Michelangelo: Bacchus (1496/97); Florenz, Museo Nazionale del Bargello |
Geht schon in Ordnung, dass ein Bacchus seine Standfestigkeit einbüßt |
Deutlich erkennbar: das Raubtierfell in der linken Hand des Bacchus |
Michelangelos Absicht war es, die
Skulptur wie eine echte antike Statue wirken zu lassen. So verweist z. B. das
abgeschlagene Glied des Gottes auf das vermeintlich ehrwürdige Alter der Figur,
ebenso die Tatsache, dass ursprünglich die rechte Hand und die Trinkschale fehlten – Defekte, wie sie bei ausgegrabenen antiken Skulpturen
anzutreffen waren.
In diesem Skulpturengarten war Michelangelos Bacchus ursprünglich aufgestellt |
Dass der Bacchus tatsächlich in einem Skulpturen-Garten aufgestellt wurde, zeigt eine Zeichnung
des niederländischen Künstlers Maarten van Heemskerck (1498–1574), der sich von 1532 bis 1535
in Rom aufhielt. Diese Zeichnung zeigt Michelangelos Skulptur ohne die rechte
Hand mit der Trinkschale, also den Originalzustand. Sie ist später angefertigt worden, wahrscheinlich von
einem Restaurator, der nicht über die Qualitäten Michelangelos verfügte. Die
Arbeit des Restaurators ist an zwei Rissen erkennbar, von denen einer genau
durch das Handgelenk, der andere durch Daumen und Zeigefinger verläuft. Heute
befindet sich der Bacchus im Museo Nazionale del Bargello in Florenz.
Bacchus (Dionysos Richelieu), röm. Marmorkopie nach einem um 300 v.Chr. entstandenen Original; Paris, Louvre |
Kennzeichen einer
antiken Skulptur ist ein solider Kontrapost, d. h. die sorgfältige Balance
einer Figur mit Stand- und Spielbein. Michelangelos Bacchus hat seine
Standfestigkeit allerdings eingebüßt: Seine Trunkenheit und sein
unsicherer Gang kommen sowohl in der instabilen Stellung der Beine als auch im
Neigungswinkel von Oberkörper und Kopf zum Ausdruck. Der Weingott taumelt regelrecht und sucht mühsam Halt in sich selbst.
Michelangelos Bacchus tritt in direkte Konkurrenz mit vergleichbaren Werken antiker Bildhauer wie Praxiteles oder Lysipp. Aber er ahmt das antike Kunstideal nicht nur nach – er ironisiert es auch. Michelangelos Bacchus ist ohne Beispiel: In den allermeisten antiken Darstellungen des Weingotts fehlen Hinweise auf Trunkenheit oder Ausschweifung; Bacchus wird durch die oben genannten Attribute erkennbar. An Michelangelos Skulptur dagegen können wir durch die schwankende Pose sehr realistisch die Auswirkungen des reichlich genossenen Weins ablesen. Volker Herzner geht sogar so weit, die Statue als „Lasterallegorie“ zu bezeichnen, die vor den schädlichen Folgen exzessiven Weinkonsums warnen soll. Dem mag ich mich nicht anschließen – dafür ist der Anblick des torkelnden Bacchus meiner Ansicht nach einfach zu vergnüglich.
Kardinal Riario hatte 1496 einen von Michelangelo in Florenz geschaffenen, heute verschollenen schlafenden Cupido als vermeintlich antike Skulptur gekauft – die Täuchung jedoch bald bemerkt. Das löste bei dem einflussreichen Würdenträger jedoch keine Empörung, sondern wohl eher Bewunderung aus, sonst hätte er den Bildhauer nicht nach Rom gerufen und mit dem Bacchus beauftragt. Für den Kunstliebhaber der Renaissance war eine scheinbar „originalantike“ Plastik keineswegs Betrug, Imitation kein kaltes, uninspiriertes Geschäft, sondern sehr wohl mit schöpferischem Geist vereinbar. Bildhauern des Altertums nachzueifern wurde begrüßt und goutiert. Wenn es einem Künstler gelang, antike Meister täuschend ähnlich nachzuahmen, so konnte er sich mit ihnen messen.
