Donnerstag, 9. Januar 2020

Schönheit in Eisen – Gustave Caillebottes „Pont de l’Europe“ (1876)

Gustave Caillebotte: Pont de lEurope (1876); Genf, Musée du Petit Palais (für die Großansicht einfach anklicken)
1876 schuf der französische Künstler Gustave Caillebotte (1848–1984) mit seinem Bild Pont de l’Europe erstmals eine großformatige Stadtansicht und bediente sich dabei der von den Impressionisten propagierten Freilichtmalerei. Doch anders als die Impressionisten fertigte er dafür zahlreiche vorbereitende Skizzen an, sodass sein Gemälde nicht einen spontanen Netzhauteindruck, sondern einen genau durchdachten Ausschnitt dieser Pariser Eisenbahnbrücke wiedergibt. Im Jahr 1865 errichtet – fast 25 Jahre vor der Einweihung des Eiffelturms 1889 – , galt der Pont de l’Europe als ein Meisterwerk der Industriearchitektur des Second Empire (1852–1870). Auf ihr liefen sternförmig sechs Straßen zusammen, und in ihrer Mitte entstand der Place de l’Europe. Die Konstruktion überspannte den Geländeeinschnitt der Gleisanlage des Gare Saint-Lazare, des bekanntesten und am stärksten frequentierten Kopfbahnhofs von Paris.
Auf Caillebottes Gemälde führt das gusseiserne Geländer der Brücke, an die sich links ein Gehweg anschließt, in einer breiten Diagonale von rechts nach links in die Tiefe des Bildraums. Es bildet eine Blickschranke, die über zwei Drittel der Bildfläche einnimmt und mit ihrer perspektivischen Wiedergabe den Gesamteindruck des Gemäldes bestimmt. Die Brücke ist komplett in einem blau-grau schattierten Farbspektrum gehalten und ragt wie ein dunkler Keil von rechts in das Bild hinein. Die Linien der Eisenträger und Konstruktionselemente, zu denen die diagonalen Verstrebungen (einschließlich Bolzen und Unterlegscheiben) ebenso zählen wie die vertikalen Stützen und weitere angegliederte Teile, bilden ein markantes Muster, das mit zunehmender Entfernung immer kleinteiliger wird. Die Abfolge der Verstrebungen wird duch die Schatten, die das von der Seite kommende Sonnenlicht wirft, zusätzlich betont.
An der Brüstung des Geländers lehnt ein durch seine Kleidung, einen Drillich, als Arbeiter erkennbarer Mann. Er blickt hinab auf die Bahngleise des Gare Saint-Lazare: Seine Aufmerksamkeit gilt dem Geschehen auf dem Eisenbahngelände, dem Lärm, Tempo und Rauch der ankommenden und abfahrenden Züge, die eine neue Zeit heraufbeschwören. Vier weitere Personen im Hintergrund tun es ihm gleich – sie fallen jedoch kaum auf, weil sie sich im Schatten der Brückenverstrebungen befinden. Die übrigen Passanten sind in Bewegung dargestellt, so das elegant gekleidete bürgerliche Paar im hellen Mittagslicht, das dem Betrachter auf dem Gehweg entgegenzukommen scheint, er mit Zylinder, sie mit Sonnenschirm ausgestattet. Es könnte sich allerdings auch einfach um einen jungen Mann handeln, der sich – wie zeitgenössische Kritiken vermutet haben – einer vorübergehenden Prostituierten zuwendet ... Für den heutigen Betrachter des Bildes gibt es dafür allerdings keine Anhaltspunkte.
Im Bildvordergrund und parallel zum Geländer der Brücke kommt ein frei laufender Hund ins Blickfeld, die linke Hinterpfote vom Bildrand angeschnitten. Mit freudig wedelndem Schwanz kommt er auf die Passanten zu. In der Ferne sind Kutschen erkennbar, ein Passant überquert die Fahrbahn. Die Tiefenflucht der Brücke setzt sich im Hintergrund fort in der Rue de Saint-Pétersbourg. Die Eckbauten dort sind so in der Realität nicht vorhanden; Caillebotte hat deren Etagen so angeordnet, dass sie eine unauffällige Gliederung aus horizontalen Linien bilden.
Canaletto: Piazza San Marco (1723/24); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza (für die Großansicht einfach anklicken)
Gustave Caillebotte: Pont de lEurope (1876/77); Fort Worth, Kimbell Art Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Denkbar ist, dass sich Caillebotte bei der Konstruktion seines Bildes durch Werke von Canaletto (1697–1768) und seinem Neffen Bernardo Bellotto (1722–1780; ebenfalls Canaletto genannt) anregen ließ: Die beiden venezianischen Vedutenmaler sind für einen ähnlich dramaturgischen Einsatz der Perspektive bekannt. Caillebotte hat die Pont de l’Europe auch auf einem wenig späteren Gemälde als Motiv gewählt: Die nahsichtige Komposition mit ihren drei vom Betrachter abgewandten männlichen Figuren ist beispielhaft für die bewusst begrenzt gewählten und oft ungewöhnlichen Bildausschnitte, die für den Maler so charakteristisch sind.

Literaturhinweise
Ghez, Claude: Eine Lektüre von Gustave Caillebottes Pont de l’Europe (1876). In: Max Hollein/Karin Sagner (Hrsg.), Gustave Caillebotte. Ein Impressionist und die Fotografie. Hirmer Verlag, München  2012, S. 88-105; 
Sagner, Karin: Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus. Hirmer Verlag, München 2009, S. 86-87. 
 
(zuletzt berbeitet am 9. April 2022) 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen