Dienstag, 22. August 2023

Die Porträtkunst des Hans Memling


Hans Memling: Bildnis eines Mannes (um 1475/80); Venedig, Galleria dellAccademia
Im Jahr 1465 ließ sich Hans Memling (um 1435–1494) in Brügge nieder und begann dort, wie andere zugewanderte Maler, allen voran Jan van Eyck und Petrus Christus, eine erfolgreiche Laufbahn als selbstständiger Künstler. Die Entscheidung für Brügge, ein herausragendes internationales Handelszentrum, war sicherlich beeinflusst durch die Aussicht auf vielfältige Aufträge seitens der zahlreichen ausländischen Kaufleute, die in der Stadt ansässig waren oder sich vorübergehend dort aufhielten.
Unter den von Memling für ausländische Kunden geschaffenen Werken erfreuten sich Porträts der größten Beliebtheit, und zwar insbesondere bei den Italienern. Kleinformatig, tragbar und persönlich, besaß ein Bildnis doppelte Attraktivität: Es hielt nicht nur die äußere Erscheinung seines Besitzers fest, sondern diente auch als Erinnerung an dessen Aufenthalt in Brügge. Einige der Auftraggeber Memlings entschieden sich dafür, ihre Bildnisse in halbfigurige Andachtstriptychen oder -diptychen einfügen zu lassen. Die Mehrheit seines Klientels bevorzugte jedoch die einfachere – und preisgünstigere – Alternative des autonomen Porträts. Mehr als ein Drittel vom Memlings erhaltenem Œuvre  besteht aus Bildnissen – wir kennen 36, die Porträtfiguren auf Altarbildern nicht mitgerechnet. Da alle Bildnisköpfe in Dreiviertelansicht wiedergegeben werden, nimmt das Gesicht in der kleinen Bildfläche breiten Raum ein. Memling verleiht seinen Porträtfiguren eine erstaunliche Plastizität, sodass sie auch mit dem florentinischen Büstenporträt in Marmor verglichen wurden.
Hans Memling: Bildnis eines betenden jungen Mannes (um 1485); Madrid,
Museo Thysssen-Bornemisza (für die Großansicht einfach anklicken)
Mino da Fiesole: Porträtbüste des Piero de’ Medici (um 1453); Florenz, Bargello
Memlings wichtigster Beitrag zur Porträtmalerei bestand – neben seiner erstaunlichen Fähigkeit, das Äußere festzuhalten und Ähnlichkeit zu erzielen – im Einsatz des Landschaftshintergrunds. Er tut sich manchmal jenseits eines Fensters auf, wie etwa im Porträt aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza; häufiger jedoch erstreckt er sich hinter dem Porträtierten, und zwar entweder vor offenem Himmel oder durch den Bogen einer Loggia. Die Hände ruhen meist auf einer Brüstung oder auf dem Rand eines Bilderrahmens, die Schultern sind oft an den Seiten beschnitten, was den Eindruck des „Heranzoomens“ mittels eines Kameraobjektivs vermittelt, „so als ob der Portraitierte in einem vom Bilderrahmen selbst gebildeten Fenster erscheinen würde“ (Nuttall 2005, S. 75).
Nahsicht auf Büste und Angesicht der Person und Fernsicht auf die Landschaft werden von Memling perfekt kombiniert. „Bildausschnitt, landschaftliche Erweiterung und skulpturaler Realismus sind die drei Komponenten von Memlings originellem Schaffen in einem Genre, das sich nach ihm zu einer der wichtigsten Kunstformen der abendländischen Malerei entwickeln sollte“ (De Vos 1994, S. 366).
Hans Memling: Bildnis eines Mannes (um 1470/75); New York, The Frick Collection
(für die Großansicht einfach anklicken)
Rogier van der Weyden: Braque-Triptychon, rechter Flügel
mit Maria Magdalena (um 1452/53); Paris, Louvre
Die Inspiration für Memlings Porträts mit Landschaftsausblick dürfte in der  religiösen Malerei zu suchen sein: Als Vorbild könnte Rogier van der Weydens Braque-Triptychon (um 1452/53) mit seinen Halbfiguren vor einer offenen Landschaft gedient haben (siehe meinen Post
Garanten der Erlösung). Sehr wahrscheinlich ist, dass Memling in Brügge mit van der Weyden zusammengearbeitet hat. Dessen weibliche Porträts dürften auch die Prototypen gewesen sein für Memlings weibliche Bildnisse in Brügge oder Paris. Die Inschriften in Trompe-l’œil-Manier auf einigen erhaltenen Rahmen sind wiederum von Jan van Eyck (um 1390–1441) angeregt, so etwa die metallisch und aufgelegt wirkenden Buchstaben und Ziffern auf dem Bildnis einer jungen Frau in Brügge.
Rogier van der Weyden: Porträt einer Dame (um 1460),
Washington, National Gallery of Art
Hans Memling: Bildnis einer alten Frau (1470/72); Paris, Louvre
Hans Memling: Bildnis einer jungen Frau (1480); Brügge, Musea Brugge
Jan van Eyck: Margareta van Eyck (1433); Brügge, Groeningemuseum
Im späten 15. Jahrhundert müssen Memlings Zeitgenossen den kombinierten visuellen Effekt von gefälligen Landschaftsdetails und verblüffend präzise wiedergegebener Haut, Haar und Kleidung in dessen Bildnissen als Inbegriff von Perfektion empfunden haben.
Piero della Francesca: Federigo da Montefeltro und seine Frau Battista Sforza (1472/73);
Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
