Montag, 13. Januar 2014

Schmerzvolles Erinnern – Ernst Barlachs Güstrower Ehrenmal


Ernst Barlach: Schwebender Engel (1927); Güstrow, Dom
Ernst Barlach (1870-1938) hat 1927 für den gotischen Dom im mecklenburgischen Güstrow einen Bronzeengel gestiftet, der dort in einem Seitenschiff installiert wurde. Nur die Gusskosten musste die evangelische Gemeinde bezahlen. Die Plastik sollte an die Toten des Ersten Weltkrieges erinnern. Die über zwei Meter lange Skulptur, seither Güstrower Ehrenmal genannt, entsprach allerdings nicht dem damaligen Idealbild eines Mahnmals für gefallene Kriegshelden. Denn Barlach hatte mit der engelhaften, die Arme demütig vor der Brust gekreuzten Figur eine Gestalt entworfen, die kaum den Denkmalsvorstellungen einer gekränkten Nation entsprach. Stahlhelmbewehrt oder in heroischer, muskelgepanzerter Nacktheit sollten die „fürs Vaterland Gefallenen“ erscheinen und so dem elenden Tod im Schützengraben Sinn und Glanz verleihen. Wie sehr sich Barlachs Schwebender Engel von den zeitgenössischen, oft antikisierenden und pathetischen Soldatendenkmälern unterscheidet, macht der Vergleich mit Skulpturen von Wilhelm Wandschneider oder Georg Kolbe deutlich. 
Wilhelm Wandschneider: Trauernder Soldat (1936); Schwerin, Alter Friedhof
Georg Kolbe: Stralsunder Ehrenmal (1936);
Stralsund, Marinemuseum Dänholm
Am 24. August 1937 ließ denn auch die Kirchenleitung die „entartete Figur“ entfernen und nach Schwerin bringen, da der „slawische Engel von Barlach nicht würdig war, den Dom zu schmücken“ (Billstein 1988). Vier Jahre später lieferte der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Mecklenburg die Bronzefigur an die Kreisleitung der NSDAP Schwerin-Mitte aus – „zum Zwecke der Einschmelzung für die Wehrwirtschaft“. Der Erlös ging an die Kirche, heißt es.
Freunde Barlachs hatten das Unheil geahnt und Vorsorge getroffen. Schon 1939 ließen sie vom Original-Werkmodell einen zweiten Engel gießen, den sie versteckten. Sie taten gut daran, denn 1944 zerstörten Bomben das in Berlin aufbewahrte Gipsmodell. Der Zwillingsengel hingegen überlebte Krieg und Nationalsozialismus in einer Scheune in der Lüneburger Heide. Barlach selbst hatte diese Vermehrung seiner Plastik nicht mehr erlebt; er war im Oktober 1938 gestorben, noch vor dem Zweitguss.
Der Zweitguss wurde 1952 den Kölner Museen angeboten, und, weil nach Ansicht des damaligen Direktors nicht für ein Museum geschaffen, in der Antoniter-Kirche aufgehängt. Doch zuvor hatte sich auch dieser nunmehr „Kölner Engel“ fortgepflanzt – nach dem Wunsch der Barlach-Gesellschaft wurde eine Kopie für den Güstrower Dom gefertigt, die Heimatkirche der ersten zerstörten Skulptur. Finanziert wurde dieser dritte Guss und das dafür vom „Kölner Engel“ abgenommene Gipsmodell durch den Verkauf des Engels an die Antoniter-Gemeinde.
Der Zweitguss des „Schwebenden Engels“ in der Kölner Antoniterkirche
Wieder bereitete der Engel Ärger. Die Amerikaner wollten das „wehrwichtige Material“ nicht in die „Ostzone“ reisen lassen. Erst nach langen Verhandlungen gelangte die Bronzeskulptur im Februar 1953 nach Güstrow, und Bertolt Brecht, nicht gerade ein Rechtgläubiger, schwärmte: „Solche Engel gefallen mir. Und obwohl man weder einen Engel noch einen Mann je hat fliegen sehen, so ist doch das Fliegen glorios dargestellt“ (Brecht 1993, S. 199).
