppadaneum. Dem frontal ausgerichteten Oberkörper stehen die leicht zur linken Seite ausschwingenden Beine gegenüber, die das Hängen des Gekreuzigten andeuten. Der Kopf ist ins Profil gedreht und auf die rechte Schulter herabgesunken; die relativ schmal dimensionierten Arme sind ab dem Ellenbogen angewinkelt und nach oben geführt. Vor allem die Blockhaftigkeit des Rumpfes, dessen Breite sich im Wesentlichen von den Schultern bis zur Unterkante des Schurzes fortsetzt, vermittelt der Figur eine gleichmäßige Ruhe. Durch die dünnen und dadurch sehr langgezogen wirkenden Beine scheinen die Proportionen des Körpers leicht verzerrt, was vor allem für den zu kleinen Kopf zutrifft. Das ausdrucksstarke Haupt fällt durch das scharfe Abknicken aus der sonstigen Linienführung der Skulptur heraus und betont drastisch, dass wir hier den toten Christus vor uns haben.
Die Brustmuskulatur ist durch einen gleichmäßigen Bogen angedeutet, der von den Schultern zum Brustbein führt. Diesen Linien folgt nahezu parallel die weniger plastisch hervorgehobene Rippenzeichnung mit einer breiten Seitenwunde. An den Armen treten Sehnen und Adern hervor; die Sehnen sind geschnitzt, während die Blutbahnen erst in der Fassung mit Kitt aufmodelliert wurden. Die durch Parallellinien strukturierte Haarkappe wird gleichmäßig von der Stirn über die Ohren auf die Schultern heruntergeführt, wo die Haare sich in sechs zopfartigen, symmetrisch und ornamenthaft verteilten Strähnen vor die Schultern legen.
Das Gesicht wird von einem gleichmäßig gewellten Bart, der von den Ohren aus um das Kinn herumgeführt ist, zum Hinterkopf scharf abgegrenzt, was durch die geringe Betonung des Oberlippenbartes noch verstärkt wird. Die gerade Nase und der in den Mundwinkeln stark heruntergezogene, geschlossene Mund prägen das Antlitz. Dabei wird die herabfallende Linie der Mundwinkel durch eine von den Nasenflügeln nach unten verlaufende, sehr betonte Nasolabialfalte weiter unterstrichen. Auf diese Weise entsteht der Ausdruck von Anspannung und Schmerz. Betrachtet man das markante Antlitz des Gekreuzigten aus der Nähe, fällt auf, dass die Gesichtszüge fast asymmetrisch wirken. Erst in der Untersicht harmonisieren sich die Physiognomie und die gelängten Proportionen des Kruzifixus. Ein erhöhter Standort – ob auf einem Balken oder einer Kreuzsäule – ist deswegen sehr wahrscheinlich.
Der fast knielange Lendenschurz mit Cingulum und unten abschließender Borte sitzt auf der Hüfte des Gekreuzigten auf und wirkt an der rechten Seite leicht nach unten gezogen. An dieser Seite sitzt ein vielteiliger Knoten, dem links ein über die halbe Schurzlänge fallender und vor dem Bauch ein kleinerer, nahezu dreieckiger Stoffüberhang gegenüberstehen. Das einfache Balkenkreuz, an den der 1,95 m hohe Corpus geheftet ist, wird durch seine besondere Verzierung als siegreiche Crux gemmata charakterisiert. Das Rahmenprofil zeigt umlaufende Vertiefungen, die durch paarweise angeordnete Punkte rhythmisiert werden, wodurch der Eindruck eines mit Perlen und Edelsteinen kostbar besetzten Kreuzes entsteht. An der Vierung ist ein Kreuznimbus aufgemalt, der der Neigung des Kopfes folgt und daher leicht nach rechts unten kippt.
Der Gesamteindruck des Kruzifix wird in seiner ursprünglichen Gestaltung wesentlich durch die Fassung bestimmt worden sein und „besonders im Bereich des Rumpfes dem heute eher blockhaften Erscheinungsbild mehr Kleinteiligkeit verliehen haben“ (Beuckers 1994, S. 6). Die heutige Fassung des Aschaffenburger Gekreuzigten stammt ebenso wie die Bemalung der Kreuzrückseite aus gotischer Zeit.
Otto-Mathilden-Kreuz (um 985/990); Essen, Domschatzkammer
Die Gestalt des Aschaffenburger Kruzifix wird oft mit der Goldschmiedearbeit des Essener Otto-Mathilden-Kreuz in Verbindung gebracht (um 985/990), das jedoch nicht in gleicher Weise die scharfe Kopfdrehung ins Profil aufweist. Gemeinsame Auftraggeberin für beide Kunstwerke könnte die Äbtissin Mathilde von Essen gewesen sein (amt. 973–1011). Sie hat den Aschaffenburger Kruzifix wahrscheinlich zusammen mit dem Mainzer Erzbischof Willigis im Rahmen einer Memorialstiftung für das Grab ihres Bruders Herzog Otto von Schwaben und Bayern (gest. 982) in Auftrag gegeben. Auch das Essener Goldkreuz galt der Memoria ihres Bruders.
Triumphkreuz (um 970/1000); Gerresheim, St. Margareta (für die Großansicht einfach anklicken)
Der Gerresheimer Christus ist als Lebender dargestellt
Das größte erhaltene ottonische Holzkruzifix befindet sich in der ehemaligen Stiftskirche von Düsseldorf-Gerresheim (heute St. Margareta); die Datierung schwankt zwischen 970 und 1000. Die freigelegte Fassung hat ergeben, das der Gerresheimer Corpus im Gegensatz zum Gerokreuz und zum Aschaffenburger Kruzifix geöffnete Augen hatte und somit nicht als toter Gekreuzigter dargestellt war. Eine rechteckige Vertiefung im Hinterkopf diente einst zur Aufnahme von Reliquien.
Ringelheimer Kruzifix (um 1000); Hildesheim, Dom-Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Das einzige erhaltene ottonische Monumentalskulptur, das sich relativ sicher datieren lässt, ist der Ringelheimer Kruzifixus. Er wird heute im Hildesheimer Dom-Museum aufbewahrt. Als Entstehungszeit gelten die Jahre um 1000. Beschädigungen an den Beinen knieabwärts sowie viele Risse im Lendentuch und im Körper sind auf eine Sturz der Skulptur aus großer Höhe zurückzuführen. Wie die anderen ottonischen Großkreuze war der Ringelheimer Kruzifixus sicher auch an einem erhöhten Standort aufgestellt. In frontaler Haltung steht Christus vor dem Kreuz. Der nach rechts geneigte Kopf sowie die leicht nach vorn und links gebeugten Knie deuten das Hängen des Körpers nur noch schwach an, „was vielleicht durch die steiler angebrachten originalen Arme einst stärker zum Ausdruck kam“ (Beer 2006, S. 141).Wie in Gerresheim ist Christus als Lebender dargestellt, die geöffneten Augen sind zwischen markant geschnitzten Lidrändern deutlich zu erkennen.
Bronzekruzifix (um 1060), Essen-Werden, St. Ludgerus (Schatzkammer)
Eines der spätesten, noch zur Ottonenzeit zählenden Großkreuze ist das Bronzekruzifix aus Essen-Werden, das mit einer Corpushöhe von 107,5 cm nur vergleichsweise bescheidene Dimensionen erreicht. Mit seinem tief auf die Brust gesunkenen Haupt und dem vorgewölbten Bauch erinnert die Essener Figur ein letztes Mal an das Gerokreuz, obwohl in der Seitenansicht die „flache und bretthafte Modellierung“ (Beer 2006, S. 145) vorherrscht.

Glossar
Cingulum: Gürtel 
Crux gemmata: ein mit Edelsteinen besetztes Kreuz
Fassung: Bemalung einer Skulptur
Suppedaneum: Fußbrett bei einer Kreuzigung

Literaturhinweise
Beer, Manuela: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwicklung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. In: Klaus Gereon Beuckers u.a. (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2006, S. 129-152;
Beuckers, Klaus-Gereon: Der ottonische Kruzifixus in der Aschaffenburger Stiftskirche. In: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 46 (1994) S. 1-23;
Reudenbach, Bruno (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 1: Karolingische und ottonische Kunst. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, S. 319;
Kahsnitz, Rainer: Das Bild des toten Heilands am Kreuz in ottonischer Zeit. Künstlerische und theologische Probleme plastischer Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 66 (2012), S. 50-101.
 
(zuletzt bearbeitet am 29. Mai 2022)