Michelangelos Bacchus tritt in direkte Konkurrenz mit vergleichbaren Werken antiker Bildhauer wie Praxiteles oder Lysipp. Aber er ahmt das antike Kunstideal nicht nur nach – er ironisiert es auch. Michelangelos Bacchus ist ohne Beispiel: In den allermeisten antiken Darstellungen des Weingotts fehlen Hinweise auf Trunkenheit oder Ausschweifung; Bacchus wird durch die oben genannten Attribute erkennbar. An Michelangelos Skulptur dagegen können wir durch die schwankende Pose sehr realistisch die Auswirkungen des reichlich genossenen Weins ablesen. Volker Herzner geht sogar so weit, die Statue als „Lasterallegorie“ zu bezeichnen, die vor den schädlichen Folgen exzessiven Weinkonsums warnen soll. Dem mag ich mich nicht anschließen – dafür ist der Anblick des torkelnden Bacchus meiner Ansicht nach einfach zu vergnüglich.
Kardinal Riario hatte 1496 einen von Michelangelo in Florenz geschaffenen, heute verschollenen schlafenden Cupido als vermeintlich antike Skulptur gekauft – die Täuchung jedoch bald bemerkt. Das löste bei dem einflussreichen Würdenträger jedoch keine Empörung, sondern wohl eher Bewunderung aus, sonst hätte er den Bildhauer nicht nach Rom gerufen und mit dem Bacchus beauftragt. Für den Kunstliebhaber der Renaissance war eine scheinbar „originalantike“ Plastik keineswegs Betrug, Imitation kein kaltes, uninspiriertes Geschäft, sondern sehr wohl mit schöpferischem Geist vereinbar. Bildhauern des Altertums nachzueifern wurde begrüßt und goutiert. Wenn es einem Künstler gelang, antike Meister täuschend ähnlich nachzuahmen, so konnte er sich mit ihnen messen.
Es stellt sich die
Frage: Wie war es für Michelangelo möglich, fast gleichzeitig eine unverhohlen
heidnische Götterfigur wie den Bacchus und die Pietà von St. Peter zu
schaffen? Wie konnte er pagane antike Vorbilder imitieren und zugleich fromm
sein (was Michelangelo ohne Zweifel war)? Eine Antwort darauf versucht Edgar
Wind in seinem Buch Heidnische Mysterien in der Renaissance; speziell das Kapitel XII („Ein bacchisches Mysterium
Michelangelos“) geht auf den Bacchus ein.
(zuletzt bearbeitet am 26. Mai 2024)
Als „Stendhal-Syndrom“ bezeichnete die Florentiner Psychiaterin Graziella Magherini (1927–2023)1989 eine spezifische Auswirkung der Betrachtung von Kunst und insbesondere von Meisterwerken, nämlich der Überforderung und Überwältigung durch visuelle Reize, die zu einem physischen und psychischen Zusammenbruch führen können, wie es der französische Schriftsteller Stendhal (1783–1842) 1817 in seinem Reisebericht „Rome, Naples et Florence“ beschrieben hatte.
Literaturhinweise
Barolsky, Paul: The Strange Case of the Young Michelangelo. In: Arion 21 (2013), S. 103-112;
Freedman, Luba: Michelangelo’s Reflections on Bacchus. In: artibus et historiae 24, No. 47 (2003), S. 121-135;
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015, S. 304-313;
Freedman, Luba: Michelangelo’s Reflections on Bacchus. In: artibus et historiae 24, No. 47 (2003), S. 121-135;
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015, S. 304-313;
Hirst, Michelangelo: Michelangelo in Rome: an Altar-Piece and the
‘Bacchus’. In: The Burlington Magazine 123 (1981), S. 581-593;
Keazor, Henry: Täuschend echt! Eine Geschichte der Kunstfälschung. Theiss Verlag, Darmstadt 2015. S. 94-105;
Keazor, Henry: Täuschend echt! Eine Geschichte der Kunstfälschung. Theiss Verlag, Darmstadt 2015. S. 94-105;
Lieberman, Ralph: Regarding Michelangelo’s Bacchus. In: artibus et historiae 22 (2001), S. 65-74;
Myssok, Johannes: Monolith und weiß. Die Oberflächen von Michelangelos Skulpturen. In: Magdalena Bushart/Andreas Huth (Hrsg.), superficies. Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher Neuzeit. Böhlau Verlag, Wien/Köln 2022, S. 57-74;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2: Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 73-75;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2: Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 73-75;
Wind, Edgar: Heidnische Mysterien in der Renaissance. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am
Main 1981;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige
Werk. Taschen Verlag, Köln 2007.
(zuletzt bearbeitet am 26. Mai 2024)
Super Post!
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