Sonntag, 6. November 2022

Jesusminne – die mittelalterlichen Christus-Johannes-Gruppen

Christus-Johannes-Gruppe (um 1330/40), Frankfurt a.M., Liebieghaus
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Die meisten mittelalterlichen Andachtsbilder mit der Person Christi geben Szenen seiner Passion wieder, zeigen seine Peinigung, Not und Verlassenheit. Zu den wenigen Ausnahmen, die nicht grausame Qualen, sondern liebevolle Nähe präsentieren, gehören neben den Darstellungen von Maria mit ihrem Kind die Christus-Johannes-Gruppe. Wie bei den Andachtsbildern der Pietà oder des Schmerzensmann handelt es sich sozusagen um ein „Hilfsmittel“ für Gebet und Meditation im privaten Rahmen. Allerdings ist die Christus-Johannes-Gruppe, auch Jesusminne genannt, bei weitem nicht so verbreitet wie die beiden genannten: Es sind nur 28 dieser plastischen Zweifigurengruppen erhalten; sie stammen alle aus Schwaben, der deutschen Schweiz und dem Oberrheingebiet, aus jener Region also, die man auch „alemannisch“ nennt. Das Format der Christus-Johannes-Gruppen schwankt zwischen beinahe lebensgroß und Kleinplastik. Keine von ihnen befindet sich heute noch an dem Platz, für den sie geschaffen wurde. Motivisch stimmen alle Exemplare, vor allem die frühen, eng überein. Was genau zeigen sie?
Christus und sein Lieblingsjünger Johannes sitzen eng nebeneinander auf einer Bank, Johannes links von Christus. Ihre in ruhigen Falten fallenden schlichten Gewänder reichen bis zum Boden und lassen dort nur die bloßen Zehen unbedeckt. Der Jünger, mit rundem, weichem Gesicht fast noch kindlich dargestellt, lehnt sein abgewinkeltes Haupt an Christi Schulter bzw. Brust. Dabei liegt die linke Hand Christi auf der linken Schulter des Johannes, Ausdruck liebevoller Zuneigung und Fürsorge. Johannes wiederum legt seine Rechte in die rechte Hand Christi. Der Jünger schläft, Christus sitzt hoch aufgerichtet, als wache er über den Schlafenden; dabei neigt er ihm entweder sein leicht gesenktes Haupt zu, oder Kopf und Blick sind in die Ferne bzw. nach innen gerichtet.
Christus-Johannes-Gruppe (um 1320/30); München, Bayerisches Nationalmuseum
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Ausgangspunkt dieser Skulpturen ist der Abendmahlsbericht des Johannes-Evangeliums; nur hier wird das Ruhen des Lieblingsjüngers an der Brust Jesu erwähnt: „Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s?“ (Johannes 13,23-25; LUT). Am Ende des Johannes-Evangeliums taucht das Motiv erneut auf: „Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, den Jesus lieb hatte, der auch beim Abendessen an seiner Brust gelegen und gesagt hatte: Herr, wer ist’s, der dich verrät?“ (Johannes 21,20; LUT). Für das Verständnis des biblischen Textes muss das antike Liegen an der Tafel vorausgesetzt werden, das jedoch in der Vorstellung des westlichen Mittelalters zum Sitzen wurde.
Christus-Johannes-Gruppe (vor 1330); Hermetschwil, Kloster St. Martin
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Der in die Ferne bzw. nach innen gerichtete Blick Christi lässt aus dem biblischen Textzusammenhang verstehen: Dem Abendmahlsbericht, aus dem die Skulpturen herausgelöst wurden, geht ja die Ankündigung des Verrats durch Judas voraus. So wacht Jesus über den Gefährten in dem Wissen, was kommen wird. Allerdings steht die Frage des Johannes, wer von ihnen denn der Verräter sei, im Widerspruch zum Motiv des Schlafens in der Jesusminne: Wer schläft, kann keine Fragen stellen. Im Bibeltext ist auch keine Rede von einer Umarmung oder dem Ineinanderlegen der Hände. Deswegen ist der Abendmahlsbericht für die isolierte Darstellung von Christus und Johannes keine ausreichende Erklärung.
Christus-Johannes-Gruppe (um 1320), Berlin, Bode-Museum
Das Bild des an der Brust Jesu ruhenden Johannes wurde bereits von Kirchenvater Origines mit der Vorstellung von der Brust des Herrn als Quelle des Lebens und göttlicher Offenbarung verbunden. Aber Hauptthema der Gruppe ist ohne Frage die seelische Verbundenheit von Christus und Johannes, die „unio mystica“. Das hingesunkene Haupt des Johannes ist eine Gebärde tiefen Vertrauens, ja völliger Hingabe. Die Geste der verschränkten Hände, auch „dextrarum iunctio“ genannt, gilt als Symbol der Vereinigung, das bei Hochzeitsdarstellungen verwendet wurde. In der „Vita Jesu Christi“ des Ludolf von Sachsen (zwischen 1348
und 1368 entstanden) wird Johannes explizit mit der Braut aus dem Hohelied gleichgesetzt und als „virgo electus“ bezeichnet. 
Dass die erhaltenen plastischen Christus-Johannes-Gruppen mit der Frömmigkeit alemannischer Frauenklöster in Verbindung stehen, hat man früh erkannt – das Thema mystische Hochzeit und Jungfräulichkeit des Johannes machte sie dort zu einem charakteristischen Bildtypus. Dabei dürften die großformatigen Skulpturen als Altarausstattungen gedient haben, während für die persönliche Andacht in den Zellen oder Kapellen weitaus kleinere Gruppen entstanden. Der Lieblingsjünger Christi an der Brust des Herrn und in einer sanften, weiblichen Gestalt eignete sich in besonderer Weise als Identifikationsobjekt für die Nonnen. So hat Mechthild von Magdeburg (1207–1282), eine Begine, die folgende Vision festgehalten: Johannes Evangelista, ich bin mit Dir in herzlicher Liebe auf den Brüsten Jesu Christi eingeschlafen. Und alsdann habe ich so herrliche Wunder gesehen und vernommen, daß mein Leib häufig über sich hinausgekommen ist (Klotz 1998, S. 328). Die Mystikerin Mechthild sieht also in Johannes den Vermittler, mit dem sie an die Brust Christi sinken darf.
Christus-Johannes-Gruppe (1280/90); Cleveland, The Cleveland Museum of Art
Christus-Johannes-Gruppe (um 1300/1320);
Antwerpen, Museum Mayer van den Bergh
Die älteste erhaltene Christus-Johannes-Gruppe von etwa 1280/90 gehörte dem schwäbischen Bendiktinerkloster Zwiefalten und befindet sich heute im Cleveland Museum of Art. Eine weitere Jesusminne wurde um 1300/13 für das Dominikanerinnenkloster St. Katharinental hergestellt (heute in Antwerpen, Museum Mayer van den Bergh). Wohl diesen beiden Vorbildern folgten die anderen Exemplare, die bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden sind.

Literaturhinweise

Hausherr, Reiner: Über die Christus-Johannes-Gruppen. Zum Problem »Andachtsbilder« und deutsche Mystik. In: Rüdiger Becksmann u.a. (Hrsg.), Beiträge zur Kunst des Mittelalters. Festschrift für Hans Wentzel zum 60. Geburtstag. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1975, S. 79-103;

Jirousek, Carolyn S.: Christ and St. John the Evangelist as a Model of Medieval Mysticism. In: Cleveland Studies in the History of Art 6 (2001), S. 6-27;

Klotz, Heinrich: Geschichte der deutschen Kunst. Erster Band: Mittelalter 600 – 1400. Verlag C.H. Beck, München 1998, S. 327-329;

Lang, Justin: Herzensanliegen. Die Mystik mittelalterlicher Christus-Johannes-Gruppen. Schwabenverlag, Ostfildern 1994;

Westheider, Ortun/Philipp, Michael: Zwischen Himmel und Hölle Kunst des Mittelalters von der Gotik bis Baldung Grien. Hirmer Verlag, München 2009, S. 118-119;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 10. März 2025)

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