Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter (für die Großansicht einfach anklicken) |
Foto: © Aurelio Amendola |
Die aus einem einzigen Block geschaffene Skulptur erregte bei den Zeitgenossen höchste Bewunderung, weil sie in ihren Augen Schönheit und Frömmigkeit in einzigartiger Vollendung vereinte. Aber sie löste auch Befremden aus: Wie konnte der Bildhauer die Mutter Jesu, die den Leichnam ihres dreißigjährigen Sohnes in den Armen trägt, so jung darstellen? Sie wirkt kaum älter als Christus. Michelangelo hat, laut seinem ersten Biografen Ascanio Condivi, auf diese Frage geantwortet, die körperliche Frische der Gottesmutter demonstriere ihre Jungfräulichkeit und Reinheit. Maria war wohl eine sterbliche Frau, aber als Mutter des Gottessohns den Gesetzen der Fleischlichkeit und des Verfalls enthoben – so die theologische Aussage der Skulptur.
Vesperbild (14. Jahrhundert); Delbrück, St. Johannes Baptist |
Deutsches Vesperbild aus der Basilika San Domenico in Bologna |
Der beweinte Erlöser: eher tief schlafend als tot |
Der leichte Stoff von Marias Gewand wird von einem schräg über die Brust laufenden Band oder Gürtel gehalten; durch diesen Gürtel legt sich ihr Oberteil in zahllose unruhige Fältchen, die einen scharfen Kontrast zu Marias glatter Haut bilden und so den Blick ebenfalls auf Hals und Gesicht der jungen Frau lenken. Die gleiche Funktion erfüllt auch der gekräuselte Schleier, der ihr Antlitz rahmt. In die Stirn der Gottesmutter hat Michelangelo eine feine Linie in den Marmor geritzt, um den Anschein eines dünnen, transparenten Schleiers zu erwecken, ohne diesen tatsächlich auszugestalten. (Das wird er später dann bei seiner Brügger Madonna wiederholen; siehe meinen Post „In Stein gemeißelte Theologie“.)
Maria wirkt extrem gefasst |
Neben der Zartheit von Marias Antlitz erstaunt bei genauerem Hinsehen die wuchtige Masse und Größe ihres Körpers, denn wenn sie sich erheben könnte, würde Christus eher kindlich klein wirken. Der Leib Christi scheint darüber hinaus eher ein tief schlafender als ein toter Körper zu sein. Jesu Kopf ist erschlafft nach hinten gesunken, Hals und Adamsapfel treten deutlich hervor. Trotz aller erlittenen Qualen haben die wohlproportionierten Glieder des Gottessohns nichts von ihrer Schönheit eingebüßt; seine Wundmale sind nur sehr verhalten dargestellt, Spuren der Geißelung oder von der Dornenkrone fehlen völlig. Kerstin Schwedes hat in diesem Zusammenhang auf Sandro Botticellis Venus und Mars-Darstellung in der Londoner National Gallery hingewiesen: Gerade das Zusammenspiel von Kopf, Oberkörper und Armen erinnere an die Haltung von Botticellis schlafendem, eben nicht totem Kriegsgott.
Sandro Botticelli: Venus und Mars (1483); London, National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der Oberkörper Christ wird zwar sicher von Maria gehalten, doch scheint ihr der Leib ihres Sohnes allmählich zu entgleiten: Die Hüfte kippt bereits leicht dem Betrachter entgegen. „Die Staffelung der Beine unterstützt zusätzlich den Eindruck eines labilen Aufliegens des Körpers“ (Schwedes 2000b, S. 100). In diesem Entgleiten kündigt sich die bevorstehende Auferstehung Christi an.
Das sind nicht die Füße eines Toten |
Die Pietà in St. Peter ist das einzige signierte Werk Michelangelos |
FACIEBA(T)“. Es ist das einzige signierte Werk des Künstlers und spiegelt seinen Schöpfertolz angesichts der so vollendet ausgeführten Skulptur. Der Namenszug Michelangelos verweist gleichzeitig, so Irving Lavin, auf den Erzengel Michael: „The reference to God’s adjutant in the administration of Divine Justice and the weigher of souls at the Last Judgment is obviously appropriate for a sculpture in a funerary chapel“ (Lavin 2013, S. 281). John Sherman wiederum hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Gurt die Mutterschaft Mariens betont, weil italienische Mütter ihre Kinder oft oberhalb der Hüfte in Schultersäcken zu tragen pflegten.
Mit seiner Pietà profilierte sich Michelangelo in Rom als der Meister, der das große Ziel der Humanisten, die Antike zu übertreffen, nach einhelliger Meinung erreicht hatte. Der französische Kardinal, der die Statue in Auftrag gegeben hatte, starb am 6. August 1499, ohne das vollendete Werk gesehen zu haben. Doch die Skulptur rief so viel Aufsehen hervor, dass ein anderer Kardinal sogleich mit einem neuen Auftrag an Michelangelo herantrat. Anfang 1501 wandte sich Francesco Piccolomini, Neffe von Papst Pius II., an den Bildhauer, um ihm die Fertigstellung des einige Jahre zuvor begonnenen Piccolomini-Altars im Dom von Siena anzutragen – ein großer Auftrag, der fünfzehn ungefähr ein Meter große Statuen aus Carrara-Marmor umfasste.
Annibale Carracci: Pietà (1603/04); Nepael, Museo di Capodimonte (für die Großansicht einfach anklicken) |
Literaturhinweise
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