In Italien pflegten die Porträtmaler immer noch die strenge Profilansicht, die nördlich der Alpen längst überholt war. Im Norden hatten die Künstler seit etwa 1430 die Dreiviertelansicht entwickelt. Sie nahmen die Hände des Dargestellten mit ins Bild auf und führten neue Elemente wie etwa Brüstungen ein, mit deren Hilfe sich die Illusion schaffen ließ, die Figur befände sich in der Verlängerung des Raumes, in dem sich auch der Betrachter befindet. Den Realismus der Maler jenseits der Alpen bewunderten die italienischen Kunstkenner schon seit Mitte des 15. Jahrhunderts, doch erst in den 1470er Jahren, als niederländische Vorlagen immer größere Verbreitung fanden, begann die Dreiviertelansicht das herkömmliche Profilbildnis in Italien zu verdrängen.
Sandro Botticelli: Bildnis eines jungen Mannes mit einer Medaille des Cosimo
de’ Medici (1474); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Dieser Prozess fand verblüffend schnell statt. Einige Künstler, allen voran Antonello da Messina und die Venezianer, bevorzugten den tief dunklen Hintergrund aus den Porträts Jan van Eycks und anderer früherer Maler. Doch weit häufiger wurde auf Hans Memling zurückgegriffen. Eines seiner bevorzugten Gestaltungsmittel – die Platzierung des Porträtierten in einem Innenraum mit Fenster, hinter dem sich eine Landschaft öffnet scheint in Florenz besonders beliebt gewesen zu sein, wo die Künstler zahlreiche Versionen dieses „inneren Außenraums“ (Nuttall 2005, S. 80) in ihre Bildnisse integrierten. Es war aber der Memling eigene Porträttypus mit reinem Landschaftshintergrund, der den größten Anklang fand. Tatsächlich gibt es im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in Italien kaum einen Porträtmaler, der diesem Vorbild nicht gefolgt wäre – so z. B. Sandro Botticelli in seinem Bildnis eines jungen Mannes mit einer Medaille des Cosimo de’ Medici. (siehe meinen Post Das italienische Porträt der Frührenaissance). Außer allgemeinen Anklängen an Memling – wie dem Kopf mit dem gelockten Haar vor dem Hintergrund des Himmels und der lichten Landschaft in der Ferne – weist Botticellis Bildnis, in dem der Porträtierte eine Porträtmedaille präsentiert, eine verblüffende Parallele zu Memlings Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser Neros auf.
Hans Memling: Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser Neros
(1473/74); Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten
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Zu Memlings treuesten Anhängern zählte Pietro Perugino (um 1450–1523). Das
Porträt des florentinischen Kaufmanns Francesco delle Opere von 1494 belegt eindrucksvoll, wie weitreichend der italienische Künstler Memlings Bildideen verarbeitet hat. 
Pietro Perugino: Bildnis des Francesco delle Opere (1494); Florenz, Uffizien
Vermutlich ermutigt durch seinen Meister Perugino, widmete sich auch Raffael eingehend dem Studium Memlings. Seine Virtuosität in der Nachahmung von dessen Stil, der um 1500 in Italien immer noch das Maß aller Dinge bildete, „stellt unzweifelhaft das Ergebnis einer unmittelbaren Beschäftigung mit Memlings Werk dar“ (Nuttall 2005, S. 86). Als Beispiel sei hier die Junge Frau mit dem Einhorn aus der Galleria Borghese genannt.
Raffael: Junge Frau mit dem Einhorn (um 1506), Rom, Galleria Borghese
(für die Großansicht einfach anklicken)
Zum Schluss soll noch ein Memling-Porträts etwas genauer in den Blick genommen werden, und zwar das Bildnis eines Mannes mit Brief. Vor einer weiten Hügellandschaft, die links durch einen Weg erschlossen wird, während rechts ein See und in der Ferne ein Schloss zu sehen sind, zeigt der Künstler das Brustbild eines schwarz gewandeten Mannes mit ebenfalls schwarzer Kappe. Statt der traditionellen Dreiviertelansicht wählt Memling für das Antlitz des Unbekannten die stärker frontal orientierte Siebenachtelansicht. Zusammen mit dem Antwerpener Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser Neros ist diese Tafel das einzige erhaltene Porträt Memlings, auf dem der Blick des Dargestellten unmittelbar aus dem Bild gerichtet wird. Beide Tafeln gelten deswegen als autonome Bildnisse. Sie verbindet auch die ähnliche, kalligraphische Wolkenbildung. 
Hans Memling: Bildnis eines Mannes mit Brief (um 1475);
Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Das Porträt aus Florenz ist allerdings durch einen schmalen Brüstungsstreifen vom Betrachter geschieden, der vermutlich ursprünglich direkt in den – verlorenen – Originalrahmen überging. Die linke Hand des Mannes ruht auf diesem Brüstungsstreifen, Daumen und Zeigefinger halten ein gefaltetes Schriftstück, vermutlich einen Brief. Das Porträt ist wahrscheinlich um 1475 nach Italien gelangt – deswegen ist es überaus plausibel, dass Memling das Bildnis im Auftrag eines in Brügge residierenden Geschäftsmanns aus Italien geschaffen hat.


Literaturhinweis
De Vos, Dirk: Memling als Porträtmaler. In: Dirk De Vos, Hans Memling. Das Gesamtwerk. Belser Verlag, Stuttgart/Zürich 1994 S. 365-370;
Nuttall, Paula: Memling und das europäische Portrait der Renaissance. In: Till Holger-Borchert (Hrsg.), Hans Memling. Portraits. Belser Verlag, Stuttgart 2005, S. 68-91;
Richter, Kerstin: Unverwechselbar. Zur Porträt-Tradition bis 1500 in Deutschland und den Niederlanden. In: Messling, Guido/Richter, Kerstin (Hrsg.), Cranach. Die Anfänge in Wien. Hirmer Verlag. München 2022, S. 35-43.

(zuletzt bearbeitet am 23. August 2023)

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