Caravaggio: David mit dem Haupt Goliaths (1609/10); Rom, Galleria Borghese (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der biblische Held steht als Dreiviertelfigur in leichter Schrägansicht vor einem vollständig dunklen Hintergrund. Oben links ist schemenhaft ein Vorhang angedeutet. David trägt eine ockerfarbene Hose und ein dünnes weißes Hemd, das den nackten Oberkörper nur zur Hälfte bedeckt. In der rechten Hand hält der Hirtenknabe das Schwert, mit dem er Goliath enthauptet hat – die Klinge blitzt hell im Licht auf. Die Waffe und der ausgestreckte linke Arm sind parallel ausgerichtet; Davids Körper scheint sich nach links zu bewegen, während sein Kopf in Gegenrichtung auf das abgetrennte Haupt herabblickt.
Das Gemälde entstand 1609 oder 1610 während des letzten Lebensjahres Caravaggios in Neapel. Die Faszination des Bildes rührt zu einem großen Teil aus der nachdrücklichen Präsenz des abgeschlagenen Hauptes. „Dem Betrachter entgegengestreckt, stellt diese makabre Kopftrophäe die Figur Davids geradezu in den Schatten“ (Lang 2001, S. 132). Der abgetrennte Kopf ist kein bloßes Attribut des jugendlichen Helden, sondern das ausdrucksstärkste Bildelement. Goliaths markantes Haupt nimmt die Protagonistenrolle vor David ein. Freilich ist der Kopf des Riesen Goliath größer als der seines Bezwingers. Doch nicht der Größenunterschied ist der Grund dafür, dass unsere Aufmerksamkeit vor allem dem Haupt des Philisters gilt. Die schockierende Präsenz des abgeschlagenen Kopfes rührt von den soeben brechenden, aber in diesem Moment noch lebenden Augen her, wobei das eine voll geöffnet, das andere halb geschlossen ist. Diese Asymmetrie gibt dem Gesicht einen entstellten Ausdruck. Die Stirnwunde dagegen ist ohne jeden Horroreffekt relativ zurückhaltend gestaltet. Zwar trieft das Blut in Strömen aus der dem Blick entzogenen Schnittfläche am Hals, aber über das Gesicht läuft es nicht. Die zusammengezogene Stirn und der schmerzlich geöffnete Mund sind Elemente, die auch an Caravaggios anderen abgeschlagenen Köpfen zu finden sind.
Caravaggio: David mit dem Haupt Goliaths (1605); Wien, Kunsthistorisches Museum |
Caravaggio: Salome erhält das Haupt des Täufers (1606/07), London, National Gallery |
Der Schrecken, den die Miene des enthaupteten
Goliaths einflößt, „beruht nicht zuletzt auf der Porträthaftigkeit des
prägnanten Gesichts“ (Lang 2001, S. 133). Schon im 17. Jahrhundert hat man in
diesem Kopf ein Selbstbildnis Caravaggios gesehen. Vergleiche mit Porträts und
anderen Selbstdarstellungen des Künstlers bestätigen diese Überlieferung.
Ottavio Leoni: Porträt Caravaggios (um 1621) |
Diese
Form der Selbstdarstellung kann sich auf ein großes Vorbild berufen:
Michelangelo hat in seinem Jüngsten
Gericht an der Stirnwand der Sixtinischen Kapelle die abgezogene Haut des
Märtyrers Bartholomäus mit seinem eigenen Gesicht versehen. Auch der Kopf des
Johannes auf Tizians Bild der Salome (ca. 1515) wurde als Selbstporträt des
Künstlers betrachtet. Sich in der Opferrolle selbst darzustellen scheint also
zur Zeit Caravaggios nicht mehr neu gewesen zu sein. Aber Tizians Kopf des Johannes
bietet keine aufdringliche Frontalansicht, und außerdem handelt es sich sowohl
bei Bartholomäus wie auch bei dem Täufer um religiöse Identifikationsfiguren.
Caravaggio dagegen verleiht seine Züge einem Feindbild. Andererseits vermutet man auch in dem abgeschlagenen Haupt des Holofernes an der Decke der Sixtina ein Kryptoporträt Michelangelos. David M. Stone geht davon aus, dass sich Caravaggio mit seinem Sixtina-Zitat vor allem als Michelangelo moderno inszenieren will: „What better way to construct his artistic identity, taunt critics who accused him of being a mere ape of nature, or intimidate rival artists than strike this arrogant pose as a new Michelangelo?“ (Stone 2006, S. 43).
Die abgezogene Haut des Märtyrers Bartholomäus trägt die Gesichtszüge Michelangelos |
Auch im abgeschlagenen Haupt des Holofernes in der Judith-Episode wird ein Kryptoporträt Michelangelos vermutet |
Tizian: Salome mit dem Haupt des Täufers (um 1515); Rom, Galleria Doria Pamphilij |
Guido Reni: David mit dem Haupt Goliaths (1605/06); Paris, Louvre |
Benvenuto Cellini: Perseus (1545-1554); Florenz; Piazza della Signoria |
Caravaggios römischer David erinnert darüber hinaus an eine der berühmtesten Renaissance-Statuen überhaupt: nämlich an Benevenuto Cellinis Perseus in Florenz (siehe meinen Post „Cellinis Medusentöter“). Mit einer ähnlichen Geste wie Caravaggios David präsentiert uns der bronzene Perseus den abgeschlagenen Kopf der Medusa.
Literaturhinweise
Cassani, Silvia/Sapio, Maria (Hrsg.): Caravaggio. The Final Years. Electa Napoli, Neapel 2005, S. 137-138; Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage);
Lang, Walther K.: Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei von Caravaggio bis Giordano. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001;
Pepper, D. Stephen: Guido Reni’s Davids: The Triumph of Illumination. In: artibus & historiae 25 (1992), S. 129-144;
Röttgen, Herwarth: Il Caravaggio. Ricerche e Interpretazioni. Rom 1974;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 283-284;
Stone, David M.: Self and Myth in Caravaggio’s David and Goliath. In: Genevieve Warwick (Hrsg.), Caravaggio. Realism, Rebellion, Reception. University of Delaware Press, Newark 2006, S. 36-46.
(zuletzt bearbeitet am 1. April 2020)
Cassani, Silvia/Sapio, Maria (Hrsg.): Caravaggio. The Final Years. Electa Napoli, Neapel 2005, S. 137-138; Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage);
Lang, Walther K.: Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei von Caravaggio bis Giordano. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001;
Pepper, D. Stephen: Guido Reni’s Davids: The Triumph of Illumination. In: artibus & historiae 25 (1992), S. 129-144;
Röttgen, Herwarth: Il Caravaggio. Ricerche e Interpretazioni. Rom 1974;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 283-284;
Stone, David M.: Self and Myth in Caravaggio’s David and Goliath. In: Genevieve Warwick (Hrsg.), Caravaggio. Realism, Rebellion, Reception. University of Delaware Press, Newark 2006, S. 36-46.
(zuletzt bearbeitet am 1. April 2020)
Ich bin per Zufall auf Ihren Blog gestoßen. Gerade als Kunstinteressierter (ohne Kunststudium) gibt es hier viel zu entdecken und viel zu lernen. Vielen Dank für Ihre Arbeit. Grüße aus Ulm
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