Ernst Barlach war einer der vielen Künstler, die 1914 den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begeistert begrüßten. Er hoffte, dass dieser Krieg wie ein notwendiges Fegefeuer zur „Weiterung und Erhöhung des Volkes“ führen würde (Brief an Karl Barlach vom 17. August 1914). Aber von der Idee, mit einem erschreckenden Gewaltsturm könne eine verworfene Menschheit aufgerüttelt und aus ihrer Dumpfheit erlöst werden, wurde Barlach schnell kuriert. Allein schon die sechswöchige Blitzausbildung als Reservist im Januar und Febraur 1916 machte ihm klar, dass Kampf und tausendfacher Tod auf den Schlachtfeldern keine „Erneuerung“ hervorbringen würden. Die zunächst ernüchternden, später erschütternden Nachrichten von Freunden an der Front verwandelten den Kriegsbegeisterten in einen Verkünder des Friedens, der sein Denkmal für die Gefallenen nur als Mahnmal errichten konnte und wollte.
Die langgestreckte, lebensgroße Figur schwebt mit erhobenem Kopf in waagrechter Lage und wird von einer Kette gehalten. Die kräftige Gestalt ist, die nackten Füße ausgenommen,  bekleidet und trägt ein Gewand, dass sie wie eine Haut umgibt. Es ist knöchellang und fällt strahlenförmig-streng mit jeweils drei Gewandfalten nach allen Seiten. Die ausgeschnittenen Ärmel und der kragenlose Halsausschnitt bilden scharfe Linien in der Metalloberfläche. Die Form des Gewandes gleicht „einem in die Schwebe gebrachten Kubus, der in der Rückenlinie nach oben fast waagerecht und nach unten leicht schräg abgesenkt wurde“ (Laudan 1998, S. 70). Die vor der Brust verschränkten Arme tragen sowohl zur Geschlossenheit der Figur bei als auch zum Ausdruck tiefer Verinnerlichung und Stille. „Hinter den zeichenhaft gehaltenen Armen sind Leben und Tod überwunden, Leid, Geschrei, Schmerzen verschlossen und festgehalten, wie eine aufnotierte Erinnerung in einer Rolle oder in einem Gefäß“ (Laudan 1998, S. 70). Barlach selbst erklärte, dass der Schwebende Engel das „schmerzvolle Erinnern“ schlechthin symbolisieren solle (Brief an Karl von Seeger am 6. Februar 1929).
Kopf des „Schwebenden Engels“ (© Karl-Heinz Köpnick) 
Käthe Kollwitz (1867–1945)
In der Folge der Entwurfszeichnungen zum Güstrower Ehrenmal ist es vor allem der Ausdruck des Gesichts, der sich wandelt. Barlach schwankt zwischen Schmerz und friedlichem Lächeln – bis er dem Engel die ernsten Züge der Kollegin Käthe Kollwitz verleiht. Den Verleger Reinhard Piper lässt er wissen, dass dies nicht bewusst geschehen sei: „In den Engel ist mir das Gesicht von Käthe Kollwitz hineingekommen, ohne daß ich es mir vorgenommen hatte“ (Piper 1991, S. 421).
Ernst Barlach: Magdeburger Mal (1927-1929); Magdeburg Dom
Ernst Barlach: Hamburger Ehrenmal (1931); Hamburg,
Schleusenbrücke beim Rathausmarkt
In den Jahren 1926 bis 1931 schuf Barlach neben dem Schwebenden Engel das Magdeburger Mal (1927-1929) sowie das Hamburger Ehrenmal (1931), darüber hinaus entstanden Entwürfe für Malchin und Stralsund, deren Ausführung durch den wachsenden Einfluss reaktionärer Kräfte jedoch verhindert wurde.

Literaturhinweise
Billstein, Heinrich: Ein Engel zuviel. In: DIE ZEIT vom 30. September 1988;
Brecht, Bertolt: Werke. Band 23. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993;
Laudan, Ilona: Ein Engel für den Güstrower Dom. Zur Entstehungsgeschichte des Güstrower Ehrenmals. In: Piper, Reinhard: Vormittag. Mein Leben als Verleger. Piper Verlag, München 1991;
Probst, Volker (Hrsg.), Ernst Barlach – Das Güstrower Ehrenmal. Zum 60. Todestag von Ernst Barlach. E.A. Seemann Verlag, Leipzig 1998, S. 10-85.

(zuletzt bearbeitet am 8. Juni 2020)

1 Kommentar:

  1. Zu empfehlen ist eine Reise nach Güstrow auf der Barlach Tour unter http://kulturreise-ideen.de/literatur/autoren/Tour-ernst-barlach.html#to_map

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