Mittwoch, 13. November 2024

Vorgeführt – Lovis Corinths „Ecce Homo“ von 1925

Lovis Corinth: Ecce Homo (1925); Basel, Kunstmuseum

Ecce Homo ist das letzte Historienbild des deutschen Malers und Grafikers Lovis Corinth (1858–1925); es entstand 1925, vor einer Reise nach Holland, auf der ihn der Tod überraschen sollte. Das Gemälde erzählt vom Moment nach Geißelung, Dornenkrönung und Verspottung Jesu, der nun vor dem Gerichtsgebäude des Pilatus mit den Worten „Sehet, welch ein Mensch“ (Johannes 19,5; LUT) vor dem Volk zur Schau gestellt wird. Daraufhin fordern die Hohepriester und deren Knechte seine Kreuzigung.

In zwei Tagen hatte Corinth die Hauptgestalt gemalt, je einen Tag benötigte er für die Nebenfiguren, die erregte Volksmasse ist weggelassen. Die drei Personen sind in Ganzfigur und leicht überlebensgroß in der vordersten Bildebene dargestellt. Wir sehen den jugendlichen Christus mit Dornenkrone, blutüberströmt, in roter Toga und vor dem Körper über Kreuz gefesselten Händen. In seiner Rechten hält er eine Rute als spöttischen Ersatz für das Königszepter. Jesus wird von einem grobschlächtigen, großen Soldaten an einem Seil vorgeführt, das dieser fest in der Hand hält. Der Soldat trägt den Brustpanzer einer Ritterrüstung und hohe Stiefel: „Dieses unpassende Kostüm ist ein Stilbruch, der das Theatralische der Szene bewusst macht: gemaltes Passionsspiel mit Laiendarstellern“ (Wyss 2008, S. 318).

Wir kennen die Namen der Beteiligten: Leo Michelson, ein Schüler Corinths, spielt den Christus, der Maler Paul Paeschke den geharnischten Schergen. Pilatus trägt die Züge des Schriftstellers Michael Gusemann; er ist jedoch nicht mit der weißen Tunika des Richters bekleidet, der von sich sagt, er wasche seine Hände in Unschuld, sondern mit dem Malerkittel Corinths, bekannt von Selbstporträts an der Staffelei. Für Lothar Brauner sind die drei Figuren „Symbolgestalten des Zweifels und der Unsicherheit (Pilatus), des Stumpfsinns und der Barbarei (der Kriegsknecht) und der geschundenen Menschheit (Christus)“ (Brauner 1996, S. 320). Auch das Bild selbst wurde ein Opfer der Barbarei, als es 1937 von den Nationalsozialisten als „entartet“ beschlagnahmt und in der diffamierenden Ausstellung „Entartete Kunst“ – zuerst in München – gezeigt wurde. 1939 konnte es mit einem Sonderkredit der Basler Regierung für das Kunstmuseum Basel erworben werden und blieb so erhalten.

Corinths Gemälde wird dominiert vom harten Rot-Schwarz-Kontrast des Umhangs Jesu und der Rüstung des Soldaten; Pilatus, der mit seiner Rechten auf den Gefangenen zeigt und mit der linken Hand beschwörend nach oben weist, wirkt dagegen farblich an den Rand gedrängt. Sein mit Blau durchsetztes helles Gewand „trägt mit bei zur Charakterisierung seiner Schwäche, Ohnmacht und Farblosigkeit“ (Stückelberger 1996, S. 180). Pilatus und der Soldat werden von den Bildrändern links und rechts angeschnitten, wodurch „ein Gefühl der Enge, des In-die-Enge-Getrieben-seins“ entsteht (Stückelberger 1996, S. 180).

Die wuchtige dunkle Masse des Soldaten drängt Jesus regelrecht nach links. Diese Bewegung wird noch verstärkt durch die Schrittstellung des Soldaten sowie dadurch, dass er in die gleiche Richtung blickt. Zudem befinden sich die Köpfe der drei Figuren auf einer nach links abfallenden Linie. Dass Jesus abgedrängt wird, ist nicht zuletzt an der Rute in seiner Rechten ablesbar, die genau die Mittelachse des Bildes markiert. Der Körper Jesu befindet sich am unteren Bildrand präzis in der Mitte des Bildes, gegen oben verschiebt er sich jedoch mehr und mehr von der Achse weg nach links: „Die Auslieferung des Angeklagten an das Volk ist unabwendbar“ (Stückelberger 1996, S. 180).

Corinth präsentiert uns die drei Figuren in Untersicht und intensiviert diese Perspektive noch durch die vom Bildrand abgeschnittenen Füße. Leicht erhöht, gut sichtbar, wird Jesus dem Volk vorgeführt. „Daß Pilatus in eine andere Richtung blickt als Jesus und der Soldat, vermittelt dem Betrachter das Gefühl, nicht allein vor dem Bild zu stehen, sondern Teil der Volksmenge zu sein, die schreit: »Kreuziget ihn!« (Stückelberger 1996, S. 180).

Lovis Corinth: Aquarell-Skizze (1913); Zürich, Eidgenössische Technische Hochschule
Lovis Corinth: Ecce Homo (1925); Radierung

Corinth entwickelte sein Gemälde nach einer aquarellierten Skizze, die er zwölf Jahre zuvor angefertigt hatte und die der Komposition des Gemäldes sehr nahe kommt. 1925 wiederholte er das Motiv zudem in einer Kaltnadelradierung.

 

Literaturhinweise

Francini, Esther Tisa: Ein künstlerisches Vermächtnis. Verfemung und Rettung von Lovis Corinths »Ecce Homo«. In: Uwe Fleckner (Hrsg.), Das verfemte Meisterwerk. Schicksalswege moderner Kunst im »Dritten Reich«. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 197–224;

Brauner, Lothar: Ecce Homo, 1925. In: Klaus-Peter Schuster u.a. (Hrsg.): Lovis Corinth. Prestel-Verlag, München/New York 1996, S. 320;

Stückelberger, Johannes: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. Wilhelm Fink Verlag, München 1996, S. 179-180;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.