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Der obere Teil von Michelangelos Jüngstem Gericht (für die Großansicht einfach anklicken) |
„Mir tut es weh, so konservativ bin ich, wenn
die Kunst vergewaltigt wird, nur weil die Kirche Geld braucht und fünf
Millionen Besucher im Jahr. Im Gedränge, Mief und Stimmengewirr ist keine
Kontemplation möglich, nicht einmal das Erfassen einfachster Details. Man müsste
in Ruhe den ganzen Gegensatz erklären, der in den Reiseführern verschwiegen
wird: Michelangelo bezeugt hier seine kirchenkritische Haltung, statt braver
Apostel mit Heiligenschein, die man von ihm erwartete, malte er Propheten und
mythische Figuren. Schauen Sie bitte auf Maria, müsste ich flüstern oder
schreien, die sich von den hilfesuchenden Menschen abwendet und fast ängstlich
auf Christus verweist. Und Petrus bietet ihm die Schlüssel an, der
Stellvertreter ist nicht mehr nötig, jedenfalls am Jüngsten Tag. Bitte, meine
Damen und Herren, müsste ich rufen, sehen Sie sich die Hölle an, diese Hölle
dient nicht der üblichen Angstpropaganda, erstens ist sie relativ klein,
zweitens dürfen viele der Höllenkandidaten noch ringen und auf Rettung hoffen,
nichts da von augustinischer Erbsündenverdammung, nichts da von Höllenzukunft für
die, die den Päpsten nicht gehorchen. So hat mir das einst ein ranghoher
Katholik erklärt, Michelangelo als Anhänger früher reformatorischer Ideen, der
auf der berühmten Altarwand seine Kritik der Kirche ausmalt, das Ende des
Papsttums, des Marienkults und der Sündendrohung. Der Künstler, meine Damen und
Herren, hat es nie verschmerzt, das sein beste Freundin, die Gräfin und
Dichterin Vittoria Colonna, wegen, vereinfacht gesagt, reformatorischer,
vorprotestantischer Ansichten aus Rom verbannt und als Ketzerin bezeichnet
wurde, beide inspiriert von später verbotenen sogenannten ketzerischen
Schriften. Michelangelo konnte man nicht verbannen. Schauen Sie in San Pietro
in Vincoli den Moses einmal richtig an, wie trotzig der den Kopf vom
Aberglauben der Petersketten wegdreht. So triumphiert die Kunst über die
Dogmen, das ist auch eine frohe Botschaft, meine Damen und Herren. Die Ironie
des Weltgerichts, der größte und schönste der römischen Widersprüche: ein
beinahe Ketzer schenkt dem Papsttum eine seit fünfhundert Jahren
funktionierende Goldgrube! und ein perfektes Logo als Zugabe, die Kuppel des
Petersdoms.“
Aus:
„Die linke Hand des Papstes“ von Friedrich Christian Delius, S. 68/69 (Berlin
Verlag, Berlin 2013)
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