Donnerstag, 19. Dezember 2013

Ihnen gehört das Himmelreich – Emil Noldes „Christus und die Kinder“


Emil Nolde: Christus und die Kinder (1910); New York, The Museum of Modern Art
(für die Großansicht einfach anklicken)
Grimmige, kantige Fratzen, ungeschlachte, eckige Gestalten, Masken mit spitzen Bärten und Hakennasen in grellen Gelb- und glühenden Rottönen, drastisch charakterisierte Figuren und eine geradezu dramatische Farbwahl: Mit seiner kontrastreichen, leuchtenden Farbigkeit und einer „primitiv“ erscheinenden Formensprache erneuerte der Maler Emil Nolde (1867–1956) am Beginn des 20. Jahrhunderts die religiöse Malerei – und stieß dabei gerade in kirchlichen Kreisen auf erbitterte Ablehnung. Nolde zeigte nicht mehr den süßlich-glatten Jesus der Nazarener, idealschön und makellos, erhaben und edel, wie ihn etwa Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–1872) oder Johann Friedrich Overbeck (1789–1869) gestaltet hatten. In seinen grellbunten Bildern verzichtete er auf jedes historische Milieu, wie es im 19. Jahrhundert üblich war, ebenso auf dekorative Einzelheiten und realistische Details. Nolde ging es darum, Gefühle sichtbar zu machen – mittels der spannungsreich eingesetzten und intensiven Farbe bannt er Emotionen unmittelbar auf die Leinwand und lässt die Figuren auf diese Weise ihr Inneres preisgeben.
Johann Friedrich Overbeck: Der Ostermorgen (um 1818);
Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast
Emil Nolde wurde 1867 als Emil Hansen im deutsch-dänischen Grenzgebiet geboren. Später nannte er sich nach seinem gleichnamigen Geburtsort. Zu seiner glühend-expressionistischen Malweise kam er erst 1909, als über 40-Jähriger – mit drei biblischen Bildern, dem Abendmahl, der Verspottung Christi und dem Schlüsselwerk Pfingsten: Dicht um einen Tisch gedrängt, schließt die Gemeinschaft der Jünger einen Kreis. Ihre starren, teils ekstatisch-entrückt in die Ferne blickenden, teils in sich gekehrten Augen verweigern den Blickkontakt mit dem Betrachter. Ein inneres Erlebnis wird hier dargestellt, ohne jedes schmückende Beiwerk – das tiefe Ergriffensein vom Heiligen Geist.
Emil Nolde: Pfingsten (1909); Berlin, Nationalgalerie
Emil Nolde: Abendmahl (1909; Kopenhagen, Statens Museum for Kunst

Emil Nolde: Verspottung Christi (1909); Berlin, Brücke-Museum
In dem Gemälde Christus und die Kinder von 1910 verbildlicht Nolde eine Szene, die das Matthäus-Evangelium in Kapitel 19,13-15 schildert (LUT): „Da wurden Kinder zu ihm gebracht, damit er die Hände auf sie legte und betete. Die Jünger aber fuhren sie an. Aber Jesus sprach: Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich. Und er legte die Hände auf sie und zog von dort weiter.“
Christus steht, die ganze Bildhöhe einnehmend, als große Rückenfigur leicht links von der Mitte und blickt nach rechts. Da wir ein Bild gewöhnlich von links nach rechts lesen, scheint sich Jesus aktiv den Kindern zuzuwenden. Dieser Eindruck wird durch seinen gebeugten Rücken noch verstärkt. Christus neigt sich zu einem Kind herab und ist dabei, es auf seinen Arm zu nehmen. Die Kinderschar, ein buntes Durcheinander kleiner Wuschelköpfe, drängt von rechts an ihn heran. Die Kleinen schreien begeistert und fuchteln mit ihren Ärmchen. Jedes Kind möchte von ihm hochgehoben werden. „Die Bewegung und Energie, die in den Kindern steckt, kommt besonders in der Farbgebung zum Ausdruck, im schrillen nebeneinander der Orange- und Rottöne, die durch vereinzelte Grünakzente in ihrer strahlenden Wirkung noch intensiviert sind“ (Stückelberger 2002, S. 234).
Auf der anderen Seite sind die in kaltem Blau gemalten Jünger zu sehen, die missmutig und verständnislos das Geschehen beobachten. Die Farben entsprechen den Gefühlen der jeweiligen Figuren: Den abweisenden Jüngern stellt Nolde die jubelnde Freude der Kinder und das liebevolle Verhalten Jesu gegenüber. Noldes Bild lebt vom Kontrast zwischen der kühlen, eher statischen linken und der warmen, sehr bewegten rechten Seite. Christus ist sowohl kompositionell als auch farblich mehr der linken Seite zuzurechnen. Gleichzeitig übernimmt er jedoch eine Art Brückenfunktion, indem er sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit den Kindern zuwendet und sich mit Oberkörper und Kopf auf ihre Seite neigt. „Statt der Distanz, die die Jünger wahren, sucht er die Begegnung, statt der Polarisierung die Verbindung“ (Stückelberger 2002, S. 235). Dass Noldes Bild so auf uns wirkt, liegt maßgeblich am Gegensatz von dunkler linker und heller rechter Seite. Da helle Farben die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen, schweift unser Blick in diesem Gemälde automatisch nach rechts: Wir folgen mit unseren Augen der Bewegung Christi.
Johannes Stückelberger verweist darauf, dass die Gestalt Jesu in Noldes Bild derjenigen in Rembrandts Radierung Auferweckung des Lazarus (um 1632) sehr ähnlich sei. Rembrandt gehört zu den Größen unter den alten Meistern, mit denen sich Nolde identifizierte und deren Werke für ihn immer wieder zur Inspirationsquelle wurden. Wie bei Christus und die Kinder ist Jesus in Rembrandts Radierung von hinten zu sehen und dominiert die Szene. Der Betrachter befindet sich mit Christus in einem höhlenartigen Innenraum und blickt in Richtung Ausgang. Der Vordergrund und der Rücken Jesu liegen im Dunklen, die rechte Bildhälfte wird dagegen vom Licht erhellt.
Rembrandt van Rijn: Auferweckung des Lazarus (um 1632); Radierung
Es existiert eine von Nolde zusammengestellte Liste, die mit „Meine biblischen und Legendenbilder“ überschrieben ist und Gemälde aus den Jahren 1909 bis 1951 aufführt. Auf drei Seiten eines gefalteten Blattes hat der Künstler die Titel dieser Werke in chronologischer Reihenfolge vermerkt – es sind insgesamt 55. Diese Zahl wie auch das Verzeichnis selbst belegen das außergewöhnliche Interesse Noldes an diesem Themenbereich.
Es ist leicht, von Emil Noldes Bildern begeistert zu sein. Aber gesagt werden muss auch: Nolde war ein strammer Antisemit, der sich glühend zu seinem „Führer“ bekannte. Das zeigen neu aufgefundene Dokumente sehr deutlich (siehe DIE ZEIT vom 21.10.2013; http://www.zeit.de/2013/42/emil-nolde-nationalsozialismus).Was einmal mehr belegt: Ein großer Maler zu sein heißt nicht, auch ein großer Mensch zu sein.

Literaturhinweise
Hamburger Kunsthalle (Hrsg.): Emil Nolde. Legende, Vision, Ekstase. Die religiösen Bilder. DuMont Buchverlag, Köln 2000;
Jüngling, Kirsten: Emil Nolde. Die Farben sind meine Noten. Biographie. Propyläen, Berlin 2013;
Stückelberger, Johannes: „Rembrandt war es, den wir suchten“ – Nolde im Dialog mit den alten Meistern. In: Nolde im Dialog 1905-1913. Quellen und Beiträge. Hirmer Verlag, München 2002, S. 226-241;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 7. Mai 2020)

Montag, 2. Dezember 2013

Reiche deinen Finger her! – Verrocchios Christus-Thomas-Gruppe in Florenz


Andrea del Verrocchio: Der ungläubige Thomas (um 1470-79); Florenz, Orsanmichele
Der ungläubige Thomas gilt als das bedeutendste Werk Andrea del Verrocchios (1435–1488). Geschaffen hatte es der Renaissance-Künstler im Auftrag der Mercanzia, des Florentiner Handelsgerichts, für eines der Fassadentabernakel der Kirche Orsanmichele. Schutzpatron der Mercanzia war der Apostel Thomas; die Prüfung der Wundmale Christi durch dessen Hand galt als Sinnbild für die Wahrheitsliebe der Justiz und damit auch des Handelsgerichts. Der Auftrag für die Bronzegruppe erging 1466, aufgestellt wurde sie 1483. Die Nische war ursprünglich für eine Einzelfigur vorgesehen; dass Verrocchio hier nun den Zunftpatron zusammen mit Christus in einer szenischen Gruppierung darstellte, war ein Novum. Darüber hinaus zeigt er den Apostel Thomas nicht in repräsentativer Frontalität in der Mitte des Tabernakels, sondern mehr oder weniger als Nebenfigur, die sich überdies nur in der Seitenansicht präsentiert.
Hauptblickfang ist der auf einer Sockelplatte erhöht und in leichtem Kontrapost stehende Christus im Innern der Nische. Thomas tritt von links außen an ihn heran und dreht sich nach rechts um die eigene Körperachse in das Tabernakel hinein, mit Blick und Gebärde auf Christus gerichtet. Es ist vor allem der plastische Faltenwurf des Obergewandes, der das Volumen eines nach innen sich drehenden Körpers fingiert; der Umhang scheint zu einer dichten, sich bauschenden Stoffmasse um den Unterleib gerafft, in deren Furchen die Finger der linken Hand greifen. Der Oberkörper schließlich ist ganz ins Profil gedreht, der Kopf gar ins Innere der Nische hin zu Christus, der sein Haupt dem Apostel zuneigt.
Thomas steht „in überdehntem Kontrapost“ (Wolf 2002, S. 285) noch weitgehend außerhalb der Nische; die Zehenspitzen des rechten Fußes ragen sichtbar über den vorderen Rand des Nischenbodens hinaus, der linke Fuß dagegen ist parallel zu ihm gestellt. Wir haben es hier mit einer „Verschleifung der Grenze zwischen Bildraum und Betrachterraum“ (Wundram 1996, S. 76) zu tun, wie sie sich im 16. Jahrhundert vielfach bei Malern und Bildhauern beobachten lässt: Thomas gehört dem Bereich des vor der Nische stehenden Betrachters an; Christus dagegen ist in den von der Architektur gebildeten Raum eingebunden. Thomas wendet sich Christus zu, überschreitet den Nischenrahmen „und zieht dabei, durch seine starke Körperdrehung und das betonte Nachziehen des rechten Fußes, den Betrachter ausdrücklich an das Geschehen heran“ (Poeschke 1990, S. 188). Damit sehen wir uns nicht zwei Statuen gegenüber, es entsteht vielmehr der Eindruck einer sich spontan vollziehenden Handlung.
Nanni di Banco: Quattro Coronati (um 1413-16); Florenz, Orsanmichele
(für die Großansicht einfach anklicken)
Wie ungewöhnlich diese Lösung ist, zeigt der Vergleich mit der einzigen anderen Nische an Orsanmichele, die mehrere Figuren umschließt: die Quattro Coronati, die vier Schutzheiligen der Steinmetzzunft, die Nanni di Banco vermutlich um 1413-16 geschaffen hatte. Er ordnete die Statuen in einem Halbkreis an, ohne die Grenzen des von der Architektur vorgegebenen Rahmens zu überschreiten. Durch Kopfwendungen und zurückhaltende Gesten miteinander verbunden, stehen die Figuren ruhig beisammen.
Die überaus reiche Faltenführung bei beiden Skulpturen ist ein echter Hingucker
Der Bewegtheit der Figuren bei Verrocchio korrespondiert mit ihrem äußeren Erscheinungsbild: Christus und Thomas sind in stoffreiche Gewänder gehüllt, die sich durch sorgsam ausgeführte Faltenarrangements auszeichnen. Den vielfachen Richtungswechseln in der Faltenführung „entspricht der Kontrast von Faltenstegen und Einmuldungen, der ein lebhaftes Spiel von Licht und Schatten bewirkt“ (Wundram 1996, S. 76). Der Mantel Christi, unter dem er ein hemdartiges Untergewand trägt, ist großflächiger modelliert; bei Thomas dagegen bleibt die Faltenbildung kleinteiliger, die Fülle des raschen Richtungswechsels wird dadurch gesteigert. Der dicke Stoff seines Gewandes „schmiegt sich enger an die Glieder und betont deren Bewegung: Besonders herausgearbeitet ist die runde Form der Schulter, die Zeigerichtung des Arms wird in den Schlaufen der um den Körper gezogenen Manteldraperie aufgenommen, die alle unter diesem Arm zusammenlaufen, und das zurückgestellte Bein und seine Gelenkstellen zeichnen sich deutlich durch den Stoff hindurch ab“ (Windt 2003, S. 119).
Verrocchio nutzt die Umhänge der beiden Figuren und die Faltenbildung auch dazu, um die Statuen harmonisch zusammenzubinden, wie Paul Butterfield betont: „The line formed by fall of the bottom of Thomas’s mantle extends up the right silhouette of the figure. This line is repeated in the line of drapery that runs from Christs right foot to his left shoulder. The forms of the two major folds in the robe across Thomass waist und thigh are mirrored in the corresponding areas of Christs mantle. The large piece of drapery that hangs along the small of Thomass back, and the fold of cloth that breaks below his right knee are also repeated in the fall of Christs mantle as it descends from his left arm and across his left knee“ (Butterfield 1997, S. 73).
Die Haartracht Christi scheitelt sich in der Mitte des Kopfes zu flachen, dünnen Strähnen, die die Stirn in ganzer Breite freigeben. Ungefähr in Höhe der Augen beginnen sie sich einzurollen, um sich in üppiger Lockenpracht über seine Schultern zu ergießen; Haare und zierlich ondulierter Bart geben dem Haupt Christi ein idealschönes, „geradezu nazarenisches Gepräge“ (Poeschke 1990, S. 188).
Nicht vollrund, sondern im Hochrelief geschaffen
Verrocchios Statuen sind nicht vollrund, sondern im Hochrelief geschaffen, d. h., ihnen fehlt die Rückseite. Die so eingesparte Bronze bedeutete eine erhebliche Kostenersparnis. Die beiden Figuren wurden im Wachsausschmelzverfahren hergestellt, einer Technik, die schon von Lorenzo Ghiberti (1378–1455) und Donatello (1386–1466) nach antiken Vorbildern wiederbelebt und modernisiert worden war. Christus, dessen Haupt bis in die Gebälkzone ragt, ist 30 cm höher als der Apostel und entspricht mit 230 cm anderen, zuvor an Orsanmichele aufgestellten Skulpturen, etwa dem Markus Donatellos oder dem Stephanus von Lorenzo Ghiberti. Die Figur breitet sich vorrangig in der Fläche aus und nimmt etwa die Breite von zwei der drei die Nischenrundung bildenden Marmorfeldern ein, während der heraustretende Thomas nur einem dieser Felder zugeordnet ist. Die Konturen beider Figuren bleiben weitgehend unüberschnitten, sodass zu dem Eindruck des Hintereinander der eines Nebeneinander tritt.
Trotz ihrer Bewegtheit ist die Gruppe dennoch von Harmonie und Ausgewogenheit bestimmt. Verrocchio nutzt dazu vor allem die Nischenarchitektur: Von der Basis des linken Pilasters verläuft über den rechten Fuß von Thomas und dessen rechtes Bein eine Diagonale zum Kapitell des rechten Pilasters; im Schnittpunkt dieser und der entgegengesetzten Diagonalen und zudem in der Mittelachse hat Verrocchio die Seitenwunde Christi positioniert, der sich Thomas behutsam und doch zielgerichtet nähert. Sie bildet das Zentrum der Nische und der Komposition insgesamt: Even the ribs in the conch shell above direct the eye of the viewer down to the figures and their point of concentration and contact, Christs wound“ (Butterfield 1997, S. 73). 
Donatello: Markus (um 1411-16); Florenz, Orsanmichele
Lorenzo Ghiberti: Stephanus (um 1419-22); Florenz, Orsanmichele
Auf den reich verzierten Mantelsäumen der beiden Skulpturen sind in vergoldeten Lettern Bibelworte aus dem Johannes-Evangelium eingraviert; bei Christus „Quia vidisti me Thoma credidisti beati qui non viderunt et crederunt“ (Johannes 20,29), bei Thomas „Dominus meus et Deus meus“ (Johannes 20,28) sowie das unbiblische „Et Salvator gentium“. Dieser Zusatz, der sich im zeitgenössischen Verständnis von gentes sowohl auf Heiden wie auf Völker beziehen kann, mag auf den Missionsauftrag verweisen, da Thomas als der Apostel Indiens galt. 
Bemerkenswert ist, dass – im Gegensatz zu früheren Darstellungen des Themas – Thomas seine Finger nicht in die klaffende Seitenwunde Christi mit ihrer „veristischen Fleischlichkeit“ (Zöllner 1996, S. 138) legt: Es bleibt offen, ob er sie bereits berührt hat oder noch berühren wird. Es ist allerdings auch dem biblischen Text nicht eindeutig zu entnehmen, ob die von Thomas erbetene und von Christus ausdrücklich zugelassene Berührung tatsächlich stattgefunden hat. Mit einer kraftvollen Geste hat Christus einen Schlitz in seinem Gewand mandelförmig geöffnet, um Thomas die unter der rechten Brust liegende Seitenwunde darzubieten. Sie wird durch diese Mandorla „nicht nur gerahmt, sondern auch vergrößert zitiert“ (Schreier 1988, S. 138). Hier konvergieren, so Gerhard Wolf, die erotische und die heilsgeschichtliche Dimension der Begegnung in Verrocchios Werk“ (Wolf 2002, S. 286). Den rechten Arm hat Christus erhoben; seine Hand hält wie in einem Segensgestus über dem Haupt von Thomas inne – und lenkt damit die Aufmerksamkeit des Betrachters wieder zurück auf den Schutzpatron der Mercanzia, dem die Nische gewidmet ist.
Veristische Fleischlichkeit und haptische Zurückhaltung
Dafür, dass Verrocchios Thomas die Seitenwunde nicht anfasst, spricht seine Körperhaltung, „in der letztlich das Zaudern überwiegt“ (Zöllner 1996, S. 136). Er möchte seinen Herrn zwar berühren, doch die linke Schulter setze diesem Verlangen eine deutliche Grenze, so Frank Zöllner, „und auch der hieraus folgende Bogen des kräftig ummantelten linken Armes wirkt wie eine vertikale Barriere gegenüber Christus“ (Zöllner 1996, S. 136). Die linke Hand schließlich fasst das Gewand, sodass sich ein Kreisbogensegment ergibt, über das die zu Christus strebende Rechte kaum hinausgelangt. Diese gestische Zurückhaltung wird vor allem dann sichtbar, wenn der Betrachter nicht genau vor Christus steht, sondern einen Platz rechts von der Szene einnimmt.
Donatello: Verkündigung (um 1435); Florenz, Santa Croce
Als wichtige Anregung für Verrcocchios Zweiergruppe gilt Donatellos Verkündigung aus der Cavalcanti-Kapelle in der Florentiner Kirche Santa Croce, die um 1435 entstanden sein dürfte: Maria und der Engel sind ebenfalls beinahe lebensgroß in einer Nische platziert und als Hochreliefs gestaltet. Laurie Taylor-Mitchell hat darüber hinaus auf eine mögliche Quelle für die Figur des Thomas hingewiesen: einen marmornen Verkündigungsengel aus dem späten Tre- oder dem frühen Quattrocento, der sich heute im Museo dellOpera del Duomo in Florenz befindet und inzwischen Giovanni dAmbrogio zugeschrieben wird. Die Pose der beiden Statuen sowie einige Teile ihrer Gewänder ähnlich sich tatsächlich verbüffend: „In both figures, the weight is clearly shifted to the left of the body, with the right leg and hip turned strongly outward and away from the torso (...) Moreover, the drapery is pulled taut over the right knee and thigh to emphasize the line of the leg moving away from the upper part of the figure. The graceful motion of the leg and hip to the left is set against the turn of the upper torso to the right“ (Taylor-Mitchell 1994, S. 604).
Giovanni dAmbrogio: Verkündigungsengel (um 1400)
Florenz, Museo dellOpera del Duomo
Andrea del Verrocchio war einer der einflussreichsten italienischen Bildhauer zwischen Donatello und Michelangelo. Er gehörte zu den bevorzugten Künstlern der Medici-Familie, in deren Auftrag er fast ausschließlich arbeitete. Nicht zu unterschätzen ist auch Verrocchios Einfluss als Lehrer so berühmter Renaissance-Maler wie Leonardo da Vinci, Sandro Botticelli, Domenico Ghirlandaio und Pietro Perugino. Zu seinen wichtigsten Arbeiten gehört neben der Christus-Thomas-Gruppe sein Bronze-David (siehe meinen Post „Stolz und spöttisch“) und das Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni in Venedig.

Literaturhinweise
Butterfield, Andrew: Verrocchios Christ and St. Thomas: chronology, iconography and political context. In: The Burlington Magazine 134 (1992), S. 225-233;
Butterfield, Andrew: The Sculptures of Andrea del Verrocchio. Yale University Press, New Haven/London 1997, S. 57-80;
Passavant, Günter: Verrocchio. Skulpturen – Gemälde – Zeichnungen. Phaidon Press, London 1969, S. 21-24;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 1: Donatello und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1990;
Schreier, Christoph: J.L. Epiphanie als Plastik. Die Thomasgruppe des Andrea del Verrocchio. In: Daniel Hees/Gundolf Winter (Hrsg.), Kreativität und Werkerfahrung. Festschrift für Ilse Krahl zum 65. Geburtstag. Gilles & Francke Verlag, Duisburg 1988, S. 129-143;
Taylor-Mitchell, Laurie: A Florentine Source for Verrocchios Figure of St. Thomas at Orsanmichele. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994), S. 600-609;
Windt, Franziska: Andrea del Verrocchio und Leonardo da Vinci. Zusammenarbeit in Skulptur und Malerei. Rhema-Verlag, Münster 2003, S. 114-126;
Wolf, Gerhard: Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance. Wilhelm Fink Verlag, Göttingen 2002, S. 279-304;
Wundram, Manfred: Die Christus-Thomas-Gruppe. Stil und Komposition. In: Herbert Beck u.a. (Hrsg.), Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio. Henrich Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 75-80;
Zöllner, Frank: Andrea del Verrcocchios „Christus und Thomas“ und das Dekorum des Körper. Zur Angemessenheit in der bildenden Kunst des Quattrocento. In: Herbert Beck u.a. (Hrsg.), Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio. Henrich Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 129-141.

(zuletzt bearbeitet am 28. Juli 2023)

Dienstag, 29. Oktober 2013

Trauer und Erhebung – Sandro Botticellis „Beweinung Christi“ (Mailand)


Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1495/96); Mailand, Museum
Poldi Pezzoli (für die Großansicht einfach anklicken)
Wie von den seitlichen Bildrändern zusammengeschoben, bilden in dieser Beweinung Christi von Sandro Botticelli (1445–1510) insgesamt sieben Personen eine regelrechte Trauerpyramide. Die Beweinung des Leichnams Christi wird in den Evangelien des Neuen Testaments nicht erwähnt. Sie ereignet sich zwischen Kreuzabnahme und Grablegung: Die Passion Jesu hat mit seinem Tod ihr Ende gefunden; der Gedanke an die Auferstehung ist für die Trauernden noch undenkbar fern.
Beweisstücke der Passion: Dornenkrone und Nägel
Eine zu beiden Seiten ausschwingende Wellenlinie durchzieht die Figurenkomposition vom tiefsten bis zum höchsten Punkt, ausgehend vom Zipfel des Leichentuches links unten über den Rücken der Maria Magdalena. Die junge Frau wiederholt, schmerzvoll versunken in die Vergangenheit, die Beweinung der Füße Jesu bei ihrer ersten Begegnung mit ihm (Lukas 7,36-50). Die Kurve setzt sich fort über Oberschenkel, Rumpf und Kopf des toten Christus, biegt hier um und führt über das Profil einer sein Haupt von hinten umfassenden Frau. Es handelt sich wahrscheinlich um Maria Kleophas; die das Johannes-Evangelium als eine der Frauen am Kreuz erwähnt (Johannes 19,25). Das en face wiedergegebene Gesicht der in Ohnmacht erbleichenden Mutter Jesu nimmt die Linie auf und ändert ein letztes Mal ihre Richtung: Sie beschreibt eine weitere S-Kurve, gipfelnd in der Dornenkrone, die ein gelbgewandeter Mann mit seiner rechten Hand emporhält; aus seiner Linken ragen die Nägel des Kreuzes hervor, auch sie nach oben gerichtet. „Als führte sie auf einen Berggipfel, verjüngt sich die über die Figurenwand gleitende Serpentine mit zunehmender Höhe und gewinnt an Vertikalität“ (Dombrowski 2010, S. 351).
Ohnmächtig erbleicht, gestützt von Johannes: die Mutter Jesu
Mit seinem langem Arm versucht der Jünger Johannes, ebenfalls Zeuge der Kreuzigung Jesu (Johannes 19,26-27), den kraftlos herabhängenden Arm der ihm anvertrauten Maria von der Berührung ihres Sohnes zu lösen. In den spitz zulaufenden Ärmelenden ihrer Gewänder klingt die Verbundenheit beider im Schmerz an. Die Vertikale der beiden Arme zieht die Komposition nach unten und steuert so dem Aufwärtsschwung der Serpentine entgegen.
Links neben Johannes verhüllt eine gramgebeugte Frau mit ihrem Gewand das Angesicht – wahrscheinlich ist Maria Salome gemeint; auch sie stand nach dem Markus-Evangelium unter dem Kreuz (Markus 15,40). Das Motiv des verhüllten Gesichts ist aus der antiken Literatur und dem Malereitraktat des Kunsttheoretikers Leon Battista Alberti („De pictura“, 1435) als ultimatives Mittel zur Darstellung untröstlicher Trauer bekannt: Wenn alle Möglichkeiten der Affektdarstellung erschöpft sind, bleibe als letzte Option, das Haupt des Trauernden zu verhüllen, sodass sich der Betrachter dessen unsagbaren Schmerz selber ausmalen müsse.
Hinter Maria Salome und Maria Kleophas erheben sich die beiden Türpfosten bzw. Seitenwände des Felsengrabes; hinter der Scheitelfigur ist die Profilleiste des Sarkophags sichtbar, in dem Jesus bestattet werden soll. „Die abschüssige Vertikale aus den Armen Johannes’ und Mariens, die beide über das anatomisch zulässige Maß hinaus verlängert wurden, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen, und die sanft ondulierende Horizontale aus Rücken und Hinterkopf der Maria Salome, dem Haupt der Jungfrau und dem Rückenkontur der Maria Kleophas teilen die Bildfläche senkrecht und waagerecht nach den Proportionen des Goldenen Schnitts“ (Dombrowski 2010, S. 352).
Der Leib Christi ist jünglingshaft und fast makellos dargestellt, von der Folter und dem Todeskampf am Kreuz sind keine Spuren zu sehen, einzig die Seitenwunde und die durchbohrte linke Hand wurden durch vergleichsweise winzige rote Striche markiert. Kein geschundener, sondern ein jugendlich schöner Körper, der mehr schlafend als tot wirkt, wird dem Betrachter präsentiert. Allgemein wird bei Botticellis Beweinung Christi von einer Entstehungszeit um oder nach 1495 ausgegangen – nur wenige Jahre trennen sein Bild also von Michelangelos römischer Pietà in St. Peter von 1499 (siehe meinen Post „Tief schlafend oder tot?“), die von der durchlittenen Marter Jesu ebenfalls nichts erkennen lässt.
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter
Die zentrale Pietà auf Botticellis Mailänder Beweinung Christi wird von vier Figuren umstellt, die sich allesamt nach vorne beugen und „den Eindruck des Schwerlastenden vermitteln“ (Dombrowski 2010, S. 352). Der Ausrichtung dieser Gruppe ist die Haltung des sich darüber erhebenden Mannes entgegengesetzt, der sich mit dem Oberkörper zurücklehnt, den Kopf in den Nacken lehnt und die Augen zum Himmel hebt, während die Figuren unter ihm die Lider gesenkt haben. Seine Identität ist nicht sicher zu entscheiden. Dass er Dornenkrone und Kreuznägel vorzeigt, könnte ihn eher als Nikodemus ausweisen, der zum traditionellen Personal der Kreuzabnahme gehört. Die Andeutung eines Turbans und seine Position vor dem offenen Grab deuten dagegen auf Joseph von Arimathäa hin: Ihm gehörte das Grab, in das Jesus gelegt wurde, und er war wie Nikodemus ebenfalls an der Grablegung beteiligt. Mit Damian Dombrowski halte ich es für wahrscheinlicher, dass es sich um Joseph von Arimathäa handelt. In Haltung und Kolorit abgesetzt von dem abwärts gerichteten Figurenschirm unter ihm, ragt seine aufblickende Halbfigur in ihrem sonnengelben Gewand einsam vor dem schwarzen Fond der Grabkammer auf.
Joseph von Arimathiäa ist frontal wiedergegeben und hat die Hände fast symmetrisch erhoben. Die beiden Passionswerkzeuge (arma christi), die er emporhält, sollen durch transparente Tücher vor direkter Berührung geschützt werden. „Doch hebt Joseph Krone und Nägel nicht nur in die Höhe wie der Priester die eucharistischen Gaben oder heilige Reliquien, sondern präsentiert sie wie Beweisstücke oder tropaia, ohne daß er sein eigenes Tun vollständig verstünde“ (Dombrowski 2010, S. 353). Sein forschender Gesichtsausdruck hat die Trauer hinter sich gelassen; „es ist, als habe er mit den Passionswerkzeugen gerade noch den Himmel anklagen wolllen, als sich ein Hoffnungsschimmer über den Ausdruck des Nichtverstehens breitet“ (Dombrowksi 2010, S. 354). Das Schlaglicht, das auf die Türlaibung rechts von ihm fällt, deutet dieses „Erleuchtetwerden“ an.
Joseph von Arimathäa war Mitglied des Hohen Rates von Jerusalem und ein geheimer Anhänger Jesu, „der auch auf das Reich Gottes wartete“ (Markus 15,43). Sein Ausschauhalten wird daher zum zentralen Motov des Bildes: Joseph erahnt das weltumspannende Heil, das mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu verknüpft ist. In der Gestalt Josephs wendet sich das Gefangensein im Schmerz über das Verlorene zur Offenheit für das Kommende. Joseph von Arimathäa ist Zielpunkt der aufsteigenden Kompositionslinien und die Schlüsselfigur des ganzen Bildes; „ohne daß Johannes und die trauenden Frauen schon um den Sinn dieses Todes wüßten, wird aus dem Bild des Jammers durch Joseph ein Bild der Erhebung“ (Dombrowski 2010, S. 354).
Tilman Riemenschneider: Beweinung Christi (1525); Maidbronn bei Würzburg, St. Afra
Der Ablauf der Passionsgeschichte scheint in Botticellis Gemälde für diesen Augenblick angehalten worden zu sein; standbildartig sind die Bewegungen der einzelnen Figuren nach Art eines tableau vivant festgehalten und zu Posen geronnen. Damit nähert sich das Bild den plastischen Beweinungsgruppen des Nordens, wie z. B. denen des fast zeitgleich tätigen Tilman Riemenschneider (1460–1531). Die Überschneidung der Figuren durch die Rahmenränder, der dicht mit nah gesehenen Personen angefüllte Bildraum und deren geringe räumliche Schichtung bewirken eine Dramatisierung der Kompostion, wie sie auch in Passionsdarstellungen der nordischen Malerei des 15. Jahrhunderts zu finden ist.
Ungewöhnlich erscheint Ulrich Rehm, wie Maria Kleophas mit beiden Händen den Kopf Christi stützt: Ihn erinnert dieses Motiv an das klassische Urbild literarischer Trauer, nämlich an die Beweinung Hektors am Ende der Ilias (XXIV, 719-724). Dort ist es die Gattin Andromache, die das Haupt des toten Helden in den Händen hält. Dann stimmen die Mutter Hekabe und schließlich Helena in die Trauerklage ein, bis König Priamos zur Vorbereitung der Verbrennungszeremonie aufruft.
Bestellt hatte die Beweinung Christi der Buchilluminator Donato di Antonio Cioni, und zwar für einen Altar an einem der Pfeiler von Santa Maria Maggiore in Florenz. Wie bei seiner Sebastian-Tafel aus den 1470er Jahren musste Botticelli die Maße seines Bildes an den Pfeilern der Kirche ausrichten – deshalb das für eine Beweinung ungewöhnliche Hochformat.
Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1494/95); München, Alte Pinakothek
Kurz zuvor, um 1494/95, hatte Botticelli für die Florentiner Kirche S. Paolina eine kompositionell und in der Farbwahl sehr ähnliche Beweinung Christi geschaffen – allerdings im Querformat. Sie befindet sich heute in der Alten Pinakothek in München und ist in einem 2017 erschienenen, ebenso umfangreichen wie empfehlenswerten wissenschaftlichen Band zur Florentiner Malerei des 14. bis 16. Jahrhunderts eingehend untersucht worden.

Literaturhinweise
Dombrowski, Damian: Die religiösen Gemälde Sandro Botticellis. Malerei als pia philosophia. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2010;
Rehm, Ulrich: Botticelli. Der Maler und die Medici. Eine Biographie. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 241-243;
Schumacher, Andreas (Hrsg.): Florentiner Malerei – Alte Pinakothek. Die Gemälde des 14 bis 16. Jahrhunderts. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2017, S. 418-433;
Zöllner, Frank: Sandro Botticelli. Prestel Verlag, München 2009, S. 172 und 255.

(zuletzt bearbeitet am 21. Januar 2022)

Sonntag, 29. September 2013

Eine Inkunabel der Emanzipation – Paula Modersohn-Beckers „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“


Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag (1906); Bremen,
Kunstsammlungen Böttcherstraße (für die Großansicht einfach anklicken)
Paula Modersohn-Becker (1876–1907) hat mit dem Pinselstiel oder einem Bleistift in die feuchte Farbe gekratzt, wann dieses Selbstporträt von ihr fertiggestellt wurde: „Dies malte ich mit 30 Jahren an meinem 6. Hochzeitstage P.B.“. Es ist somit auf den 15. Mai 1906 zu datieren. Als Paula Modersohn-Becker dieses Bild malte, lebte sie in Paris und glaubte, ihren Ehemann Otto Modersohn endgültig verlassen zu haben, um sich nun ganz der Kunst zu widmen. Ihre Initialen stehen daher – wie einst – für ihren Mädchennamen.
Am Montparnasse hatte sich sie bei ihrem vierten Parisaufenthalt ein Atelier gemietet. Sie wollte, so ihr fester Vorsatz, bis zu ihrem „dreißigsten Jahr“ eine „gute Malerin“ werden, und dafür war sie bereit, die Brücken der Konvention und der materiellen Sicherheit hinter sich abzubrechen.
1876 in Dresden geboren und aufgewachsen in der norddeutschen Hansestadt Bremen, begann Paula Becker dort auf Wunsch des Vaters 1893 eine zweijährige Lehrerinnenausbildung, um gegebenenfalls auf eigenen Füßen stehen zu können. Parallel dazu erhielt sie Zeichen- und Malunterricht. Zu Hause saßen ihr Familienmitglieder oder Besucher Modell; am geduldigsten harrte jedoch ihr eigenes Spiegelbild aus: Ihr erstes überliefertes Selbstbildnis stammt aus dem Frühjahr 1893. Mit dem Realismus der frühen Zeichnungen beeindruckte die Siebzehnjährige ihre Eltern, die die Ernsthaftigkeit von Paulas Bemühungen erkannten. Nachdem die junge Frau 1895 in einer Ausstellung der Kunsthalle Bremen erstmals Werke aus der Worpsweder Künstlerkolonie gesehen hatte, reifte ihr Entschluss, Malerin zu werden. Ab 1896 besuchte sie deswegen die Zeichen- und Malschule des „Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“: Es handelte sich um eine der wenigen professionellen Ausbildungsstätten für Künstlerinnen in Deutschland. Denn zu jener Zeit wurde Frauen der Zutritt zu den Kunstakademien noch verwehrt, da ihnen das Aktzeichnen untersagt war.
In Berlin lebte Paula Becker auf, arbeitete wie besessen, besuchte Museen und die Ausstellungen der aufstrebenden Galerien. In Berlin hatte sie auch Gelegenheit, Werke der französischen Impressionisten zu sehen. Ein Familienausflug brachte sie im Sommer 1897 erstmals in das nahe Bremen gelegene Worpswede. Spontan beschloss sie, hier ihre Ferien zu verbringen. Die Begegnung mit den Malern der Künstlerkolonie – Fritz Mackensen, Hans am Ende, Otto Modersohn, Fritz Overbeck und Heinrich Vogeler – weckte bei ihr Begeisterung für die flirrenden Farben der Freilichtmalerei.
Nach ihrer zweijährigen Ausbildung in Berlin und der anschließenden Zeit in Worpswede reiste Paula Modersohn-Becker in der Neujahrsnacht 1900 zum ersten Mal zu einem längeren Aufenthalt nach Paris. Für Künstler aus ganz Europa war die französische Hauptstadt seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Nabel der Welt geworden. „Hatte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch eine Reise in die Länder des klassischen Altertums, Italien oder Griechenland, zu den Höhepunkten eines Künstlerlebens gezählt, so waren Arkadien und das Land der Griechen seit den Tagen des Impressionismus von Montmartre und Montparnasse abgelöst worden“ (Stamm 2010, S. 11). Für Künstlerinnen galt dies umso mehr, als sich in ganz Europa herumgesprochen hatte, dass die privaten Kunstakademien hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten boten, von denen in Deutschland noch lange nicht die Rede sein konnte.
Drei Jahre später, im Februar 1903, kurz nach ihrem 27. Geburtstag, traf Paula Modersohn-Becker ein zweites Mal in Paris ein, nun als gereifte Malerin und Ehefrau: 1901 hatte sie den bereits erfolgreichen und elf Jahre älteren Worpsweder Maler Otto Modersohn geheiratet.
Mumienporträts aus Fayum
Wieder besichtigte sie fast täglich den Louvre. In jenen Tagen muss sie dort auf die Mumienporträts aus der römischen Zeit Ägyptens gestoßen sein, die sie sehr beeindruckten und künstlerisch nachhaltig beeinflussten. Es handelt sich dabei um Porträts von Ägypterinnen und Ägyptern aus dem 1. bis 4. Jahrhundert nach Christus, die im Wesentlichen auf das Gesicht begrenzt sind. Diese Porträts von Lebenden wurden für deren Bestattung angefertigt: Man wickelte die Holztafeln in der Regel in die Mumienumhüllung ein, manchmal wurden die Bildnisse auch direkt auf die Umhüllung gemalt.
Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis mit Kette (1903); Bremen,
Kunsthalle
Zu Paula Modersohn-Beckers frühesten von dieser Begegnung mit antiken Mumienporträts inspirierten Gemälden gehört das Selbstbildnis mit Kette. Bildausschnitt und Format sind wie bei den Mumienbildnissen auf das frontal gezeigte Gesicht der Künstlerin beschränkt, das von einem Sockel aus Hals, Kragen der weißen Bluse und schmalem Ausschnitt des Brust- und Schulteransatzes getragen wird. Der Blick ist ins Unbestimmte gerichtet, der Hintergrund bleibt ohne Tiefendimension.
1905 reiste Paula Modersohn-Becker ein drittes Mal nach Paris, erneut mit dem Einverständnis ihres Mannes. „Für Paula Modersohn-Becker waren Paris und die hier mögliche Auseinandersetzung mit den künstlerischen Avantgarden zu einem integralen Bestandteil ihrer künstlerischen Entwicklung geworden, auf den sie nicht mehr verzichten wollte“ (Stamm 2010, S. 19). Folgerichtig brach sie daher am 23. Februar 1906 abermals von Wopswede nach Paris auf. Hatte sie die erste Reise nach Paris im Jahr 1900 noch als junge Studierende angetreten und für die Aufenthalte der Jahre 1903 und 1905 als verheiratete Frau die Unterstützung ihres Mannes gefunden, so stand diese Reise unter gänzlich anderen Vorzeichen: Enttäuscht und desillusioniert von der Kinderlosigkeit ihrer Ehe und gelangweilt von der eintönigen Beschaulichkeit der dörflichen Künstlerkolonie, entschloss sie sich im Februar 1906, ihren Mann und Worpswede für immer zu verlassen. In Paris wollte sie sich nun allein niederlassen, um sich ganz ihrer Kunst zu widmen.
In diesem Frühjahr entstand ein revolutionäres Bild – das eingangs erwähnte lebensgroße Selbstporträt. Es handelt sich um ein „Kniestück“ (die dargestellte Person wird bis zu den Knien gezeigt); Paula Modersohn-Becker steht in leichter Rechtsdrehung vor uns, während sie forsch und doch fragend den Blick auf den Betrachter richtet. Körpersprache und Farbauftrag erinnern noch an die jüngste Worpsweder Vergangenheit, allerdings werden dunkel leuchtende Töne jetzt durch helle, der impressionistischen Palette angenäherte Farben ersetzt; „sie nehmen, wenn man von den geröteten Händen absieht, etwas von jener ländlichen Schwere, die ihre Aktdarstellungen sonst bestimmte“ (Berger 2015, S. 137).  
Unter dem gewölbten Bauch hat Paula Modersohn-Becker ein weißes Tuch um die Hüften geschlungen. Der Oberkörper ist nackt, um den Hals trägt sie eine Bernsteinkette. Der Hintergrund des Bildes zeigt keinen Raum, sondern strahlt in einer zitronigen Farbigkeit, die von grünen Tupfen aufgelockert wird. Die Hände umrahmen den Unterbauch. Oft ist diese Haltung als Verweis auf Paula Modersohn-Beckers persönliche Verwundung gedeutet worden: Frau und, selbst am sechsten Hochzeitstag, noch immer nicht Mutter zu sein. Doch „eher verweisen die Hände metaphorisch auf die doppelte, elementare Schaffenskraft von Frau und Künstlerin“ (Stamm 2006): Sie allein ist imstande, zu gebären und im künstlerischen Sinne schöpferisch zu sein.
Albrecht Dürer: Selbstporträt als Kranker (um 1512/13); Bremen, Kunsthalle
Die kunsthistorische Besonderheit dieses Porträts besteht darin, dass es sich hier wohl um den ersten Selbstakt einer Frau handeln dürfte. Albrecht Dürer hatte sich in einem Selbstbildnis um 1512/13 als Kranken gezeichnet, der mit dem Finger auf die schmerzende Stelle an der linken Seite zeigt. Dieses Blatt, das sich bis 1943 in der Bremer Kunsthalle befand, hat Paula Modersohn-Becker sicherlich gekannt.
Victor Emil Janssen: Selbstbildnis vor der Staffelei (1829); Hamburg, Kunsthalle
Auch der Hamburger Maler Victor Emil Janssen porträtierte sich selbst um 1829 als Halbakt. Auf seinem Selbstbildnis vor der Staffelei, vor blaßgrün leuchtendem Hintergrund, fixiert er wie später Paula Modersohn-Becker den Betrachter; wie sie hat er den Oberkörper entkleidet, als Tuch hängt ihm das Hemd locker von den Hüften. Paula Modersohn-Becker konnte das Bild 1906 auf der „Ausstellung Deutscher Kunst aus der Zeit von 1775-1875“ in Berlin sehen.
Dass sich jedoch eine Frau lebensgroß selbst als Akt präsentiert, war bis 1906 undenkbar. Die nackte Frau war bis dahin Modell, ein Studienobjekt männlicher Maler, oft genug als erotische Augenweide für die ebenfalls männlichen Betrachter gedacht. Paula Modersohn-Becker hat diese Regel durchbrochen. In einer Situation am Scheideweg zwischen Kunst und Familie, Paris und Worpswede, an der Zeitenwende zwischen dem 19. Jahrhundert und den Avantgarden der Moderne malt sie sich selbstbewusst als neue Frau: als Künstlerin.
Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis als Halbakt mit Bernsteinkette II (1906); Basel,
Kunstmuseum
Paula Modersohn-Becker hat im Sommer 1906 in Paris noch weitere Selbstakte geschaffen. Zu den bekanntesten Varianten gehört der Halbakt mit Bernsteinkette II im Kunstmuseum Basel. Wahrscheinlich hat zu Lebzeiten der Malerin kein anderer als sie selbst ihre Selbstbildnisse gesehen. Die Rezeption dieser Gemälde setzte erst nach dem Tod Paula Modersohn-Beckers am 20. November 1907 ein, als ihr Nachlass gesichtet wurde. Die Künstlerin hat ein beeindruckendes Werk hinterlassen: Ab 1893 entstanden in gerade einmal 15 Jahren rund 750 Gemälde, dazu Hunderte von Zeichnungen, bevor sie mit 31 Jahren starb, wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter, ihres ersten und einzigen Kindes.

Literaturhinweise
Berger, Renate: Ins Zentrum der Moderne. Paula Modersohn-Beckers und die Rezeption von Künstlerinnen. In: Kristin Marek/Martin Schulz (Hrsg.), Kanon Kunstgeschichte III. Einführung in Werke, Methoden und Epochen. Moderne. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015, S. 134-151; 
Bergmann, Verena/Laukötter, Frank (Hrsg.): Sie. Selbst. Nackt. Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt. Verlag Hatje Cantz, Ostfidlern 2013, S. 36-39;
Hansmann, Doris: Akt und nackt: Der ästhetische Aufbruch um 1900 mit Blick auf die Selbstakte von Paula Modersohn-Becker. VDG, Weimar 2000;
Poeschel, Sabine: Starke Männer – schöne Frauen. Die Geschichte des Aktes. WBG, Darmstadt 2014, S. 145-147;
Stamm, Rainer: Nahmst dich heraus aus deinen Kleidern. In: F.A.Z. vom 12. Mai 2006;
Stamm, Rainer: Paula Modersohn-Becker. Leben und Werk im Spiegel ihrer Selbstporträts. In: Rainer Stamm/Hans-Peter Wipplinger (Hrsg.), Paula Modersohn-Becker. Pionierin der Moderne. Hirmer Verlag, München 2010, S. 9-24.

(zuletzt bearbeitet am 19. Oktober 2023)