Sonntag, 16. April 2023

Der leidenschaftliche Erlöser – Hans Multschers Ulmer „Schmerzensmann“ (1429)

Hans Multscher: Schmerzensmann (1429); Ulm, Münster
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der spätgotische Bildhauer und Maler Hans Multscher (um 1400–1467) kann für die Zeit zwischen 1420 und 1460 als der überragende Künstler in Deutschand betrachtet werden. Der Schmerzensmann (1429) vom Westportal des Ulmer Münster gilt als sein Hauptwerk.

Christus ist lebensgroß dargestellt, im Bildtyp des ›Schmerzensmannes‹, also lebend, aber mit den Zeichen seines Leidens und Sterbens versehen, der Dornenkrone und den Wundmalen. Er steht den in das Münster eintretenden Gläubigen relativ breitbeinig gegenüber. Mit der Rechten berührt er die Seitenwunde, die Linke weist das Wundmal in der Handfläche vor. Dabei schaut er angestrengt nach vorn. Bekleidet ist Christus nur mit einem breiten, an der linken Hüfte verknoteten Lendentuch, das Unterleib und Oberschenkel bedeckt. Außerdem trägt er einen Mantel, der einseitig auf der linken Schulter liegt, dann aber mit einem Faltenbausch am rechten Arm festgehalten wird und hinter der Figur zu Boden fällt. Auf diese Weise umfängt er schalenförmig die Gestalt Christi, die mit ihren Füßen auf dem Mantel steht.

Die Stellung der dünnen Beine mit den abwärts weisenden Füßen wirkt ausgesprochen labil – man hat den Eindruck, als hielte sich Christus nur mit Mühe aufrecht. Glaubt man zunächst, das gerade wirkende linke Bein sei das die Gestalt stabilisierende Standbein, zumal die linke Schulter erhoben, die rechte stark abgesenkt ist, so stützt es doch nur die nach links verschobene Hüfte. Denn das Hauptgewicht des Oberkörpers wird nach rechts verlagert. In der Seitenansicht erkennt man, dass das linke Knie stark angewinkelt ist, die Last des Körpers also gar nicht zu tragen vermag. Das weit vorgestellte rechte Bein stützt vielmehr die Figur, gibt dem Körper Halt, allerdings in erster Linie dadurch, dass sich Hüfte und Gesäß gegen die Rückwand lehnen.

Der Leib ist wie die Beine mager; Rippen und die Schulterknochen zeichnen sich unter der Haut deutlich ab, ebenso der Muskel des Oberarms. Die Oberfläche der Figur ist präzise und detailreich modelliert: Die Adern an Hals, Armen und Beinen treten plastisch hervor, wulstig klaffen die Wundmale in der sonst fein geschliffenen Haut; die Falten im Gesicht sind sorgfältig angegeben, die Fingergelenke und die Knie durch gravierte Riefen gestaltet und die einzelnen Strähnen des zweiteiligen Bartes in zierlicher Drehung in sich und gegeneinander gerollt.

Die Hüfte ist eckig und sperrig weit nach links und zugleich nach vorne geschoben. Im Gegensatz dazu werden Bauch und Oberkörper nach rechts verlagert, wobei der Körper nicht erst in der Taille, sondern bereits in Höhe der Leisten weit unterhalb des Hüftknochens abknickt. Die übergroße Hand greift mit Daumen und Zeigefinger in drastischer Weise mitten in die Wunde. Die Linke wird hingegen angestrengt nach vorn gehalten, die Finger scheinen sich dabei unter dem Schmerz des Wundmals zu verkrampfen.

Die heute am Westportal aufgestellte Figur ist eine Kopie; das Original
befindet sich im Innern des Münsters

Der mächtige Kopf mit der großen Dornenkrone und den auf die Schultern herabfließenden Locken durchbricht nochmals die Richtung des zur rechten Körperseite und nach hinten zurückweichenden Oberkörpers, indem er sich nach vorn und wieder stärker zur Mitte hinwendet. Auffallend ist die Leidenschaftlichkeit, mit der sich Christus dem Betrachter entgegentritt. Der Blick aus den groß geöffneten, fast kugelförmig gerundeten Augen trifft den ihn schon von Weitem. Das Thema der Figur lässt sich daher mit „Vergegenwärtigung und Mahnung“ (Söding 1997, S. 37) benennen.

In der Seitenansicht wird der schmale flache Umriss der Figur erkennbar, bei der nur Kopf und Füße geringfügig aus der Mantelschale herausragen. Christus ist viel stärker in die Breite als in die Tiefe entwickelt. „Das körperliche Vor und Zurück spielt sich in einer flachen Raumschicht zwischen der vorgeschobenen Hüfte, dem nach rückwärts fliehenden Oberkörper, dem vorstoßenden Kopf und der dem Betrachter entgegengehaltenen Hand ab“ (Kahsnitz 1997, S. 301). Nur der rechte Ellenbogen ist ungewöhnlich weit nach hinten zurückgeschoben.

Multscher vollzog mit seinem Schmerzensmann einen harten Bruch mit dem sogenannten ›weichen Stil‹, der die damalige Bauplastik am Ulmer Münster noch bestimmte. Schon der Verzicht auf Stofffülle, erst recht der freigelegte und nach vorn geführte linke Arm sowie die mageren, sehnigen und wenig anmutig gespreizten Beine zeigen eine neue Gestaltungsweise. Die ganze Figur vermittelt den Eindruck freier Beweglichkeit. Der gleichzeitig nach vorn und zur Seite geneigte Oberkörper zusammen mit der regelrecht gegrätschten Beinstellung sprengt den Baldachinraum nach allen Richtungen.

Die Skulptur besteht aus gelbgrauem, feinkörnigem Sandstein. Sie ist aus einem Werkblock gearbeitet mit einer Anstückung am linken Bein, die von unterhalb des Knies bis an das Fußgelenk reicht. Auf der Rückseite wurde die Figur abgeflacht und sogar tief ausgehöhlt, benötigt daher einen hinteren Abschluss.

Der ›Schmerzensmann‹ ist ein Andachtsbild, dass Christus lebend, aber mit den Zeichen seines Leidens und Sterbens zeigt – der Dornenkrone und den Wundmalen. Vor uns steht der Erlöser, der die Schmerzen der Passion und den Tod überwunden hat. Seine Gestalt umfasst damit die ganze Passion Jesu. Im frühen 14. Jahrhundert entstanden, fand dieser Bildtyp in Deutschland vor allem als Skulptur im späteren Mittelalter große Verbreitung. Andere Bezeichnungen sind auch ›Erbärmdebild‹ oder ›Unseres Herrn Barmherzigkeit‹.

Als Andachtsbild richtet sich der ›Schmerzensmann‹ unmittelbar an den gläubigen Betrachter: als Aufruf zur compassio, dem einfühlenden Mitleiden, wie auch als peinigender Vorwurf, aber ebenso als Trost der Erlösungsgewissheit und Versicherung der Fürbitte bei Gott. Wie kaum ein zweites mittelalterliches Bildwerk vereinigt der ›Schmerzensmann‹ in sich die eucharistischen Gedanken über Christi Opfertod als Quelle des ewigen Lebens als Folge von dessen Passion, Tod und Auferstehung.

 

Glossar

Weicher Stil: Stilrichtung der spätgotischen Malerei und Plastik zwischen 1380 und 1450. Kennzeichen sind die Betonung des in runden, fließenden Mulden herabfallenden, zunehmend dreidimensional wirkenden Gewänder der Figuren und die breit auf dem Boden aufliegenden Stoffbahnen. Als charakteristisch gelten außerdem, besonders bei den sogenannten Schönen Madonnen, der zarte, verträumte Ausdruck und die zierliche Gestalt.

 

Literaturhinweise

Kahsnitz, Rainer: Christus als Schmerzensmann. Hans Multscher, 1429. In: Ulmer Museum (Hrsg.), Hans Multscher. Bildhauer der Spätgotik. Süddeutsche Verlags-Gesellschaft, Ulm 1997, S. 300-302;

Maier-Lörcher, Barbara: Meisterwerke Ulmer Kunst. Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2004, S. 24-25;

Söding, Ulrich: Die Bildwerke Hans Multschers. Ein Beitrag zur europäischen Kunst im 15. Jahrhundert. In: Ulmer Museum (Hrsg.), Hans Multscher. Bildhauer der Spätgotik. Süddeutsche Verlags-Gesellschaft, Ulm 1997, S. 31-51.

 

(zuletzt bearbeitet am 28. August 2023)

 

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